Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Bio­ma­te­ria­li­en mit steu­er­ba­rer Elastizität

Symbolbild Bildung

Muschel­fä­den wei­sen den Weg zu künf­ti­gen Innovationen

Über einen unge­wöhn­li­chen For­schungs­er­folg berich­tet eine For­schungs­grup­pe der Uni­ver­si­tät Bay­reuth in der aktu­el­len Aus­ga­be von „Natu­re Com­mu­ni­ca­ti­ons“: Erst­mals ist es gelun­gen, die Struk­tur und die Funk­ti­on eines Pro­te­ins auf­zu­klä­ren, das in den Fäden von Mies­mu­scheln ent­hal­ten ist. Die­ses Pro­te­in wur­de als Ursa­che dafür iden­ti­fi­ziert, dass der Faden der Mies­mu­schel unter­schied­li­che Gra­de der Ela­sti­zi­tät auf­weist und somit die Muschel in der Bran­dung opti­mal schützt. Die erfolg­rei­che Syn­the­se und Ana­ly­se des Pro­te­ins im Labor eröff­net span­nen­de Per­spek­ti­ven für neu­ar­ti­ge Bio­ma­te­ria­li­en, deren Ela­sti­zi­tät sich mit hoher Genau­ig­keit steu­ern lässt.

Muschel­byssus gilt seit der Anti­ke als ein wert­vol­les Mate­ri­al, das sich für sehr fei­ne und unge­wöhn­lich halt­ba­re Tex­ti­li­en her­vor­ra­gend eig­net. Das Inter­es­se rich­te­te sich dabei ins­be­son­de­re auf die Edle Steck­mu­schel (Pin­na nobi­lis). Ihre Fäden wur­den zu einem Gewe­be wei­ter­ver­ar­bei­tet, das vor allem wegen sei­nes gol­de­nen Schim­mers sehr begehrt war. Ein beson­ders pro­mi­nen­tes Bei­spiel für einen ver­mut­lich auf der Basis von Steck­mu­schel­fä­den gefer­tig­ten ist der „Schlei­er von Mann­o­pel­lo“, der nahe der ita­lie­ni­schen Ort­schaft Mann­o­pel­lo in der Kir­che San­tua­rio del Vol­to San­to als Reli­quie auf­be­wahrt wird.

Muschel­byssus bezeich­net den Hal­te­ap­pa­rat aus dün­nen beweg­li­chen Fäden, mit denen sich Muscheln an Fel­sen, Holz oder ande­ren festen Gegen­stän­den in der Bran­dung fest­set­zen. Sie wach­sen aus dem Muschel­fuß im Inne­ren der Muscheln und ver­fü­gen über beson­ders kle­ben­de „Füße“, die ein Weg­rut­schen ins offe­ne Meer ver­hin­dern. Für die Byssus­fä­den der Mies­mu­schel ist es cha­rak­te­ri­stisch, dass ihre äuße­ren Enden viel stei­fer sind als die dem Muschel­in­ne­ren nächst­ge­le­ge­nen, deut­lich fle­xi­ble­ren Abschnit­te. Dadurch sind die Fäden einer­seits hin­rei­chend fest, um den Strö­mun­gen des Was­sers wider­ste­hen zu kön­nen; ande­rer­seits sind sie zum Muschel­in­ne­ren hin so fle­xi­bel, dass die wei­chen Mus­keln der Muschel nicht ver­letzt werden.

Unter­schied­li­che Gra­de der Ela­sti­zi­tät im Muschel­fa­den: Eine Bay­reu­ther For­scher­grup­pe iden­ti­fi­ziert die Ursache

An der Uni­ver­si­tät Bay­reuth hat eine For­schungs­grup­pe um Prof. Dr. Tho­mas Schei­bel am Lehr­stuhl für Bio­ma­te­ria­li­en und Prof. Dr. Cle­mens Steeg­born am Lehr­stuhl für Bio­che­mie einen der Grün­de für die unter­schied­li­che Ela­sti­zi­tät in den Muschel­fä­den ent­deckt. Es war bereits bekannt, dass jeder Byssus­fa­den einer Mies­mu­schel meh­re­re, neben­ein­an­der in Längs­rich­tung ver­lau­fen­de Strän­ge – die soge­nann­ten Fibril­len – ent­hält. Die Fibril­len bestehen aus Pro­te­inen, und zwar aus lan­gen Kol­la­gen­mo­le­kü­len. In ihren win­zi­gen Zwi­schen­räu­men und um die Strän­ge her­um befin­den sich hin­ge­gen ande­re Pro­te­ine. Die­se bil­den eine Matrix, in wel­che die Fibril­len ein­ge­bet­tet sind. Inso­fern han­delt es sich bei den Muschel­fä­den um natür­li­che Kom­po­sit­ma­te­ria­li­en, die eine ähn­li­che Grund­struk­tur haben wie moder­ne Ver­bund­werk­stof­fe mit ihren spe­zi­fi­schen, auf die jewei­li­gen Funk­tio­nen hin zuge­schnit­te­nen Eigenschaften.

