Leser­brief: „Selbst­ju­stiz auf Grund man­geln­der Regelkenntnis“

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Sehr geehr­te Damen und Herren!

Selbst­ju­stiz gegen­über Radfahrer/​inne/​n anläß­lich ver­meint­li­cher Regel­ver­stö­ße der­sel­ben ist lei­der an der Tages­ord­nung. Ins­be­son­de­re die Nicht­be­nut­zung stra­ßen­be­glei­ten­der Rad­we­ge bewegt so manche/​n Automobilisten/​in, maß­re­gelnd tätig zu wer­den – einem Tier ver­gleich­bar, das ener­gisch sein Revier verteidigt.

Der­ar­ti­ges Ver­hal­ten erfüllt min­de­stens den Straf­tat­be­stand der Nöti­gung. Gefähr­li­cher Ein­griff in den Stra­ßen­ver­kehr und ande­res kön­nen hin­zu­kom­men. Dies gilt auch dann, wenn der/​die Radfahrer/​in tat­säch­lich eine Regel­wid­rig­keit begeht.

Doch ist das immer der Fall?

Seit mehr als 15 Jah­ren gilt: Stra­ßen­be­glei­ten­de Rad­we­ge sind nur benut­zungs­pflich­tig, wenn dies durch ein ent­spre­chen­des Ver­kehrs­zei­chen ange­ord­net ist. Pik­to­gram­me auf der Fahr­bahn sind kei­ne Ver­kehrs­zei­chen, selbst, wenn sie die­se dar­stel­len. Ob Radler/​innen nicht benut­zungs­pflich­ti­ge Rad­we­ge oder die par­al­le­le Fahr­bahn wäh­len, bleibt ihnen über­las­sen. Doch die­se Regel, obgleich seit über ein­ein­halb Jahr­zehn­ten gül­tig, ist Autofahrer/​inne/​n oft nicht bekannt – augen­schein­lich nicht ein­mal allen Polizeibeamt/​inn/​en.

Die Rad­weg­be­nut­zungs­pflicht darf nur in begrün­de­ten Aus­nah­me­fäl­len ange­ord­net wer­den. Ele­men­ta­re Vor­aus­set­zung ist, daß „auf Grund der beson­de­ren ört­li­chen Ver­hält­nis­se eine Gefah­ren­la­ge besteht, die das all­ge­mei­ne Risi­ko … erheb­lich über­steigt“ (StVO §45, Abs.9). Tech­ni­sche Regel­wer­ke, so die Richt­li­nie für die Anla­ge von Stadt­stra­ßen (RASt 06) oder die Emp­feh­lun­gen für Rad­ver­kehrs­an­la­gen (ERA 2010), geben Anhalts­punk­te. Erfor­der­lich ist aber immer eine genaue Prü­fung des Ein­zel­falls. Abso­lut wider­sin­nig wird es, wenn ein schlech­ter Rad­weg die Gefahr nicht min­dert, son­dern – was häu­fig der Fall ist – noch erhöht oder gar erst herbeiführt.

Denn auch, wenn eine der­ar­ti­ge Gefah­ren­la­ge nach­weis­lich gege­ben ist, darf die Ver­kehrs­be­hör­de nicht will­kür­lich han­deln. Die All­ge­mei­ne Ver­wal­tungs­vor­schrift zur Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung (VwV-StVO) nennt qua­li­ta­ti­ve Min­dest­an­for­de­run­gen, die zwin­gend ein­zu­hal­ten sind. Für Neu­bau und wesent­li­che Ände­rung gel­ten – auch das gibt die VwV-StVO vor – die wesent­lich stren­ge­ren Kri­te­ri­en der ERA 2010. Neben Anfor­de­run­gen an den Rad­weg selbst sind zudem die Belan­ge des Fuß­ver­kehrs zu berücksichtigen.

