Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 58

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Man­tel­män­ner

Mit ihrem 313 hät­ten sie einen Plat­ten gehabt. Eine Stun­de Ver­spä­tung am Grenz­kon­troll­punkt, schreibt sie eine Woche darauf.

Sie darf ab jetzt lei­der nicht mehr in den Westen. Roland kön­ne aber in einem Monat nach Erfurt kom­men. Und fast hät­te sie es ver­ges­sen, von ihrem Onkel soll sie natür­lich Grü­ße ausrichten.

Außer­dem erkun­digt sie sich, wie denn der Erfur­ter Schmand geschmeckt hat.

Aus Rolands Zim­mer jetzt wie­der das Zwei­fin­ger­ge­hacke. Der Arti­kel soll in Fort­set­zun­gen erschei­nen. So hat er sich das vor­ge­stellt. Das gibt mehr Koh­le. Außer­dem erscheint dann sein Name öfter. Den All­tag im Leben eines Trak­to­ri­sten und einer Mel­ke­rin will er an Ort und Stel­le mit­er­le­ben und dar­über schrei­ben. Damit denen hier im Westen end­lich mal ein Licht auf­geht, wie der ech­te Sozia­lis­mus aus­sieht. Und wie froh die da drü­ben sind, dass sie end­lich nicht mehr aus­ge­beu­tet werden.

Bis zur Abrei­se muss er die Fort­set­zun­gen fer­tig haben. Einen Durch­schlag davon will er sei­ner Fran­zis­ka als Geschenk mit­brin­gen. Bei denen da drü­ben geht es wenig­stens gerecht zu. Da sind alle Men­schen gleich. Ob sie mit dem Kopf arbei­ten oder mit der Hand. Sei­ne Freun­din ist ja eine Kopf­ar­bei­te­rin, weil sie irgend­wo in einem Büro arbei­tet. Irgend­was mit Kunst­dün­ger, hat­te sie ihm beim ersten Besuch gesagt.

Jakob schleicht sich in das Zim­mer des älte­sten Bru­ders, möch­te in der geheim­nis­vol­len Repor­ta­ge lesen. Der hat sein Zim­mer aus­nahms­wei­se nicht abge­schlos­sen, als er auf das Klo musste.

Da sitzt er immer eine Ewig­keit, lei­det an Obsti­pa­ti­on, wie er immer sagt. In die Schreib­ma­schi­ne ist ein Brief an die Blon­de aus Erfurt ein­ge­spannt. Hastig über­fliegt er das Geschrie­be­ne, horcht immer wie­der nach dem dro­hen­den Geräusch der Klo­spü­lung. Dass sie sich ihm beim letz­ten Besuch in Coburg ganz geschenkt hat, dass er gera­de jetzt in die­sem Zim­mer sitzt und immer an sie den­ken muss.

Er spürt, dass er in ein frem­des Reich ein­ge­drun­gen ist. Will das Zim­mer ver­las­sen, kommt sich schlecht vor und fühlt, wie er rot wird. Zugleich tut ihm die Mama leid. Der hat doch tat­säch­lich gepim­pert. Hier in ihrer Woh­nung. Da, wo ein Kreuz hängt und ein Bild der Madon­na von Lour­des. Nur durch eine Wand und durch einen umge­dreh­ten Zim­mer­schlüs­sel von der Mut­ter und den Brü­dern getrennt. Die Klo­spü­lung rauscht. Er lehnt die Tür wie­der im glei­chen Win­kel an und setzt sich zur Mut­ter in die Küche. Soll er es ihr sagen? Sie wür­de ster­ben. Der Vater in Rase­rei ver­fal­len. Nur mit Andi kann er dar­über reden. Der schüt­telt den Kopf, zieht einen ange­ekel­ten Flunsch. Dass die Ost­frau bloß eine bil­li­ge Schnal­le ist, das habe er schon von Anfang an geahnt. Er lacht kurz und ver­ächt­lich. Sie hüten ihr Geheim­nis, wol­len die Eltern scho­nen, den Fami­li­en­frie­den erhal­ten. Allein schon, um ihr eige­nes, umsorg­tes Gym­na­sia­sten­le­ben nicht durch einen mora­li­schen Orkan aufs Spiel zu setzen.

