Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 69

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Gra­na­da und Ave Maria

Der Zie­gel­fa­bri­kant hat bei­de ein­ge­la­den. Ob sie zur Weih­nachts­fei­er der Fabrik spie­len wol­len, hat er sie fra­gen las­sen. Sie wür­den auch abge­holt und heim­ge­bracht wer­den. Für zehn Minu­ten einen Hun­der­ter. Spie­len könn­ten sie, was sie wollen.

Es müs­se nicht unbe­dingt etwas mit Weih­nach­ten zu tun haben.

*

Bän­ke und Bier­ti­sche. Dar­auf Fich­ten­zwei­ge mit Lamettafäden.

Der Wirts­haus­saal ist fast voll. Sie tra­gen ihre Gitar­ren auf die Büh­ne. Der Fabri­kant kommt zu ihnen hin­auf. Einen star­ken Hän­de­druck hat der. Er lächelt. Die Stim­me ist freund­lich. Er weiß es nicht. Das mit den zer­bro­che­nen Bret­tern und dem Kar­ren mit den Lüftungsziegeln.

Sein Sohn habe sie vor­ge­schla­gen. Das wäre mal etwas Ande­res als das übli­che Gedud­le und Geflö­te, hat er ihm gesagt. Aber die Leu­te soll­ten erst mal was Ordent­li­ches in den Magen kriegen.

Schnit­zel mit Kar­tof­fel­sa­lat. Unten am Tisch der Ver­wal­tung sei­en für die Künst­ler Plät­ze reser­viert. Kisten mit Fla­schen­bier zur Selbst­be­die­nung. Der Fabri­kant hat schon zu Hau­se geges­sen. Jakob sitzt gegen­über der Bril­len­frau aus dem Büro. Vor ein paar Mona­ten hat­te sie ihm die bei­den Lohn­strei­fen für den Hall­ef­fekt gege­ben und die Umschlä­ge mit dem Geld.

So so, die Her­ren Stu­den­ten las­sen sich auch wie­der mal bei uns blicken.

Letz­te Tel­ler wer­den abge­tra­gen. Der Fabri­kant steht auf der Büh­ne, hebt die Hand. Das Stim­men­ge­wirr verebbt.

Wie eine gro­ße Fami­lie sei die Beleg­schaft. Da gel­te es zusam­men­zu­ste­hen. Jeder müs­se sei­ne Pflicht tun. Jeder an sei­nem Platz, ob in der Ver­wal­tung, drau­ßen in der Ton­gru­be, am Band, an den Öfen oder im Trans­port. Weih­nach­ten ste­he vor der Tür, 2das Fest der Fami­lie. Und des­halb sei die­se Weih­nachts­fei­er auch ein Fest der Betriebsfamilie.

Er nickt den Brü­dern zu und ver­schwin­det hin­ter der Bühne.

*

Als erstes Lied haben sie sich Gra­na­da aus­ge­wählt. Vom Trio San Jose‚. Eine Woche hat Jakob die LP abge­hört, Laut für Laut auf­ge­schrie­ben. Ein Fremd­spra­chen­kor­re­spon­dent hat noch kor­ri­giert und über­setzt. Davon gibt es auch eine deut­sche Fas­sung vom Schmalz­sän­ger Vico Tor­ria­ni. Der Ana­nas aus Cara­cas-Sän­ger soll sei­ne Fin­ger von Gra­na­da las­sen, sagt Jakob.

Jakob geht vor bis zur Büh­nen­kan­te. Drun­ten im Saal die Bier­fla­schen neben den Lamet­ta­zwei­gen. Fast sinkt ihm der Mut.

Der fal­sche­ste Ort, die fal­sche­ste Zeit ist das für ihn. Und für das Lied. Die Glimm­punk­te der Ziga­ret­ten. Der Geruch nach Schnit­zel steht noch wie eine Säu­le im Saal. Es gibt kein Zurück. Hin­ter ihm hat der Bru­der schon begon­nen, mit sei­nem Schlag­plätt­chen den E‑Moll-Akkord dra­ma­tisch über sein Instru­ment zu fächeln.