Nahe­zu flä­chen­deckend ist jedoch zu beob­ach­ten, daß Ver­kehrs­be­hör­den die­se Vor­ga­ben igno­rie­ren. Stadt und Land­kreis Bam­berg sowie vie­le der kreis­an­ge­hö­ri­gen Kom­mu­nen machen hier kei­ne Aus­nah­me. Doch der Land­kreis ist Mit­glied der Arbeits­ge­mein­schaft fahr­rad­freund­li­cher Kom­mu­nen und hat sich zur – recht­lich ohne­hin gebo­te­nen – Ein­hal­tung der Kri­te­ri­en ver­pflich­tet. Die Stadt Bam­berg war ehr­li­cher: Die Kom­mu­nal­po­li­tik hat das Bei­tritts­be­geh­ren der Stadt­ver­wal­tung ein­mü­tig – vom Ober­bür­ger­mei­ster abge­se­hen – abge­lehnt! Die Mehr­heit scheu­te offen­sicht­lich, sich – wenn­gleich nur ver­bal – auf Ver­bes­se­run­gen für den Rad­ver­kehr fest­zu­le­gen. Eine Min­der­heit erkann­te die Absicht, sich ledig­lich ein wer­be­wirk­sa­mes Aus­hän­ge­schild ver­schaf­fen zu wol­len, ohne wirk­lich im bekun­de­ten Sinn tätig zu wer­den. Und doch: Die Stadt nennt sich selbst „fahr­rad­freund­lich“. Ner­ven muß man haben.

Viel­fach dür­fen Radfahrer/​innen schon froh sein, wenn die ihnen auf­ge­zwun­ge­nen Rad­we­ge und Rad­fahr­strei­fen annä­hernd an die gefor­der­ten Min­dest­ma­ße her­an­rei­chen. Selbst auf wich­ti­gen Haupt­ver­bin­dungs­rou­ten kann hier­von oft kei­ne Rede sein. Wen wun­dert, daß die Anord­nung der Benut­zungs­pflicht – oft im Inter­es­se der eige­nen Sicher­heit – igno­riert wird? Doch es kommt noch besser:

Die in der VwV-StVO genann­ten Min­dest- und Regel­ma­ße gel­ten aus­drück­lich nur für ein­spu­ri­ge Fahr­rä­der. Mehr­spu­ri­ge Räder und Hän­ger­ge­span­ne dür­fen, ist der Weg für sie nicht zumut­bar, die Benut­zungs­pflicht ganz legal igno­rie­ren. Das über­for­dert nahe­zu alle Kraftfahrer/​innen – und dem Anschein nach auch vie­le im Poli­zei­dienst Täti­ge. Eben­so darf neben Rad­we­gen, die zuge­parkt oder mit Hin­der­nis­sen ver­stellt bzw. mit Glas­split­tern oder Schlag­lö­chern über­sät resp. nicht von Schnee und Eis geräumt sind, auf der Fahr­bahn gera­delt wer­den – von allen.

Die in der Anla­ge anony­mi­siert wie­der­ge­ge­be­ne Straf­an­zei­ge gegen einen rabia­ten Auto­fah­rer illu­striert recht gut die bekla­gens­wer­ten Aus­wüch­se: Der Rad­weg ist für das Hän­ger­ge­spann defi­ni­tiv zu schmal, war zudem durch ein gut sicht­ba­res Arbeits­fahr­zeug blockiert. Den­noch glaub­te sich der Kfz-Len­ker beru­fen, einen Bei­na­he­un­fall zu provozieren.

