Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 62

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Der Haken

Ein­mal muss­te es so kom­men. Auf dem Erne­sti­num war Jakob durch gekracht. Mathe sechs. Bodenlos.

Mit einer Drei in Latein hät­te er noch aus­glei­chen kön­nen. Aber da war nichts mehr zu machen gewe­sen. Das musi­sche Gym­na­si­um. Da will er einen neu­en Anfang wagen. Da soll Mathe nicht so schwer sein.

Rich­tig locker ist er von der neu­en Unter­pri­ma auf­ge­nom­men wor­den. Schon am drit­ten Schul­tag hat er den schlak­si­gen, mit Som­mer­spros­sen über­sä­ten Hagen auf der Gitar­re bei sei­nen Kla­ri­net­ten­so­li von When the Saints go mar­ching in und dem mit­rei­ßen­den Down by the river­si­de beglei­tet. Dafür sind sie zur Pau­se mit vie­len Ande­ren ver­bo­te­ner­wei­se im Klas­sen­zim­mer geblieben.

Das war ris­kant. Erst im letz­ten Schul­jahr hat­te Hagen vom Erl­wein links und rechts eine geknallt bekom­men, weil er auf dem Kla­vier im Klas­sen­zim­mer einen hei­ßen Boo­gie-Woo­gie abrol­len ließ.

Ent­ar­te­tes Niggerzeug.

Das rote, ver­zerr­te Gesicht. Die gequol­le­nen Adern an der Schläfe.

*

Aber heu­te muss gerockt wer­den. Als ihre Zuhö­rer dann dazu auch noch die Syn­ko­pen klat­schen, da wagt es der Neue, sein Rock around the clock zu sin­gen. Die Stim­me imi­tiert das Keh­li­ge des Bill Haley, durch­drin­gend, hat nichts vom Bel­can­to, das ihnen der Erl­wein und Stu­di­en­pro­fes­sor Hahl­weg bei­zu­brin­gen ver­su­chen. Jakob, der Neue mit dem Ami­schnitt, ist ab jetzt einer von ihnen.

*

Noch am sel­ben Nach­mit­tag schwingt er sich auf sein Rad und lässt sich den Pil­gramsroth hin­un­ter rol­len. Der Fahrt­wind braust in den Ohren. Frei­hän­dig. Am Gefäng­nis rauscht er vor­bei, lehnt den Draht­esel am Mar­stall an, lässt den Rie­gel des Spei­chen­schlos­ses einschnappen.

Kurz dar­auf spü­ren die Ellen­bo­gen die raue Sand­stein­ba­lu­stra­de der Arka­den. Die­ser Sep­tem­ber hat sich aus dem son­nen­durch­glüh­ten August ein paar som­mer­li­che Tage hin­über ret­ten kön­nen. Jakob krem­pelt sich die Ärmel sei­nes Army­hemds hoch.

Von James Arnold, einem ech­ten Ami, hat er die­ses kha­ki­far­be­ne Stück geschenkt bekom­men. Die geknöpf­ten Schul­ter­stücke, männ­lich geschnit­te­ne Brust­ta­schen. So etwas gibt es in kei­nem Cobur­ger Tex­til­ge­schäft zu kau­fen. Die Stul­pen an den Ärmeln waren abge­sto­ßen und aus­ge­franst, sei­ne Mut­ter hat sie ihm aber mit Näh­garn säu­ber­lich eingefasst.

Selbst­ge­fäl­lig betrach­tet er sei­nen Bizeps, knöpft das Hemd fast bis zum Gür­tel auf, damit man die tie­fe Bräu­ne sieht, die er sich im Hin­den­burg­bad und an den Cal­len­ber­ger Tei­chen geholt hat.

Fast men­schen­leer unter ihm der Schloss­platz mit sei­ner Rosen umbee­te­ten Für­sten­sta­tue, der impo­san­ten, ocker­far­be­nen Ehren­burg, der tem­pel­ar­ti­gen Front des Lan­des­thea­ters. Jakob ist nur mit sich und sei­ner mög­li­chen Wir­kung auf Mäd­chen befasst. Die Sache mit die­ser kraus­haa­ri­gen Irma aus der Kreuz­wehr­stra­ße, sei­ner heiß umschwärm­ten Tanz­stun­den­flam­me, war aus­ein­an­der gegan­gen. Einer, der ein Jahr älter ist, hat sie ihm kur­zer­hand ausgespannt.

Ist doch bekannt, dass die­ses Arsch­loch ein pri­mi­ti­ver Wei­ber­flach­le­ger ist. Der hat halt mehr Erfah­rung. Der geht gleich rich­tig ran.

