Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 40

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Der blaue Diamant

Andi schlingt sei­nen Ein­topf hastig hin­ein. An der Itz­brücke hat er etwas ent­deckt, für ihn eine Kost­bar­keit. Schon ein­mal hat­te er ein klei­nes Hei­lig­tum beses­sen. Sei­ne win­zi­ge, kobalt­blaue, innen ver­gol­de­te Moc­ca­tas­se. In Wat­te hat­te er sie gebettet,in einem Zigar­ren­kist­chen auf die Flucht mit­ge­nom­men und nach einem Phos­phor­bom­ben­an­griff nur noch als zusam­men­ge­schmol­ze­nes Por­zel­lan­plätt­chen wie­der gefun­den. Danach hat­te er immer Ersatz­stücke für sei­ne ver­nich­te­te Schön­heit gesucht.

Mar­mo­rier­te Fluss­kie­sel, eine Kalk­plat­te mit farn­ar­ti­gen Ein­schlüs­sen, edel gema­ser­te Holz­stück­chen, schwarz­blau gestreif­te Flü­gel­fe­dern des Eichel­hä­hers, das kunst­voll geästel­te Geweih vom Hirsch­kä­fer waren in sei­nem gehü­te­ten Holz­käst­chen in klei­nen Fächern geborgen.

Aber die­ses Klein­od am Fluss – er wür­de es nie besit­zen, nicht ein­mal in der Hand hal­ten kön­nen. Erst, nach­dem er her­aus­be­kom­men hat­te, was das eigent­lich ist, nimmt er Jakob mit.

Die Brü­der ste­hen auf der stäh­ler­nen Bahn­hofs­brücke, war­ten auf den blau­en Diamanten.

Ein kur­zes, durch­drin­gen­des Sri.

Mit schwir­rem Flü­gel­schlag und pfeil­schnel­lem Flug schießt dicht über dem Was­ser ein strah­lend tür­kis­blau­er Vogel auf sie zu und ver­schwin­det unter der Brücke. Wie auf ein Kom­man­do lau­fen sie zum ande­ren Gelän­der. Andi legt den Fin­ger auf die Lip­pen, deu­tet auf den Ast einer über­hän­gen­den Erle. Da sitzt der blaue Dia­mant, zeigt ihnen das erdi­ge Oran­ge sei­nes Brustgefieders.

Von innen her­aus scheint es zu leuch­ten. Eis­vo­gel flü­stert er dem klei­ne­ren Bru­der zu. Sie lau­ern bewe­gungs­los, wün­schen sich die­ses Wun­der an Schön­heit für immer an ihren Fluss. Der blaue Dia­mant schwebt zur Fluss­mit­te, schwirrt dann, einem Koli­bri gleich über der Strö­mung, schießt ohne Sprit­zer unter das Was­ser, taucht mit einem fin­ger­kur­zen Fisch im Schna­bel wie­der auf, macht kehrt und fliegt den flussabwärts.

Heu­te haben die Brü­der kei­nen Blick für die Bron­ze­fi­gur der nack­ten Dia­na mit dem Bogen. An erschreck­ten Spa­zier­gän­gern hasten sie vor­bei in Rich­tung der näch­sten Brücke, las­sen die Kie­sel des Weg­be­lags unter ihren Soh­len weg­plat­zen. Älte­re Leu­te auf Park­bän­ken längs des Ufers. Kopf­schüt­teln über die bei­den Läu­fer mit den ver­bis­se­nen Gesich­tern. Woher soll­ten sie auch wis­sen, dass die zwei Jun­gen vom blau­en Dia­man­ten­fie­ber gepackt wor­den sind.

Auf dem Stein­ge­län­der der Moh­ren­brücke las­sen sie Herz­schlag und Atem wie­der lang­sam wer­den, mustern dabei scharf und gründ­lich bei­de Uferstreifen.

Jakob fährt mit sei­nem Blick über die gro­ße Ufer­ka­sta­nie. Andi schüt­telt den Kopf, deu­tet auf den über­hän­gen­den, abge­bro­che­nen Ufer­rand mit dem kaum erkenn­ba­ren Loch im Lehm. Auf einer dün­nen, frei gewa­sche­nen Baum­wur­zel sitzt er wie­der, ihr blau­er Diamant.

Der Vater kommt aus sei­ner Arbeit vom Schal­ter der Sparkasse.