*

In regel­mä­ßi­gen Abstän­den sitzt Roland im Inter­zo­nen­zug. Tan­te Lisa wohnt nicht weit vom Erfur­ter Bahn­hof. Sie ist in letz­ter Zeit ziem­lich klapp­rig gewor­den, erzählt ihm bei sei­nen Kurz­be­su­chen fast nur noch von der alten Hei­mat, blät­tert im geret­te­ten Foto­al­bum. Onkel Albert- Gott hab ihn selig – mit der schwe­ren gol­de­nen Uhr­ket­te, das run­de Par­tei­ab­zei­chen am Revers. Onkel Albert in SS-Uni­form inmit­ten lachen­der Kame­ra­den. Dass der mal ein hohes Tier bei der Reichs­post gewe­sen ist und er bestimmt nichts dage­gen ein­zu­wen­den hät­te, wenn sein Nef­fe Roland die Uhr samt Ket­te ein­mal erben wür­de. Außer­dem gäbe es ja noch sei­ne Brief­mar­ken­samm­lung mit den unschätz­ba­ren Erst­tags­stem­peln, Son­der­mar­ken, raren Seri­en, Ganz­sa­chen und kost­ba­ren Fehl­drucken, die Onkel Albert eben auf Grund sei­ner geho­be­nen Posi­ti­on bei der Post und so wei­ter und so fort. Roland spielt den Beschei­de­nen. Da gäbe es doch bestimmt Wür­di­ge­re als ihn. Doch Tan­te Lisa war nicht zu beein­drucken, will ihm auch irgend­wann ein­mal zei­gen, was sie als ihren letz­ten Wil­len auf­ge­setzt hat. Bei jedem Besuch streift er schon nach einer Stun­de demon­stra­tiv den Hemds­är­mel hoch, blickt auf sei­ne Jung­hans. Die jour­na­li­sti­sche Pflicht rufe ihn.

Tan­te Lisa hat Ver­ständ­nis für den flei­ßi­gen jun­gen Mann. Der hat fast schon den Platz ihres im Krieg so tra­gisch ver­un­glück­ten Soh­nes Her­bert ein­ge­nom­men. Der war als Stra­ßen­bau­in­ge­nieur beim Bau eines Front­flug­plat­zes von einer Wal­ze über­rollt wor­den. Gott sei Dank habe der Füh­rer den Wal­zen­fah­rer in eine Straf­kom­pa­nie gesteckt hat.

*

Um die Haus­ecke war­tet sie schon sehn­lich, sei­ne Franziska.

Die klapp­ri­ge Tan­te braucht ja nicht alles zu wis­sen. Ganz ver­rückt gemacht haben ihn die Wochen der Tren­nung. Heu­te ist sie beson­ders bezau­bernd, hat das West­par­füm auf­ge­legt, dass er ihr beim Wart­burg 313-Besuch zum Abschied geschenkt hat.

Ihre Eltern sind bei­de auf Kur in Rügen, sagt sie. Sturm­freie Bude.

Aber zuerst will sie mit ihm in so eine Art von Club. Die tun hier im Sozia­lis­mus wenig­stens etwas für die Jugend. Auch dar­über will er schrei­ben. Sogar Fran­zis­kas Onkel schaut mal vor­bei, raucht mit ihm eine ova­le Ori­ent­zi­ga­ret­te, gibt eine Vita­Co­la aus. Den mit­ge­brach­ten Arti­kel liest er auf­merk­sam durch, nickt immer wie­der bestä­ti­gend, sagt etwas von Fach­mann. Nur statt Arbei­ter soll er Werk­tä­ti­ge schrei­ben. Das mit der Mel­ke­rin und dem Trak­to­ri­sten, das hat er schon für ihn gere­gelt. Zu dritt zwän­gen sie sich in den Wart­burg 313. Hin­aus geht es ins dörf­li­che Umland. Fran­zis­ka sitzt auf sei­nem Schoß, ihr Haar flat­tert wild im Fahrt­wind, sei­ne Hand spürt die küh­le, glat­te Haut ihres Schenkels.

Der Wart­burg biegt auf einen unbe­fe­stig­ten Weg ab. Tie­fe Spur­rin­nen von Trak­to­ren. Das Cabrio­let liegt leicht auf. Rück­wärts­gang. Der Onkel parkt dann doch lie­ber am Stra­ßen­rand. Fran­zis­ka bleibt lie­ber im Wart­burg, will sich ihre Schu­he nicht dreckig machen. Land­wirt­schaft­li­che Produktionsgenossenschaft.

Ein Rie­sen­schild zwi­schen zwei Eisen­roh­re gehängt. Bis zum Par­tei­tag wol­len sie ihr Soll um zwan­zig Pro­zent übererfüllen.

Und das soll zugleich ein Schlag gegen die Mono­pol­ka­pi­ta­li­sten und Bon­ner Kriegs­trei­ber sein. Der Onkel führt Roland zum Gemein­schafts­raum. Er will noch schnell die Mel­ke­rin holen.

Holz­ti­sche mit grün gestreif­ten Wachs­tuch­tisch­decken. Stroh­blu­men­ge­stecke. Bil­der von Marx, Engels, Lenin und Ulbricht.

