Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 3

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Der Kakao und der Löffler

Die­se Rück­ert­schu­le ist ihm ein dro­hen­der Koloss. Die unzäh­li­gen Fen­ster, die vie­len Stock­wer­ke, selbst die Schön­heit des Gebäu­des mit den vie­len Türm­chen schüch­tern ihn ein.

Die wer­den ihn aus­la­chen. Weil er aus einer Schu­le kommt, die nur zwei Klas­sen­zim­mer hat.

Was wird die Leh­re­rin zu dem Riss sagen, der quer durch sei­ne Schie­fer­ta­fel geht? Er kann ihr doch nicht erzäh­len, dass die Tafel auf der Flucht aus der Rus­sen­zo­ne zu Bruch gegan­gen ist.

Viel­leicht wer­den die West­kin­der ihm schon am Gesicht able­sen kön­nen, dass er kein West­jun­ge ist. Bestimmt haben die West­kin­der schon mehr gelernt als er. Und über­haupt hat­te das neue Schul­jahr schon längst ange­fan­gen. Froh ist er, dass nie­mand von außen sehen kann, wie leer und leicht sein Schul­ran­zen ist.

Nur der höl­zer­ne Grif­fel­ka­sten mit dem Schie­fer­grif­fel schlägt im Gehen manch­mal gegen die Tafel. Tafel­lap­pen und Schwamm bau­meln ihm an der Sei­te aus der Schul­ta­sche. Sein älte­rer Bru­der Andi soll schon in die fünf­te Klas­se kommen.

Dem hat die Mut­ter einen Fül­ler, Blei­stift, Radier­gum­mi und sogar einen Spit­zer gekauft. Auch zwei Hef­te hat der schon. Liniert und kariert. Außer­dem ein rotes Feder­mäpp­chen, in des­sen Gum­mi­schlau­fen die­se gan­zen Kost­bar­kei­ten stecken.

***

Der Rek­tor Stu­ben­rauch ist ein ganz beson­de­rer Mann, denn er trägt statt einer Kra­wat­te eine Schlei­fe aus glän­zen­dem, dun­kel­ro­ten Stoff. Er führt das Brü­der­paar nach der Anmel­dung durch einen lan­gen, fin­ste­ren Gang, schiebt den Älte­ren an den Schul­tern in eine Tür und betritt das Zim­mer hin­ter ihm. Jakob war­tet drau­ßen, ver­sucht irgend­wel­che Wort­fet­zen zu fan­gen. Das Volks­lied aus der gegen­über lie­gen­den Tür ver­wischt alles. Der Rek­tor Stu­ben­rauch kommt ohne den Bru­der wie­der her­aus, dreht am Licht­schal­ter. Ohne anzu­klop­fen drückt er die Klin­ke einer vier­ten Klas­se, zieht ihn in den Raum. Die vie­len kurz gescho­re­nen und bezopf­ten Köp­fe dre­hen sich um. Noch nie gese­he­ne Gesich­ter. Am Pult ein gro­ßer Mann, behaucht sei­ne Horn­bril­le, putzt sie mit einem gro­ßen Taschen­tuch, das wie eine Fah­ne her­ab­hängt. Ein Jun­ge aus der vor­der­sten Rei­he holt ihm sei­nen Krück­stock vom Fen­ster­brett. Der Geruch nach Fuß­bo­den­öl lässt Jakob etwas ruhi­ger wer­den. Er ist ihm von der win­zi­gen Dorf­schu­le aus der Rus­sen­zo­ne ver­traut. Der Leh­rer erhebt sich müh­sam aus sei­nem Stuhl am Pult, kommt dem Rek­tor ent­ge­gen. Klackend rastet bei jedem Schritt das Knie­ge­lenk des Holz­beins ein. Bei­de Män­ner dre­hen sich von den Kin­dern weg, beflü­stern noch etwas. Als der Schul­lei­ter das Zim­mer wie­der ver­lässt, bleibt Jakobs Blick an sei­ner Kra­gen­schlei­fe hängen.

Der Leh­rer fragt nach dem Namen, sagt, dass er sel­ber Krup­pa heißt und weist ihm einen Sitz­platz zu. Er sol­le jetzt ein­mal zei­gen, was er in sei­ner letz­ten Schu­le gelernt habe. Noch im Ste­hen drückt er ihm das Lese­buch eines ande­ren Jun­gen in die Hand. Sagt nur die Sei­ten­zahl und Feu­er frei! Jakob schlägt auf, liest laut und klar. Eine Geschich­te von den Schild­bür­gern, die ihre Glocke ver­senk­ten. Kein Tuscheln. Kein Knacken der Bän­ke. Herr Krup­pa spart nicht mit Lob. Ein Bei­spiel sol­le sich die gan­ze Klas­se an dem Neu­en neh­men. Er weiß, dass sei­ne Ohren jetzt rot sind. Als die Pau­sen­glocke schrillt, fällt ihm auf, dass nie­mand Tafel, Lap­pen und Schwamm hat. Die Kin­der stel­len sich in lan­ger War­te­schlan­ge an. Koch­ge­schir­re und ande­re Blech­ge­fä­ße schep­pern. Er hat nichts dabei. Schämt sich. Auf dem Pau­sen­hof kaut er sein Mar­ga­ri­ne­brot, beob­ach­tet dabei, wie sei­ne Mit­schü­ler damp­fen­de Sup­pe mit Hörn­chen­nu­deln löf­feln und in dicke Wurst­stücke beißen.

