Uni­ver­si­tät Bay­reuth: „Der Tua­reg-Auf­stand in Westafrika“

Symbolbild Bildung

Eine neue Stu­die aus anthro­po­lo­gi­scher Perspektive

Vor mehr als 20 Jah­ren brach in Mali ein bewaff­ne­ter Kon­flikt zwi­schen den Tua­reg und der Zen­tral­re­gie­rung des west­afri­ka­ni­schen Staa­tes aus, der auch 2013 Schlag­zei­len mach­te. In sei­ner neu­en Mono­gra­phie „Tua­reg-Auf­stand in der Wüste“ ana­ly­siert der Bay­reu­ther Eth­no­lo­ge Georg Klu­te die Ursa­chen, Zie­le, Struk­tu­ren, Abläu­fe und Erschei­nungs­for­men die­ser Aus­ein­an­der­set­zung. Dabei geht es nicht allein um eine Rekon­struk­ti­on poli­ti­scher und mili­tä­ri­scher Ereig­nis­se. Viel­mehr hat der Autor sei­ne Stu­die als „Bei­trag zur Anthro­po­lo­gie der Gewalt und des Krie­ges“ ange­legt, der grund­le­gen­de Fra­gen von Herr­schaft, poli­ti­scher Ord­nung, Krieg und Kon­flikt­re­gu­lie­rung in den Blick nimmt.

Die Unter­su­chung ist aus jahr­zehn­te­lan­gen, weit in die 1990er Jah­re zurück­rei­chen­den For­schungs­ar­bei­ten her­vor­ge­gan­gen. In vie­len mehr­mo­na­ti­gen Feld­for­schun­gen hat Georg Klu­te, Pro­fes­sor für Eth­no­lo­gie Afri­kas an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, zahl­rei­che Akteu­re ken­nen­ge­lernt, die an den bewaff­ne­ten Kon­flik­ten betei­ligt waren; eini­ge von ihnen hat­ten maß­geb­li­che poli­ti­sche oder mili­tä­ri­sche Funk­tio­nen inne. So ent­stand ein Netz­werk ver­trau­ens­vol­ler Kon­tak­te, das auf­schluss­rei­che Beob­ach­tun­gen und Gesprä­che vor Ort ermög­lich­te und die wis­sen­schaft­li­che Arbeit ent­schei­dend förderte.

Von der empi­ri­schen Beob­ach­tung zur theo­re­ti­schen Erschließung

Metho­disch ist die Stu­die einer Her­an­ge­hens­wei­se ver­pflich­tet, die in der Eth­no­lo­gie unter der Bezeich­nung „Dich­te Beschrei­bung“ bekannt ist. Sie zielt in einem ersten Schritt dar­auf ab, Ereig­nis­se und Pro­zes­se prä­zi­se zu beob­ach­ten und so zu beschrei­ben, wie sie von den jewei­li­gen Akteu­ren gedeu­tet wer­den. Dies ver­langt dem Wis­sen­schaft­ler eine aus­ge­präg­te Fähig­keit zur Empa­thie ab. Denn nur so ent­steht eine Dar­stel­lung, die deut­lich macht, wie die han­deln­den Per­so­nen ihre jewei­li­ge Lebens­wirk­lich­keit gedank­lich ord­nen. Die­se Sinn­ge­bun­gen gilt es dann aber in einem wei­te­ren Schritt zu reflek­tie­ren und auf den Begriff zu brin­gen – mit dem Ziel, theo­re­ti­sche Zusam­men­hän­ge und Struk­tur­mo­del­le frei­zu­le­gen, die über die beob­ach­te­ten Pro­zes­se hin­aus­wei­sen und eben dadurch ein ver­tief­tes Ver­ständ­nis ermöglichen.

Ursprün­ge der Tua­reg-Auf­stän­de im ara­bi­schen Exil

Die Auf­stän­de der Tua­reg in Mali und Niger gin­gen von Arbeits­mi­gran­ten und Flücht­lin­gen aus, die Anfang 1990 aus Alge­ri­en und Liby­en in ihre Hei­mat­län­der zurück­kehr­ten. Im Exil hat­ten sie Orga­ni­sa­tio­nen gegrün­det, die eine eigen­stän­di­ge eth­ni­sche Iden­ti­tät der Tua­reg behaup­te­ten und dar­aus die For­de­rung nach exklu­si­ven Min­der­heits­rech­ten ablei­te­ten. Dabei lie­ßen sie sich von der Ideo­lo­gie einer revo­lu­tio­nä­ren, direk­ten Demo­kra­tie beein­flus­sen, die Muammar al-Gad­da­fi pro­pa­giert hat­te, oder von dem Vor­bild einer natio­na­len palä­sti­nen­si­schen „Befrei­ungs­be­we­gung“. Eini­ge von ihnen hat­ten Kampf­erfah­run­gen in der „Isla­mi­schen Legi­on“ gesam­melt, einer von Liby­en geför­der­ten para­mi­li­tä­ri­schen Orga­ni­sa­ti­on. Für die bewaff­ne­ten Auf­stän­de gegen die Zen­tral­re­gio­nen in Mali und Niger schlos­sen sich die Tua­reg in klei­nen beweg­li­chen Grup­pen zusam­men. Sie ent­wickel­ten eine effi­zi­en­te Form des Klein­kriegs, den die Armeen der bei­den Staa­ten bald zu imi­tie­ren versuchten.