Sie zei­gen ihm ihren Edel­stein, das Oran­ge der Brust und das unbe­schreib­li­che Tür­kis­blau im Abflug. Er sagt hm hm. Sie müs­sen mit­ge­hen. Müs­sen ihm Tasche und Netz abneh­men. Er hat es im Kreuz. Andi erzählt ihm, dass der Eis­vo­gel ein unter­ir­di­sches Nest hat. Der Vater nickt, sagt inter­es­sant und dass ihm einer heu­te wie­der den Rücken ein­rei­ben muss.

Am Tag dar­auf suchen sie ihn ver­ge­bens. Der blaue Dia­mant will sie nicht sehen, hat es nicht ger­ne, wenn man ihm am Ufer ent­lang nach­läuft, mit dem Fin­ger auf ihn deu­tet, sein gehei­mes Nest an Erwach­se­ne ver­rät. Noch ein­mal gehen sie den Fluss bei der Berufs­schu­le ab, tei­len ihren Augen­paa­ren lin­kes und rech­tes Ufer zu, ärgern sich über jede Grup­pe, die ihnen laut lachend ent­ge­gen kommt. Die schril­le, sogar bis zur Brücke hör­ba­re Außen­glocke auf dem Pau­sen­hof der Berufs­schu­le wird ihn ver­trie­ben haben.

Jakob hört auf zu atmen. Weni­ge Meter unter ihm sitzt der blaue Dia­mant auf einem dür­ren Zweig, wen­det ihnen die unbe­schreib­li­che Pracht sei­nes Rücken­ge­fie­ders zu. Jakob hat nicht die gelas­se­ne Beob­ach­tungs­ga­be und tie­fe Begei­ste­rung des älte­ren Bru­ders. Er ist ober­fläch­lich ver­liebt in den Anblick der aus­ge­brei­te­ten Flü­gel, in den Pfeil­flug mit dem grel­len Sri. Sie haben ihn gefun­den. Ab jetzt wird er hier bei ihnen an ihrem Fluss blei­ben müs­sen. Ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen, wann immer sie es wol­len. Jakob geht vor­sich­tig in die Knie.

Das Bruch­stück eines Dach­zie­gels unter dem Busch wird er neben dem Dia­man­ten in den Fluss plat­schen las­sen. Der wird ein paar Sprit­zer abbe­kom­men, sich erschrecken und sei­ne Schön­heit im Flug sehen lassen.

Er wirft die Zie­gel­plat­te locker aus dem Hand­ge­lenk. Sie rotiert zum Fluss hin­ab, reißt den Edel­stein von sei­nem Zweig in den strö­mungs­lo­sen Fluss­rand. Der blaue Dia­mant brei­tet halb betäubt die Flü­gel auf dem Was­ser aus. Zitt­ri­ge Bewe­gun­gen mit Kräu­sel­wel­len, kann sich nicht mehr in die Luft erhe­ben. Jakob fühlt, dass er zum Täter gewor­den ist. Er springt die Böschung zum Ufer hin­ab, steigt in den gluck­si­gen Gasblasenmorast.

Wenn die Strö­mung das Tier erfasst, ist es ver­lo­ren. Er bekommt es zu fas­sen, fal­tet die Zit­ter­flü­gel in sei­ne Doppelfaust.

Der Vogel­kopf legt sich nicht schlaff zur Sei­te. Er folgt jeder Dreh­be­we­gung der Hän­de. Die began­ge­ne Schän­dung und sei­ne Scham haben ihn blind gemacht für die Schön­heit in sei­ner Hand.

Da ver­sucht der lan­ge Schna­bel, sei­ne Hand zu zwicken. Der blaue Dia­mant lebt.

Vom ande­ren Ufer dröhnt eine star­ke Män­ner­stim­me herüber.

Poli­zei, anzei­gen, Tierquälerei.

Jakob öff­net sei­ne Hän­de, wirft den Vogel etwas hoch. Der schwirrt in Rich­tung der Juden­brücke davon.

Sie ver­zie­hen sich hastig, dre­hen sich dabei immer wie­der um.

End­lich, ihre Rast­stra­ße. Kein Ster­bens­wort, machen brav Haus­auf­ga­ben, tra­gen Voka­beln ein, fra­gen sich gegen­sei­tig ab.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839