*

Bei­na­he ist es ihm ent­gan­gen, dass Hagen Korff unter ihm über den Kies des Schloss­plat­zes daher­kommt. Der blät­tert im Gehen in einem groß­for­ma­ti­gen Foto­band, den er sich eben aus dem Ame­ri­ka­haus in der Allee geholt hat.

Sir! Er ruft es von den Arka­den auf den Schloss­platz hinab.

Sir ist eigent­lich Hagens Erfin­dung. So spricht er Leu­te an, mit denen er sich gut ver­steht. Er schaut hoch, erkennt sei­nen neu­en Klas­sen­ka­me­ra­den, lacht, ruft sein Sir hin­auf und nimmt die Stu­fen in federn­dem Schritt. Box­hie­be auf den Ober­arm. Flüch­tig blät­tern sie in dem Bild­band mit den Fotos aus der Jazz­welt, machen danach wüste Bemer­kun­gen über zu fet­te Ärsche und unter­ent­wickel­te Brü­ste von Frau­en und Mäd­chen, die unter ihnen den Platz überqueren.

Hagen Korff – hört sich irgend­wie nor­disch an.

Der nickt, fährt sich durch sein röt­li­ches Haar und grinst.

Eigent­lich soll­te aus mir ja ein Claus wer­den. Sogar mit C.

Er wird ernst. Wenn Jakob Zeit habe, dann wol­le er ihm mal was zei­gen. Er steigt mit ihm auf die leich­te Anhö­he in Rich­tung sei­ner ehe­ma­li­gen Schu­le. Jakob denkt, die Sache hät­te etwas mit die­sem Erne­sti­num zu tun, das ihn jetzt in der grau­en Brei­te sei­ner Sand­stein­fas­sa­de androht.

*

Da oben im ersten Stock sein ehe­ma­li­ges Klassenzimmer.

Da oben hat er erst im Juli sein Sit­zen­blei­ber­zeug­nis aus der Hand des ach­sel­zucken­den Klass­lei­ters entgegengenommen.

Da oben haben sie ihn von sei­nem Bru­der getrennt. Nach acht gemein­sa­men Schul­jah­ren auf der glei­chen Bank Und das alles wegen der beschis­se­nen Mathe, die er ver­flucht noch mal nicht begrei­fen kann oder will.

*

Aus den Kro­nen der hohen Laub­bäu­me ver­hal­te­nes Vogel­ge­zwit­scher. Mit sanf­ter Küh­le emp­fängt sie der durch­funkel­te Schat­ten. Hagen geht an der Innen­sei­te der Mau­er vor­aus. Nach weni­gen Metern bleibt er ste­hen, nimmt die Hän­de aus den Hosentaschen.

Eine Stein­plat­te. In die Fried­hofs­mau­er eingelassen.

Hagen geht dicht an die Tafel her­an, wischt mit einem Baum­blatt bei Oberst des Gene­ral­stabs einen Sprit­zer von Vogel­schei­ße weg. Der Zei­ge­fin­ger deu­tet auf den ein­ge­mei­ßel­ten Namen, fährt lang­sam über die Zif­fern der Lebensdaten.

Mein alter Herr. Zwan­zig­ster Juli vier­und­vier­zig. Den Stauf­fen­berg per­sön­lich gekannt. Der war ein Sir.

Hagen will die Stil­le lockern. Bloß kein Fried­hofs­ge­fühl auf­kom­men lassen.

Das da sei bloß eine Erin­ne­rungs­ta­fel. In Ber­lin-Plöt­zen­see hät­ten die Nazis sei­nen Vater auf­ge­hängt. An einem Flei­scher­ha­ken. In einer Draht­schlin­ge aus einer Kla­vier­sai­te. Ihn lang­sam ersticken las­sen. Der Hit­ler, die­se elen­di­ge, per­ver­se Drecksau.

Der habe das sogar fil­men und sich den Film vor­füh­ren lassen.

Noch nie hat Jakob so etwas gehört. Wie der Hagen das so ein­fach aus­spre­chen kann. Er kommt sich mies vor, weil er aus den Daten der Gedenk­ta­fel errech­net hat, wie alt der Vater war, als ihn die Nazis umbrachten.

*

Vor ein paar Jah­ren der Spiel­film im Uni­on Thea­ter, wo der Bern­hard Wicki den Stauf­fen­berg gespielt hat­te. Mit der schwar­zen Augen­klap­pe. Jakob war damals sech­zehn. Er und sein Bru­der Andi im zwei­ten Par­kett. Nachmittagsvorstellung.

