Für mehr sozi­al­staat­li­che Umver­tei­lung: Ein brei­ter Kon­sens in Deutschland

Symbolbild Bildung

Rund 30 Pro­zent des Brut­to­in­lands­pro­dukts (BIP) in Deutsch­land flie­ßen der­zeit in die gesetz­li­chen Sozi­al­ver­si­che­run­gen und in sozia­le Trans­fer­lei­stun­gen. Die Bür­ger hal­ten die­sen Anteil jedoch nicht für aus­rei­chend. Sie wün­schen sich eine signi­fi­kan­te Stei­ge­rung der Mit­tel, die durch staat­li­che Umver­tei­lung – also durch Steu­ern und gesetz­lich fest­ge­leg­te Sozi­al­ab­ga­ben – für die Finan­zie­rung des Sozi­al­staats bereit­ge­stellt wer­den. Bei Bezie­hern über­durch­schnitt­lich hoher Ein­kom­men ist die­ser Wunsch sogar beson­ders stark aus­ge­prägt. Zu die­sen Ergeb­nis­sen kommt eine neue, vor kur­zem als Buch ver­öf­fent­lich­te Stu­die von Dr. Chri­sti­an Pfarr an der Uni­ver­si­tät Bayreuth.
Wie den­ken die Bür­ger über sozi­al­staat­li­che Umverteilung?

Eine für Deutsch­land reprä­sen­ta­ti­ve Studie

Die Stu­die ist aus einem von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) geför­der­ten Pro­jekt her­vor­ge­gan­gen, das von Prof. Dr. Vol­ker Ulrich am Lehr­stuhl für Finanz­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bay­reuth gelei­tet wird. Im Rah­men die­ses Pro­jekts woll­te Dr. Chri­sti­an Pfarr erst­mals reprä­sen­ta­tiv für Deutsch­land her­aus­fin­den, ob die Bür­ger den der­zei­ti­gen Umfang sozi­al­staat­li­cher Umver­tei­lung akzep­tie­ren oder eine Ver­än­de­rung des aktu­el­len Zustands wünschen.

Um ein zuver­läs­si­ges und dif­fe­ren­zier­tes Mei­nungs­bild zu gewin­nen, hat sich Pfarr für ein soge­nann­tes „Dis­crete-Choice-Expe­ri­ment“ ent­schie­den. Die­ses wis­sen­schaft­li­che Ver­fah­ren hat sich bereits im Mar­ke­ting sowie in der Transport‑, Umwelt- und Gesund­heits­öko­no­mie eta­bliert und dient dazu, die Vor­lie­ben von Kun­den zu mes­sen. Auf die­ser metho­di­schen Basis hat Pfarr eine Unter­su­chung kon­zi­piert, die im Febru­ar 2012 von der GfK Nürn­berg – dem größ­ten Markt­for­schungs­in­sti­tut in Deutsch­land – durch­ge­führt wur­de. 1.538 Per­so­nen, die für die wahl­be­rech­tig­te Bevöl­ke­rung Deutsch­lands reprä­sen­ta­tiv sind, nah­men an der Befra­gung teil. Mit jeder Per­son wur­de ein com­pu­ter­ge­stütz­tes Ein­zel­in­ter­view geführt, das rund 40 Minu­ten dau­er­te. Dabei soll­ten unter­schied­li­che Sze­na­ri­en sozi­al­staat­li­cher Umver­tei­lung mit­ein­an­der ver­gli­chen und bewer­tet werden.

Von den Bür­gern in Deutsch­land gewünscht: Eine deut­li­che Stei­ge­rung sozi­al­staat­li­cher Umverteilung

Die Unter­su­chung för­der­te ein kla­res Mei­nungs­bild zuta­ge. Poli­ti­sche Pro­gram­me, die nied­ri­ge­re Steu­ern und Sozi­al­ab­ga­ben for­dern und damit einen Abbau sozi­al­staat­li­cher Lei­stun­gen ver­bin­den, fin­den in Deutsch­land kaum Anhän­ger. Im Gegen­teil, die Bür­ger spre­chen sich nahe­zu ein­hel­lig für eine Erhö­hung der Sozi­al­quo­te aus. Aus ihrer Sicht soll­te der Anteil am Brut­to­in­lands­pro­dukt, der für die gesetz­li­chen Sozi­al­ver­si­che­run­gen und für sozia­le Trans­fer­lei­stun­gen auf­ge­wen­det wird, auf min­de­stens 41 Pro­zent stei­gen – was einer Erhö­hung um min­de­stens 11 Pro­zent­punk­te entspräche.