„Poe­sie der Revolte“

Unter die­sem Titel hat Klu­te erst­mals neue­re Lie­der und Gedich­te der Tua­reg ins Deut­sche über­tra­gen und in ihrem zeit­li­chen und sach­li­chen Zusam­men­hang unter­sucht. Die Tex­te behan­deln die Lage im Exil, die Gescheh­nis­se wäh­rend der Rebel­li­on sowie die poli­ti­sche Situa­ti­on nach dem Frie­dens­schluss. Bei den Autoren han­delt es sich um Tua­reg aus der nord­ma­li­schen Regi­on Kidal, die im Exil ver­such­ten, ihre Gedan­ken und Emo­tio­nen dich­te­risch zu ver­ar­bei­ten. Damit wur­den sie bald zum Vor­bild für die poe­ti­sche Pro­duk­ti­on in ande­ren Tuar­eg­ge­bie­ten. Ihre münd­lich über­lie­fer­te Dich­tung ist, wie die Stu­die zeigt, ein rei­ner „Bin­nen­dis­kurs“. Sie ist damit viel auf­schluss­rei­cher für das Ver­ständ­nis der bewaff­ne­ten Kon­flik­te als die fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ver­laut­ba­run­gen der Tua­reg gegen­über exter­nen Zielgruppen.

Migra­ti­on: Ori­en­tie­rung an bewähr­ten Formen

Die Migra­ti­ons­be­we­gun­gen der Tua­reg und ihre Erfah­run­gen im Exil bil­den einen wei­te­ren Schwer­punkt des Buches. Der Bay­reu­ther Eth­no­lo­ge betont das „Behar­ren auf bewähr­ten For­men“ und zeigt, dass alte noma­di­sche Wan­de­rungs­mu­ster unge­bro­chen wirk­sam waren, als die Tua­reg in die nörd­li­chen ara­bi­schen Staa­ten auf­bra­chen oder in ihre Hei­mat­län­der zurück­kehr­ten. Das ara­bi­sche Exil erwies sich dabei kei­nes­wegs als ein „Mel­ting pot“, der Her­künf­te aus ver­schie­de­nen Tuar­eg­ge­bie­ten ver­schwim­men ließ. Im Gegen­teil: Die Tua­reg erleb­ten im Exil, dass sie als Bür­ger ihrer jewei­li­gen Her­kunfts­län­der iden­ti­fi­ziert wur­den, und hiel­ten an vor­han­de­nen Abgren­zun­gen fest. Gene­rell weist Klu­te des­halb dar­auf hin, dass die post­ko­lo­nia­len Staa­ten in Afri­ka von den jewei­li­gen Bevöl­ke­run­gen kei­nes­wegs als künst­li­che Gebil­de erlebt wer­den, son­dern bis heu­te einen nicht zu unter­schät­zen­den Anteil an der Her­aus­bil­dung kul­tu­rel­ler und sozia­ler Iden­ti­tä­ten haben.

Krieg und Zeit: Die Tech­nik des Streitwagens

Eine Beson­der­heit der Stu­die sind die Ana­ly­sen zur Krieg­füh­rung der Tua­reg, die von intel­li­gen­ter Fle­xi­bi­li­tät geprägt ist. Schnel­lig­keit und Beweg­lich­keit ver­schaf­fen ihnen im Klein­krieg erheb­li­che Vor­tei­le gegen­über den eher schwer­fäl­lig ope­rie­ren­den Trup­pen der Zen­tral­re­gie­rung. Die Tua­reg nut­zen dabei die Tech­nik des Streit­wa­gens. Sie rüsten zivi­le Fahr­zeu­ge für mili­tä­ri­sche Ein­sät­ze um und suchen mit die­sen wen­di­gen, schnel­len Vehi­keln punk­tu­el­le Nah­kämp­fe, aus denen sie sich eben­so rasch zurück­zie­hen kön­nen. An die­sem Bei­spiel arbei­tet Klu­te her­aus, dass Raum und Zeit kei­ne abso­lut unver­än­der­li­chen „Behäl­ter“ dar­stel­len, son­dern viel­mehr sozia­le und kul­tu­rel­le Kate­go­rien sind. Der fle­xi­ble Umgang mit ihnen begrün­det eine über­le­ge­ne Form der Krieg­füh­rung, wenn dem Geg­ner die­se Wen­dig­keit fehlt.