Gra­na­da tier­ra sona­da por mi, beginnt er mit rat­tern­dem R und weit offe­nem A. Jetzt nur nicht ins Publi­kum hin­un­ter schauen.

Sein Blick sucht Halt an dem gerahm­ten Jugend­schutz­ge­setz auf der Rück­sei­te des Saals. Und wenn ihm der halb ver­stan­de­ne Text ein­fach weg­bleibt? Doch bei­de Gitar­ren arbei­ten exakt, stüt­zen die Stimme.

Gra­na­da tu tier­ra esta llena de lin­das muje­res de sang­re y de sol.

Von schö­nen Frau­en, vom Blut der Stier­kämp­fe, von der Son­ne singt das Lied. Ras­sig und stolz das abrup­te Ende mit drei trocke­nen Rhyth­mus­schlä­gen. Hei­se­re Bra­vo­ru­fe. Die Blicke der Brü­der tref­fen sich. Instru­men­te nachstimmen.

Ave Maria No Morro.

*

Im ver­gan­ge­nen Som­mer die­se Moden­schau im Rosengarten.

Dass ihr gefei­er­tes Trio San Jose wirk­lich auf­tre­ten soll­te? Hier in ihrer Stadt? Und aus­ge­rech­net bei einer mick­ri­gen, faden Moden­schau? Andi hat­te ver­mu­tet, dass da nur Plat­ten auf­ge­legt wer­den. Aber auf dem Pla­kat das Wort Ori­gi­nal. Nur wegen denen waren sie da hin­ge­gan­gen, hat­ten sogar Ein­tritt gezahlt. Waren sich komisch vor­ge­kom­men bei dem gan­zen Lauf­st­eg­ge­stel­ze in der neu­en Herbst­kol­lek­ti­on. Und nun unser Modell Gene­vie­ve, mode­rat tail­liert und so ein Gequatsche.

Doch dann waren sie wirk­lich gekom­men. Sogar die­sel­ben reich bestick­ten Bole­ro-Jacken, Rüschen-Hem­den und Leder­stie­fel wie auf der LP. Der Con­fe­ren­cier hat­te von einem Glücks­fall gespro­chen, die aus Film, Rund­funk und Fern­se­hen bekann­ten Stars enga­gie­ren zu kön­nen. Andi hat­te ent­deckt, dass er die Akkor­de vom Ave Maria rich­tig abge­hört hatte.

Der Con­fe­ren­cier ani­mier­te zum Abschieds­bei­fall für unse­re spa­ni­schen Gäste. Die rest­li­che Herbst­kol­lek­ti­on konn­te ihnen den Buckel run­ter rut­schen. Sie hat­ten sich verkrümelt.

Text abhö­ren. Zwei­te Stim­me schrei­ben. Üben. Bandaufnahmen.

*

Schon seit meh­re­ren Wochen hat sich „Ave Maria No Mor­ro“ auf Platz­num­mer 1 gehal­ten. Und jetzt sol­len sie die­se Welt­spit­zen­num­mer in so einem ver­räu­cher­ten Bier­dunst brin­gen? Bestimmt sind die mei­sten da unten im Saal evan­ge­lisch, durch­zuckt es ihn. Die haben doch kei­ne Marienlieder.

Die Gitar­ren im bedäch­ti­gen Rumbarhythmus.

Hay en Rio un monte.

Zwei­stim­mig der Refrain.

Aun­que no ten­gas capil­la rezar la gen­te sencilla.

Har­fen­ar­tig aus­ge­ko­stet der vol­le E‑Dur-Akkord am Schluss.

Gröli­ger Bei­fall. Bier­fla­schen­ge­pol­ter auf den Tisch­plat­ten. Was Deut­sches, was Deut­sches. Die Rufe wer­den rhyth­mi­scher, wer­den von all­ge­mei­nem Klat­schen punk­tiert. Auf so etwas sind sie nicht gefasst. Bera­ten sich kurz. Eigent­lich woll­ten sie den Arbei­tern zum Abschied Rock around the clock um die Ohren fetzen.