Am näch­sten Tag bau­melt ein Koch­ge­schirr der Wehr­macht an dem klei­nen Haken sei­nes Ran­zens. Die Tafel hat er zu Hau­se las­sen kön­nen. Die hier in Coburg schrei­ben schon auf Papier.

Das ist halt der Westen, denkt er. Der Haus­mei­ster rührt den brau­nen Kakao­satz vom Boden des Kes­sels hoch, schenkt ihm zwei vol­le Kel­len ein, gibt ihm noch eine Dop­pel­sem­mel in die Hand. Im Pau­sen­hof lehnt er sich an einen Zaun, tankt sich den brau­nen Trank in gro­ßen Schlucken hin­ein, beißt in die kni­stern­de Sem­mel, klaubt sich die gro­ßen Brö­sel vom Pull­over und isst sie auf. Die klei­nen tupft er mit spucken­as­sem Zei­ge­fin­ger von der Wol­le und leckt sie ab.

Jetzt braucht er noch die Bücher. Erst dann wird er so sein, wie die Ande­ren. Nach der Pau­se liegt auf sei­nem Platz ein Lesebuch.

Er schlägt es auf. Es riecht neu. Erst jetzt, wo er sein eige­nes Buch hat, sieht er, wie schön es eigent­lich ist. Die ande­ren Schü­ler haben ihre Bücher schon mit brau­nem Pack­pa­pier eingebunden.

Sei­nes strahlt in son­ni­gem Gelb. Eine klei­ne Stadt mit Stadt­tor, alten Häu­sern. Der Markt­platz mit bun­ten Schir­men und einem Plätscherbrunnen.

In der zwei­ten Pau­se heißt es, es sei noch Kakao übrig. Der Haus­mei­ster füllt ihm noch ein­mal ein hal­bes Koch­ge­schirr. Es soll eine Über­ra­schung für die Mama wer­den. Er hängt es an den Taschen­ha­ken sei­ner Bank. In der Hei­mat­kun­de erzählt der Herr Krup­pa ihnen, dass der Cobur­ger Fluss im Thü­rin­ger Wald ent­springt und bei Bam­berg in den Main mün­det. Der Bein­stumpf knarrt in den Rie­men sei­nes Holz­beins, wenn er dazu mit Farb­krei­de eine Tafelskiz­ze zeich­net. Jakob sieht es sei­nem Gesicht an, dass er Schmer­zen hat, wenn er so lang ste­hen muss.

Die Schweiß­per­len auf der Stirn, der Mund, der sich nach unten ver­zieht. Der Löff­ler dreht sich zu Jakob um. Ihm fehlt der Braun­stift für den Thü­rin­ger Wald. Dabei stößt der Löff­ler mit dem Rücken gegen die Bank, die den Kakao am Sei­ten­ha­ken hält. Jakob starrt auf den Fuß­bo­den des Mit­tel­gangs. Das Koch­ge­schirr, die bräun­lich-vio­let­te Lache. Leh­rer Krup­pa stemmt sich äch­zend an den Sei­ten­leh­nen sei­nes Pult­stuhls hoch. Lässt sich die Krücke rei­chen, greift zum aus­ge­fran­sten gel­ben Rohr­stock hin­ter der Klapp­ta­fel. Kommt zur Kakaol­a­che, die sich inzwi­schen auf dem geöl­ten Boden immer noch wei­te­re Flä­chen erobert.

Ein lei­ses Wer­war­das. Der Löff­ler hebt fle­hend sei­nen Geständnisarm.

Jakob schie­ßen die Trä­nen her­vor. Die Über­ra­schung für die Mama. Der Löff­ler weiß, was jetzt kom­men wird, lehnt sei­nen Ober­kör­per erge­ben über den Tisch. Der Krup­pa macht sei­nen Rou­ti­n­egriff, zieht dem Löff­ler die faden­schei­ni­gen Hosen straff. Zu vie­le Male schlägt er auf den mage­ren Hintern.

Dabei kom­men die Gum­mi­strap­se sei­ner lan­gen, geripp­ten Strümp­fe zum Vor­schein. Kei­ner grinst. Stumm hat der Löff­ler die wuch­ti­gen Schlä­ge ertra­gen. Danach stellt er sich an die Rückwand.

Die mit Was­ser gekämm­ten Haar­re­ste sind dem Leh­rer durch­ein­an­der gera­ten, hän­gen ihm über den Horn­bril­len­rand. Beim Rech­nen mit Kilo, Pfund und Gramm sieht sich Jakob ein­mal kurz um. Der Löff­ler kau­ert im Knien an der Wand, wim­mert lei­se vor sich hin.

Die Glocke schrillt.

Der Löff­ler holt Putz­ei­mer und Wisch­lap­pen. Er lässt sich nicht helfen.

Der Krup­pa sitzt am Pult, hat noch irgend­et­was zu schreiben.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839