Die­ser brei­te Umver­tei­lungs­kon­sens geht mit der Bereit­schaft ein­her, sich per­sön­lich an den Kosten stei­gen­der Sozi­al­lei­stun­gen zu betei­li­gen. Die deut­schen Bür­ger sind bereit, zusätz­lich rund 0,6 Pro­zent­punk­te ihres Brut­to­ein­kom­mens abzu­ge­ben, wenn dafür die Mit­tel, die in die gesetz­li­chen Sozi­al­ver­si­che­run­gen und in sozia­le Trans­fer­lei­stun­gen flie­ßen, um 1 Pro­zent­punkt stei­gen. „Aller­dings blie­be in die­sem Fall eine Finan­zie­rungs­lücke von rund 700 Mil­lio­nen Euro bestehen“, fügt Pfarr hin­zu. „Wür­de die Sozi­al­quo­te nicht nur um 1 Pro­zent­punkt, son­dern wie gewünscht um min­de­stens 11 Pro­zent­punk­te stei­gen, hät­te dies sogar einen Fehl­be­trag von meh­re­ren Mil­li­ar­den Euro zur Fol­ge – selbst wenn der Staat die Bereit­schaft der Bür­ger zu einer höhe­ren Selbst­be­tei­li­gung voll aus­rei­zen wür­de. Die­ser Fehl­be­trag müss­te ent­we­der durch staat­li­che Neu­ver­schul­dung oder eine stär­ke­re Bela­stung der Unter­neh­men aus­ge­gli­chen wer­den. In bei­den Fäl­len aber wären öko­no­misch schäd­li­che Lang­zeit­fol­gen zu erwarten.“

Von unte­ren Ein­kom­mens­grup­pen zur Mit­tel­schicht: Auf­stiegs­er­fah­run­gen schwä­chen den Wunsch nach mehr Umverteilung

Die Unter­su­chung setzt sich aus­führ­lich mit der Fra­ge aus­ein­an­der, inwie­fern der Wunsch nach einer Aus­wei­tung sozi­al­staat­li­cher Umver­tei­lung vom eige­nen sozia­len Sta­tus abhängt. Auf­fäl­lig ist zunächst, dass eine höhe­re Sozi­al­quo­te quer durch alle Bevöl­ke­rungs- und Ein­kom­mens­grup­pen befür­wor­tet wird. Aller­dings ist die­se Prä­fe­renz unter­schied­lich stark aus­ge­prägt. Ange­hö­ri­ge unte­rer Ein­kom­mens­klas­sen spre­chen sich für eine hohe Stei­ge­rung sozi­al­staat­li­cher Umver­tei­lung aus. Sie las­sen sich dabei von der Erwar­tung lei­ten, der eige­ne sozia­le Sta­tus wer­de sich dadurch ver­bes­sern. Sobald jedoch das eige­ne Ein­kom­men steigt und sich dem Durch­schnitts­ein­kom­men in Deutsch­land annä­hert, wird die For­de­rung nach einer höhe­ren Sozi­al­quo­te schwä­cher. „Dies hängt, wie die Befra­gung gezeigt hat, ins­be­son­de­re mit der Erfah­rung sozia­ler Mobi­li­tät zusam­men“, erläu­tert Pfarr. „Wenn Men­schen erle­ben, dass durch eige­ne Lei­stung ein Auf­stieg aus unte­ren Ein­kom­mens­klas­sen hin zur Mit­tel­schicht mög­lich ist, schwin­det der Wunsch nach einer höhe­ren Sozi­al­quo­te zwar nicht völ­lig; aber die gewünsch­te Stei­ge­rung fällt gerin­ger aus als in den unte­ren Einkommensklassen.“

Hohe Ein­kom­mens­grup­pen: Über­ra­schend star­ke Sym­pa­thien für sozi­al­staat­li­che Umverteilung