*

„Heim­weh“ vom Fred­dy Quinn haben sie bis­her immer ins Lächer­li­che gezo­gen. Weil es das gestoh­le­ne „Memo­ries are made of this“ vom läs­si­gen Dean Mar­tin ist. Weil es deutsch ist. Und wegen der blö­den Rei­me. Herz-Scherz. Ster­ne-Fer­ne. Wann immer es im Radio zu hören war, sie hat­ten es mit ätzend ver­stell­ten Stim­men zer­plärrt, ken­nen es in- und aus­wen­dig, dul­den kei­nen deut­schen Neben­buh­ler zum ame­ri­ka­ni­schen Original.

*

Kuf­stein­lied, Kuf­stein­lied tönt es aus einer Saal­ecke. Ihm graut davor. Sie müs­sen sofort entscheiden.

Ihre Gitar­ren im schlep­pen­den Slow-Rock.

So schön, schön war die Zeit. So schön, schön war die Zeit.

Zwei­stim­mig schwe­ben sie übereinander.

Bren­nend hei­ßer Wüsten­sand. Fern, so fern das Heimatland.

Kein Gruß, kein Herz, kein Kuss, kein Scherz.

Der Refrain.

Dort, wo die Blu­men blüh’n, dort, wo die Täler grün, dort war ich ein­mal zu Hause.

Der gan­ze Saal eine ein­zi­ge mäch­ti­ge Stim­me. Die sin­gen nicht mit. Die singen.

Die da unten haben über­nom­men. Es gehört ihnen. Der Rhyth­mus ihrer Gitar­ren­schlä­ge ver­sinkt im Stim­men­meer. Lang­sa­mer spie­len, sich anpas­sen. In der ersten Tisch­rei­he die Taub­stum­me aus dem Trocken­bo­den, die mit dem schweiß­ge­tränk­ten Unter­rock. Heu­te in wei­ßer Blu­se mit Hals­ket­te. Ihr geschlos­se­ner Mund lächelt ihm hin­auf. Da bleibt ihm die Stim­me weg. Er kann die Lip­pen nur noch zum Schein bewe­gen, dabei die Akkor­de durchziehen.

So schön, schön war die Zeit.

Er hat sich wie­der gefan­gen, schließt sich dem Bru­der an. Des­sen Melo­die­fi­gur auf den tie­fen Sei­ten hat nie­mand gehört. Jetzt muss Jakob dem Lied ein Ende set­zen. Er reißt sich die Gitar­re vom Hals, ver­beugt sich. Heim­weh wogt wei­ter. Ver­ebbt, bis sich ein Bei­falls­sturm erhebt. Die applau­die­ren sich, johlen.

Dort wo die Blu­men blüh’n, dort, wo die Täler grün, dort war ich ein­mal zu Hau­se. „Gra­na­da“ und „Ave Maria No Mor­ro“ sind ver­ges­sen. Gitar­ren in die Fut­te­ra­le. Run­ter von der Bühne.

Die Bril­len­frau aus dem Lohn­bü­ro. Beim Hin­aus­ge­hen wischt sich Jakob ihren ver­rutsch­ten Kuss vom Hals.

Der Chauf­feur war­tet schon, legt die Instru­men­te in den Kof­fer­raum. Sie set­zen sich auf die Rück­bank. Die Orts­be­leuch­tung flackert neon­kalt durch ihre Fen­ster. End­lich die offe­ne Land­stra­ße. An den Stäm­men der Stra­ßen­bäu­me tasten sich die Schein­wer­fer ihrer Stadt ent­ge­gen. Die Hand des Chauf­feurs reicht etwas Wei­ßes über die Rücken­leh­ne. Andi nimmt es an sich und flü­stert die Koh­le. Vor dem KALI ein paar Gestal­ten von der Nachtvorstellung.

Rast­stra­ße 11. Gitar­ren nicht ver­ges­sen. Fro­hes Fest, wünscht der Chauf­feur aus dem Fah­rer­fen­ster. Andi sagt Eben­falls. Jakob sagt nichts.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839