Am Schluss hat­te der Graf Stauf­fen­berg so was wie „hei­li­ges Deutsch­land“ geru­fen, bevor er erschos­sen wur­de. Als sich dann der rie­si­ge Samt­vor­hang vom UT lang­sam wie­der schloss, sind sie von ihren Klapp­sit­zen auf­ge­stan­den und die vie­len Stu­fen der Frei­trep­pe hin­un­ter­ge­gan­gen. Gleich unten an dem run­den Kiosk hat­ten sich bei­de noch schnell ein JOPA-Eis am Stiel mit Vanil­le­ge­schmack und Scho­ko­la­den­gla­sur für den Heim­weg gekauft.

*

Dann haben die­se Sau­hun­de ihn ver­brannt. Sei­ne Asche in irgend­ei­nen Kanal gestreut. Wir soll­ten kein Grab haben, wo wir hin­ge­hen konn­ten. Zum Beten oder so.

Ganz trocken erzählt er das. Hilf­lo­sig­keit und Lee­re in Jakob, 2Wutwelle und Rachefan­ta­sien. Außer Dreck­schwei­ne fällt ihm nichts ein. Wenn er sonst sol­che Aus­drücke ver­wen­det, dann schreit er sie her­aus. Hier, in die­ser Stil­le, kann er das nicht, fühlt sich schwach. Sie gehen dem Fried­hofs­aus­gang zu. Aus dem blass­gel­ben Schorn­stein des Kre­ma­to­ri­ums eine fin­ste­re Rauch­säu­le. Jakob wagt kaum zu atmen. Sie spre­chen erst wie­der, als sie auf der Stra­ße stehen.

Und die­se Claus-mit-C-Sache?

Gleich, nach­dem sie sei­nen Vater ver­haf­tet hat­ten, hät­ten die Nazis ihn von sei­ner Mut­ter weg­ge­nom­men und in ein Heim in Thü­rin­gen gesteckt.

Da woll­ten die mich zu einem klei­nen Nazi umerziehen.

Außer­dem habe er da nur auf den Namen Claus hören müssen.

Sei­ne „lüt­te“ Schwe­ster hät­ten sie der Mut­ter auch weg­ge­nom­men. Zehn Tage alt. Ein Wurm. Über vier­zig Kin­der auf meh­re­re Häu­ser ver­teilt. Alle von den Ver­haf­te­ten, Erschos­se­nen, Erhängten.

Alle soll­ten sie irgend­wel­chen SS-Fami­li­en zur Adop­ti­on gege­ben wer­den. Ver­ges­sen, von wem sie abstammen.

*

Sie ste­hen vor Jakobs Rad.

Wit­we eines hin­ge­rich­te­ten Hoch­ver­rä­ters. Einer, der uneh­ren­haft aus der Wehr­macht aus­ge­sto­ßen wor­den war. Die bei­den Ver­rä­ter­kin­der hat­te man ihr wie­der zurück­ge­ge­ben. Gnädigerweise.

Und des­we­gen steht hier eine Hagen Ori­gi­nal­aus­ga­be und kein Claus mit C.

Er bit­tet, die gan­ze Sache nicht an die gro­ße Glocke zu hängen.

Weil es auch hier immer noch unbe­lehr­ba­re Idio­ten gäbe. Selbst unter Leh­rern. Namen will er nicht nennen.

Deutsch­land um den End­sieg gebracht.

Dem deut­schen Front­sol­da­ten in den Rücken gefallen.

Dem Füh­rer die Treue gebrochen.

Ein gerech­tes Ende für einen Vaterlandsverräter.

So einen Schwach­sinn habe er sich anhö­ren müs­sen. Bis heute.

Jakob lässt sein Fahr­rad­schloss auf­schnap­pen. Hagen lacht erlö­send laut.

Ja, so was gibt’s, Sir.

Sie schla­gen sich auf die Oberarme.

Wo wohnst’n du überhaupt?

Er spürt, wie dürf­tig das klingt.

Da gleich beim Knast links hoch, Probst­grund. Kennst du garantiert.

Er nimmt das Rad.

Ich oben im Pil­gramsroth. Glei­che Rich­tung. Sozia­ler Woh­nungs­bau. Grad umge­zo­gen. Aus der Raststraße.

Let me walk you home, brother.

Immer, wenn er das Endungs‑r deut­lich hör­bar nach­rollt, ist er stolz auf sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Akzent.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839