Von der Sowjet­uni­on ler­nen heißt sie­gen ler­nen. Er holt den vor­be­rei­te­ten Fra­ge­zet­tel her­vor. Die Mel­ke­rin mit dem roten Kopf­tuch bringt Kuh­stall­ge­ruch her­ein, gibt Roland den Ellen­bo­gen und setzt sich. Sie beant­wor­tet sei­ne Fra­gen im Dialekt.

Der Onkel dol­metscht, sobald Roland ihn fra­gend anschaut. Inzwi­schen ist auch der Trak­to­rist erschie­nen. Ein jun­ger Kerl im frisch gewa­sche­nen Blau­mann. Dass er manch­mal da oben auf dem Sitz einen kal­ten Arsch bekommt und er oft das Rei­ßen hat.

Auf so einem rus­si­schen Rie­sen­trak­tor möch­te er unbe­dingt ein­mal fah­ren. Die sol­len sogar geheizt sein. Den Urlaub ver­bringt er im Thü­rin­ger Wald in einem LPG-Heim. Roland merkt schon, dass er die bei­den Inter­views in sei­nem Arti­kel noch gehö­rig auf­po­lie­ren muss. Sie kön­nen sich halt nicht so aus­drücken, die­se ein­fa­chen Men­schen. Aber er will ihnen ein Sprach­rohr sein.

*

Im Westen zurück. Er sitzt an der Schreib­ma­schi­ne. Neben sich hat er ein gerahm­tes Foto auf­ge­stellt. Fran­zis­ka hat es ihm mit­ge­ge­ben. Erst im Zug soll­te er es aus dem Umschlag holen. Er hat es sofort her­aus geholt, nach­dem er ihr Win­ken am Bahn­hof nicht mehr sehen konn­te. Sie im Wart­burg 313, lin­ke Hand am Steu­er, den rech­ten Arm auf dem Leder­sitz des Bei­fah­rers. Er weiß, dass sie noch kei­nen Füh­rer­schein hat. Auf der Rück­sei­te bra­ve Mädchenschönschrift.

Wer angibt, hat mehr vom Leben.

Die Tür­glocke. Rolands Mut­ter öff­net. Drei Man­tel­män­ner. Ob hier ein Roland Kott­ke wohnt und ob er zur Zeit im Hau­se ist, wol­len sie wis­sen. Sie nickt stumm, blickt miss­trau­isch. Einer von ihnen greift in die Brust­ta­sche, hält ihr einen Aus­weis vor die Nase, sagt Ver­fas­sungs­schutz. Und so etwas wie drin­gen­der Ver­dacht auf Lan­des­ver­rat. Sie spürt, wie ihr die Knie weich wer­den. Sagt, dass es sich nur um einen Irr­tum han­deln könn­te, ob sie sich nicht in der Adres­se geirrt hät­ten. Die Män­ner ant­wor­ten nicht. Wie betäubt geht sie zu Rolands Tür, klopft und ruft sei­nen Namen.

Die­se Schan­de. Noch nie in mei­nem Leben etwas mit der Poli­zei zu tun gehabt.

Er schließt sein Zim­mer auf. Alles wie­der­holt sich. Ver­dacht auf Lan­des­ver­rat, Ver­wech­se­lung von Name und Adres­se. Durch­su­chungs­be­fehl. Aus­weis, Fotos, Kame­ra, Film­spu­len, Brie­fe, Zei­tungs­ar­ti­kel, Schreib­ma­schi­ne. Die Mama bringt sogar einen gro­ßen Kar­ton. Die schö­nen Hoch­glanz­fo­tos dürf­ten doch nicht geknickt wer­den. Klein und ver­lo­ren steht sie im Flur.

Das mit der Ver­neh­mung kön­ne etwas dau­ern, meint der Ältere.

Roland steckt sich noch ein Päck­chen vom dunk­len Fein­schnitt und Ziga­ret­ten­pa­pier in die Jacken­ta­sche, folgt ihnen wie ein Lamm. Die Man­tel­män­ner ver­ab­schie­den sich nicht, gehen ein­fach so die Trep­pen hin­un­ter. Sie hört ihre Stim­me noch sagen, sie soll­ten nicht aus­rut­schen. Es wäre frisch geboh­nert. Aus dem schma­len Fen­ster des Bad­klos sieht sie ihm nach. Er dreht sich nicht um, blickt nicht zu ihr hin­auf, steigt in den Fond des gro­ßen BMW und wird von zwei der Män­ner flankiert.

Kei­ne Gaf­fer auf der Stra­ße. Gott sei Dank.

Sie schließt das Fen­ster, kniet sich vor die Klo­schüs­sel und erbricht sich.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839