Wie die Bay­reu­ther For­scher jetzt her­aus­ge­fun­den haben, ist eine all­mäh­li­che Ände­rung der Bestand­tei­le der Pro­te­in­ma­trix im Ver­lauf des Muschel­fa­dens für die unter­schied­li­che Ela­sti­zi­tät ver­ant­wort­lich. Ein Faden ent­hält in sei­nem äuße­ren Ende nicht die glei­chen Pro­te­ine wie in dem fle­xi­ble­ren, dem Muschel­in­ne­ren näher­ge­le­ge­nen – und des­halb als „pro­xi­mal“ bezeich­ne­ten – Abschnitt. Es gibt sogar ein Pro­te­in, das nur im pro­xi­ma­len Abschnitt ent­hal­ten ist. Und genau die­ses Pro­te­in ist die Ursa­che für die aus­ge­präg­te­re Fle­xi­bi­li­tät die­ses Faden­ab­schnitts. Sei­ne Mole­kü­le sind hier in hoher Zahl als win­zi­ge Abstands­hal­ter zwi­schen den ein­zel­nen Fibril­len ange­ord­net und bil­den so einen wesent­li­chen Bestand­teil der Matrix.

Erst­ma­li­ge Auf­klä­rung der Struk­tur eines Byssus-Pro­te­ins: Dop­pel­te Bin­dung an die Kollagenstränge

In den Bay­reu­ther Labo­ra­to­ri­en wur­de die mole­ku­la­re Struk­tur die­ses Pro­te­ins – des soge­nann­ten „Pro­te­in Thread Matrix Pro­te­in 1 (PTMP1)“ – prä­zi­se bestimmt. „Damit ist es über­haupt zum ersten Mal gelun­gen, die mole­ku­la­re Struk­tur eines Byssus-Pro­te­ins auf­zu­klä­ren“, freut sich Prof. Schei­bel. „Es han­delt sich um eine Struk­tur, die wir in die­ser Form bei Pro­te­inen bis­her noch nicht kann­ten.“, so Prof. Steeg­born. Ein PTMP1-Mole­kül besteht näm­lich aus drei Tei­len: zwei Domä­nen, die ein­zeln genom­men ande­ren Pro­te­inen ähneln, und einem Ver­bin­dungs­stück in der Mit­te, das die­se Domä­nen auf ein­zig­ar­ti­ge Wei­se ver­knüpft. Das Mole­kül fun­giert inner­halb des Muschel­fa­dens genau dadurch als Abstands­hal­ter, dass sei­ne bei­den Domä­nen eine pas­sen­de Längs­aus­rich­tung erhal­ten und an den­sel­ben Kol­la­gen­strang bin­den; ver­mut­lich ähn­lich wie ein Tur­ner mit bei­den Hän­den eine Reck­stan­ge fest umfasst. Vie­le PTMP1-Mole­kü­le, die sich auf die­se Wei­se an die Fibril­len „klam­mern“, sor­gen im pro­xi­ma­len Abschnitt des Muschel­fa­dens für feste Abstän­de zwi­schen den Fibril­len. Sie ver­lei­hen damit dem Faden eine höhe­re Elastizität.

Ela­sti­zi­tät gezielt steu­ern: Span­nen­de Per­spek­ti­ven für neue Biomaterialien

Die bio­tech­no­lo­gi­sche Her­stel­lung der PTMP1-Mole­kü­le eröff­net span­nen­de Per­spek­ti­ven für die Ent­wick­lung neu­ar­ti­ger Bio­ma­te­ria­li­en. In der Chir­ur­gie wer­den bereits heu­te Implan­ta­te ein­ge­setzt, die haupt­säch­lich aus Kol­la­gen bestehen. Es wäre ein ent­schei­den­der Vor­teil für die Pati­en­ten, wenn es mög­lich wäre, in künst­li­che Gelen­ke oder in künst­li­ches Haut­ge­we­be gra­du­el­le Über­gän­ge von ela­sti­sche­ren zu feste­ren Berei­chen ein­zu­bau­en. „Unse­re bis­he­ri­gen For­schungs­er­geb­nis­se haben gezeigt: Bio­tech­no­lo­gisch her­ge­stell­te Mole­kü­le des Byssus-Pro­te­ins eig­nen sich als Abstands­hal­ter, mit denen sich der Ela­sti­zi­täts­grad von Bio­ma­te­ria­li­en gezielt steu­ern lässt“, erklärt Prof. Schei­bel. Und nicht nur für medi­zi­ni­sche Anwen­dun­gen, son­dern bei­spiels­wei­se auch für tech­ni­sche Tex­ti­li­en könn­ten sich die Pro­te­ine der Muschel­fä­den eines Tages als hoch­in­ter­es­san­te Bau­stei­ne erweisen.

Ver­öf­fent­li­chung:

Micha­el H. Suh­re, Mela­nie Gertz, Cle­mens Steeg­born und Tho­mas Scheibel,
Struc­tu­ral and Func­tion­al Fea­tures of a Col­la­gen Bin­ding Matrix Pro­te­in from the Mus­sel Byssus,
Natu­re Com­mu­ni­ca­ti­ons (2014)
DOI: 10.1038/ncomms4392