Aus der Forch­hei­mer Leser­post: Inter­view mit Dr. Gerd Reu­ther im FT wider­sprüch­lich frei von jeg­li­cher Logik

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Eini­ge Anti­the­sen zum Inhalt des Inter­views mit H. Dr. Gerd Reu­ther erschie­nen im FT am 23.3.20

Der erste Ein­druck des Inter­views ist der einer durch­ge­hen­den Wider­sprüch­lich­keit und feh­len­den Logik.

So wird im Unter­ti­tel berich­tet, dass sich H. G. R. mit der Kunst beschäf­ti­ge, mög­lichst lan­ge zu leben, gleich­zei­tig habe er im Gespräch mit dem FT dar­über infor­miert, dass er kei­nen Wert auf mög­lichst vie­le wei­te­re Jah­re lege. Was denn nun?

Jeder 3. Ster­be­fall in Deutsch­land hän­ge lt. R. ursäch­lich mit einer medi­zi­ni­schen Behand­lung zusam­men. Und wei­ter, wer die heu­te als Lebens­ver­län­ge­rer ver­ord­ne­ten Medi­ka­men­te jeden Tag esse und auch die noch im Alter emp­foh­le­nen Ope­ra­tio­nen kri­tik­los über sich erge­hen las­se, wer­de vor­zei­tig sterben.

Das sind schlicht fal­sche Aussagen.

Im Ein­zel­nen:

die Behaup­tung, dass jeder 3. Ster­be­fall ursäch­lich im Zusam­men­hang mit einer medi­zi­ni­schen Behand­lung ste­he, also dass 33 % aller Todes­fäl­le aus­schließ­lich durch ärzt­li­che Ein­wir­kung bedingt sei­en, ist durch kei­ne belast­ba­ren Zah­len belegt und völ­lig unglaubwürdig.

Es ist anzu­neh­men, dass es sich hier­bei um eine Umkehr von Ursa­che und Wir­kung handelt.

Ärzt­li­che Behand­lung suchen ja gera­de die Schwer­kran­ken auf. Noch mehr Betrof­fe­ne müs­sen ins Kran­ken­haus zur Behand­lung. Damit ist aber auto­ma­tisch die Wahr­schein­lich­keit grö­ßer, dass sie, weil sie eben schwer krank sind, eher ver­ster­ben als die weni­ger Kran­ken. Dar­aus eine Kau­sa­li­tät zu kon­stru­ie­ren, dass die Behand­lung selbst ursäch­lich für das Ver­ster­ben die­ser Men­schen wäre, ist grob irre­füh­rend und stellt eine bös­wil­li­ge Mani­pu­la­ti­on sta­ti­sti­scher Kor­re­la­tio­nen dar.

In mei­nem bis­he­ri­gen Berufs­le­ben als Arzt habe ich nie davon gehört, dass es Lebens­ver­län­ge­rer gibt, also Medi­ka­men­te, die täg­lich genom­men, das Leben ver­län­gern sol­len, geschwei­ge denn habe ich sol­che verschrieben.

Gott­sei­dank wird auch betag­ten Pati­en­ten durch unse­re soli­da­risch gepräg­te Kran­ken­ver­si­che­rung die Mög­lich­keit gege­ben, sich ope­rie­ren zu las­sen. Dabei han­delt es sich z.B. um Hüft­ope­ra­tio­nen oder um Implan­ta­ti­on von Herz­schritt­ma­chern, um nur eini­ge zu nen­nen, durch­aus sinn­vol­le Maß­nah­men, um die Lebens­qua­li­tät der Älte­ren zu ver­bes­sen. Die Alter­na­ti­ve zu einem not­wen­di­gen Hüft­er­satz wäre näm­lich ein Leben im Roll­stuhl. Zu äußern, dass älte­re Men­schen Ope­ra­tio­nen über sich erge­hen las­sen müs­sen, ist absurd und stellt die Selbst­be­stim­mung der Pati­en­ten infrage.

Die Behaup­tung, dass alt gewor­de­ne Men­schen weni­ge oder kei­ne Medi­ka­men­te ein­ge­nom­men und Ärz­te gemie­den haben, ist wie­der eine Umkehr der Kausalität:

Gesun­de Men­schen müs­sen nicht zum Arzt gehen, weil sie eine gute Kon­sti­tu­ti­on haben und wer­den des­halb auch älter, aber nicht des­we­gen, weil sie Ärz­te gemie­den oder kei­ne Medi­ka­men­te genom­men haben.

Die Vor­schlä­ge des H. R. ein lan­ges Leben zu errei­chen, bewe­gen sich auf dem Niveau der yel­low press mit Plat­ti­tü­den wie „Bewe­gung in der Natur“ etc.

Er stützt sich auf „ Erkennt­nis­se“ des Vita­li­sten H. Hufe­land von vor über 200 Jah­ren, der damals schon erkannt habe, dass jede ärzt­li­che Behand­lung ein Risi­ko für die Gesund­heit dar­stel­le. Die Selbst­hei­lung reg­le das mei­ste nebenwirkungsfrei.

Das soll­te man einem jugend­li­chen insu­lin­ab­hän­gi­gen Dia­be­ti­ker erzäh­len oder einem schwer sui­zi­da­len depres­si­ven Patienten!!!

Über­haupt wird die seit den Zei­ten von Hufe­land dra­ma­tisch ver­län­ger­te Lebens­er­war­tung über­haupt nicht erwähnt, die ja nichts ande­res ist als eine Lebens­ver­län­ge­rung für einen Groß­teil der Bevöl­ke­rung und die unzwei­fel­haft das Ver­dienst der moder­nen Medi­zin ist.

In Zah­len Lebens­er­war­tung um 1800 ca. 36 Jah­re, heu­te 80,6 Jah­re in Deutschland.

Kurz und schlecht: die Erkennt­nis­se des H. R. bestehen in ver­dreh­ten sta­ti­sti­schen Aus­sa­gen, in einer Umkeh­rung der Kau­sa­li­tät, in der Ent­stel­lung von Tat­sa­chen, wohl auf dem Hin­ter­grund eines kru­den Men­schen-und Welt­bilds, das aus dem 18. Jh. stammt.

Bizarr, dass die­ser Unsinn in der Zeit einer Pan­de­mie vor­ge­tra­gen wird. Einer Zeit, in der das Leben von Mil­lio­nen bedroht ist, was nur durch den Ein­satz aller medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se und Maß­nah­men eini­ger­ma­ßen in Schach zu hal­ten ist.

Die­sen Men­schen, die auf Inten­siv­sta­tio­nen beatmet wer­den müs­sen, um nicht kläg­lich und qual­voll zu ersticken, die Selbst­hei­lung zu emp­feh­len und ihnen die Mög­lich­kei­ten der moder­nen Medi­zin vor­zu­ent­hal­ten, ist zynisch und unver­ant­wort­lich. Da lei­der trotz aller medi­zi­ni­scher Bemü­hun­gen Men­schen gestor­ben sind und wei­ter ster­ben, wird sich der Autor in sei­ner Ansicht bestä­tigt füh­len, dass wie­der Men­schen im Zusam­men­hang mit einer ärzt­li­chen Behand­lung zu Tode gekom­men sind.

Dr. Paul Nerb