Zugleich fällt auf, dass Per­so­nen mit einem über­durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men sich von der Mit­tel­schicht dadurch unter­schei­den, dass sie eine erheb­lich stär­ke­re Erhö­hung sozi­al­staat­li­cher Umver­tei­lung for­dern. Sie sind in grö­ße­rem Umfang als die Mit­tel­schicht bereit, sich an den Kosten stei­gen­der Sozi­al­lei­stun­gen zu betei­li­gen. „Die Unter­su­chung zeigt ein­deu­tig: Es ist es ein Irr­tum, den Ange­hö­ri­gen hoher Ein­kom­mens­klas­sen in Deutsch­land pau­schal zu unter­stel­len, sie wür­den aus ego­isti­schen Moti­ven eine hohe Sozi­al­quo­te und einen lei­stungs­star­ken Sozi­al­staat ableh­nen“, erklärt Pfarr. „Das Gegen­teil ist der Fall. Per­so­nen mit über­durch­schnitt­lich hohen Ein­kom­men haben oft eine aus­ge­spro­chen posi­ti­ve Ein­stel­lung gegen­über sozi­al­staat­li­cher Umverteilung.“

In Deutsch­land weit ver­brei­tet: Die Wahr­neh­mung stei­gen­der sozia­ler Ungleichheit

Die reprä­sen­ta­ti­ve Stu­die erstreckt sich auch auf die Fra­ge, wie die Ent­wick­lung der Ein­kom­men von den Bür­gern in Deutsch­land ein­ge­schätzt wird. Nur rund 1 Pro­zent der Befrag­ten glau­ben, die Ein­kom­men in Deutsch­land hät­ten sich in den letz­ten fünf Jah­ren ange­gli­chen. Hin­ge­gen sind 79 Pro­zent der Befrag­ten der Mei­nung, dass die Ein­kom­mens­un­gleich­heit in Deutsch­land in den ver­gan­ge­nen fünf Jah­ren gestie­gen sei. Die­se in der Bevöl­ke­rung ver­brei­te­te Ein­schät­zung wird, wie Pfarr in sei­ner Unter­su­chung dar­legt, durch die tat­säch­li­che Ent­wick­lung der Markt- und Haus­halts­ein­kom­men gestützt. „Die Wahr­neh­mung stei­gen­der sozia­ler Ungleich­heit trägt ent­schei­dend dazu bei, dass die Men­schen in Deutsch­land star­ke Sym­pa­thien für mehr sozi­al­staat­li­che Umver­tei­lung ent­wickeln“, meint Pfarr.

Poli­ti­sche Kon­se­quen­zen: Eine War­nung vor popu­li­sti­scher Sozialpolitik

Wel­che Schluss­fol­ge­run­gen soll­te die Poli­tik in Deutsch­land aus den Ergeb­nis­sen der Stu­die zie­hen? Der Autor warnt vor einer popu­li­sti­schen Sozi­al­po­li­tik, die den Wün­schen der Bevöl­ke­rung beden­ken­los folgt. Denn eine mas­si­ve Erhö­hung der sozi­al­staat­li­chen Umver­tei­lung kön­ne sich nega­tiv auf die wirt­schaft­li­che Dyna­mik aus­wir­ken und mit­tel­fri­stig dazu füh­ren, dass das Brut­to­in­lands­pro­dukt und auch die Zahl der Arbeits­plät­ze sin­ken. „Die Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­ti­ker in Deutsch­land soll­ten die Bür­ger bes­ser über sol­che Zusam­men­hän­ge auf­klä­ren“, for­dert Pfarr. „Vor allem soll­ten sie der Ver­su­chung wider­ste­hen, das Ange­bot sozi­al­staat­li­cher Lei­stun­gen ohne Rück­sicht auf öko­no­mi­sche Lang­zeit­fol­gen aus­zu­wei­ten, nur um sich beim Wäh­ler beliebt zu machen. Ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te Poli­tik muss die Wün­sche und Erwar­tun­gen der Bevöl­ke­rung ernst neh­men. Aber sie muss im wohl­ver­stan­de­nen Inter­es­se der Bevöl­ke­rung nöti­gen­falls auch bereit sein, popu­lä­ren For­de­run­gen zu widersprechen.“

Ver­öf­fent­li­chung:

Chri­sti­an Pfarr,
Ein­kom­men, Mobi­li­tät und indi­vi­du­el­le Prä­fe­ren­zen für Umverteilung
Ein Discrete-Choice-Experiment
Tübin­gen 2013. XVI, 281 Seiten.

Ansprech­part­ner:

Dr. Chri­sti­an Pfarr
Uni­ver­si­tät Bayreuth
Lehr­stuhl für Finanzwissenschaft
D‑95440 Bayreuth
Tele­fon: +49 (0)921 55 4324
E‑Mail: christian.​pfarr@​uni-​bayreuth.​de