Unbe­schränk­ter Krieg: Eska­la­ti­on der Gewalt

Eine aus­führ­li­che Betrach­tung gilt der Zeit vom Früh­jahr 1994 bis zur Jah­res­wen­de 1994/95, als in Mali die Gewalt mas­siv eska­lier­te und der Krieg in einem Geno­zid zu enden droh­te. Hat­ten die Rebel­len bis dahin eine gemä­ßig­te Form der Kriegs­füh­rung prak­ti­ziert und ihre Angrif­fe gezielt nur auf bewaff­ne­te Geg­ner gerich­tet, kam es plötz­lich auf bei­den Sei­ten zu einer Ent­gren­zung der Gewalt. Es ent­stand „eine außer­or­dent­lich gro­ße Eigen­dy­na­mik, die alle Kon­flikt­par­tei­en von Rache­zug zu Rache­zug trieb. Es war so, als bestimm­te nicht mehr der Wil­le der Men­schen den Lauf der Ereig­nis­se, son­dern als wäre ihr Han­deln von den Ereig­nis­sen beherrscht, auf die sie immer nur reagier­ten.“ Der Autor dis­ku­tiert ver­schie­de­ne, letzt­lich unbe­frie­di­gen­de Erklä­rungs­an­sät­ze und gibt zu beden­ken: „Es scheint mir, als könn­ten Men­schen der Tat­sa­che nur schwer ins Auge sehen, dass Gewalt kei­ne beson­de­re Ursa­che und kei­nen beson­de­ren Anlass außer­halb ihrer selbst braucht.“

Auf dem Weg zu neu­en For­men staat­li­cher Ordnung

In den 1990er Jah­ren wuchs den Häupt­lin­gen der Tua­reg-Stäm­me im Nor­den Malis eine immer grö­ße­re Bedeu­tung zu. Sie agier­ten oft als Ver­mitt­ler zwi­schen den Rebel­len, die sich gegen ein ‚klein­tei­li­ges’ Stam­mes­den­ken wand­ten und eine ein­heit­li­che Tua­reg-Nati­on for­der­ten, und der Zen­tral­re­gie­rung, die kei­ne ter­ri­to­ria­len Abspal­tun­gen zulas­sen woll­te. Dabei gaben sie Anstö­ße zu Refor­men, die eine stär­ke­re Dezen­tra­li­sie­rung von Ver­wal­tungs­struk­tu­ren för­der­ten. Einen beson­ders inter­es­san­ten Ver­lauf nahm die Ent­wick­lung im Adagh, einem Tuar­eg­ge­biet nord­öst­lich von Tim­buk­tu. Hier hat sich eine Kon­stel­la­ti­on her­aus­ge­bil­det, für die Klu­te den Begriff der „regio­na­len Para­sou­ve­rä­ni­tät“ ein­führt. Die­se ist dadurch gekenn­zeich­net, dass der Zen­tral­staat ein­zel­ne Berei­che sei­ner Sou­ve­rä­ni­tät an ande­re poli­ti­sche Akteu­re – bei­spiels­wei­se einer Grup­pe von Häupt­lin­gen – abtritt. Die­se Abtre­tung bleibt auf eine bestimm­te Regi­on beschränkt, die Teil des Staats­ge­bie­tes bleibt und kei­nes­wegs ganz aus der gege­be­nen poli­ti­schen Ord­nung her­aus­ge­löst wird.

Die Ent­wick­lung in Mali zeigt aus der Sicht des Autors bei­spiel­haft, wie die Schwä­che des Zen­tral­staats eth­ni­schen Grup­pen die Chan­ce bie­ten kann, „eige­ne, in ihrer Tra­di­ti­on begrün­de­te Orga­ni­sa­ti­ons­vor­stel­lun­gen erfolg­reich gegen das staat­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell durch­zu­set­zen.“ So erin­nert ein Blick auf Afri­ka dar­an, dass eine zen­tral­staat­li­che Ord­nung, wie sie in den Län­dern Euro­pas heu­te schein­bar selbst­ver­ständ­lich eta­bliert ist, in Wahr­heit aus lang­wie­ri­gen kon­flikt­rei­chen Pro­zes­sen hervorgeht.

Ver­öf­fent­li­chung:

Georg Klu­te,
Tua­reg-Auf­stand in der Wüste.
Ein Bei­trag zur Anthro­po­lo­gie der Gewalt und des Krieges.
Köln (Rüdi­ger Köp­pe Ver­lag), 2013, 696 S.