In dem in der Anzei­ge erwähn­ten frü­he­ren Fall erfolg­te ver­gleich­ba­re Nöti­gung – mit Sach­scha­den – neben einem nicht benut­zungs­pflich­ti­gen Rad­weg. Der ermit­teln­de Poli­zei­be­am­te sah sei­ne wich­tig­ste Auf­ga­be in der Ver­mes­sung des Fahr­rad­an­hän­gers. Er hät­te zu prü­fen, ob die Benut­zung des Rad­wegs mög­lich gewe­sen wäre. Den Hin­weis, gemäß StVO sei dies irrele­vant, beant­wor­te­te er: Dies müs­se man schon ihm über­las­sen. Die Staats­an­walt­schaft begrün­de­te die Ein­stel­lung des Ver­fah­rens u. a. mit der aus­drück­lich erwähn­ten Glaub­wür­dig­keit der Auto­fah­re­rin – trotz Schil­de­run­gen, die auf Grund der Ört­lich­keit nicht stim­men konn­ten. Die Gene­ral­staats­an­walt­schaft wei­ger­te sich, dem nach­zu­ge­hen, und ver­wies ohne ein ein­zi­ges Argu­ment der Erwi­de­rung auf den im Detail zer­pflück­ten Ein­stel­lungs­be­scheid der Staats­an­walt­schaft – wohl wis­send, daß der noch ver­blie­be­ne müh­sa­me, zeit­auf­wen­di­ge und kosten­träch­ti­ge Kla­ge­weg, viel­leicht for­ma­les Recht schaf­fend, mit­nich­ten aber Rechts­kon­for­mi­tät und Gerech­tig­keit garan­tie­rend, gescheut wird.

Wen wun­dert, daß der­ar­ti­ges Behör­den­tun die ein­gangs geschil­der­te Selbst­ju­stiz von Autofahrer/​inne/​n gera­de­zu ermu­tigt? Wen wun­dert, daß – sicher nicht der erstre­bens­wer­te Weg – qua­si in Selbst­ver­tei­di­gung immer wie­der Initia­ti­ven von Radfahrer/​inne/​n, aber ana­log auch Fußgänger/​inne/​n (man den­ke an das mas­sen­haft unge­ahn­de­te Falsch­par­ken auf Geh­we­gen) ent­ste­hen, die, am offen­sicht­lich aus­sichts­lo­sen Rechts­weg, am sie im Stich las­sen­den Rechts­staat ver­zwei­felnd, neue Ansät­ze suchen? Denn die eta­blier­ten Ver­bän­de, viel­fach deut­lich sach­kun­di­ger als ihr Gegen­über, bei­ßen sich seit vie­len Jah­ren die Zäh­ne an der stu­ren Ver­wei­ge­rungs­hal­tung der Behör­den aus.

Ist eine sol­che Ent­wick­lung sei­tens Poli­tik, Ver­kehrs- und Ermitt­lungs­be­hör­den gewollt?

Mit freund­li­chen Grüßen
Wolf­gang Bönig
Mar­tin-Ott-Stra­ße 8
96049 Bamberg-Gaustadt

Anhang

Straf­an­zei­ge / Straf­an­trag gegen den Fah­rer des Fahr­zeugs XX-XX xxwe­gen Nöti­gung in Tat­ein­heit mit gefähr­li­chem Ein­griff in den Straßenverkehr

Sehr geehr­te Damen und Herren!

Ich erstat­te Straf­an­zei­ge bzw. stel­le Straf­an­trag gegen den Fah­rer des Fahr­zeugs XX-XX XX, Pkw der Mar­ke (Mar­ke), (Far­be) lackiert, wegen Nöti­gung in Tat­ein­heit mit gefähr­li­chem Ein­griff in den Straßenverkehr.

Tat­her­gang:

Gegen (Zeit) befuhr ich am (Wochen­tag), dem (Datum), mit mei­nem Fahr­rad ein­schließ­lich Anhän­gers die Maga­zin­stra­ße in Bam­berg in Fahrt­rich­tung Otto­kir­che. Hin­ter mir erklang ein erreg­tes Hupen (meh­re­re unter­schied­lich lan­ge Signa­le in dich­ter zeit­li­cher Fol­ge). Unmit­tel­bar anschlie­ßend über­hol­te mich oben bezeich­ne­ter Pkw mit weni­gen Zen­ti­me­tern Sei­ten­ab­stand. Der Fah­rer, allein im Wagen sit­zend, deu­te­te, wild gesti­ku­lie­rend, auf den rechts neben der Fahr­bahn lie­gen­den Rad­weg. Als der Pkw in vol­ler Län­ge an mir vor­bei­ge­fah­ren war, zog er scharf nach rechts vor mein Fahr­rad und ver­rin­ger­te die Geschwin­dig­keit deut­lich. Ich war zu Not­brem­sung und Aus­wei­chen genö­tigt. Der Fah­rer setz­te sei­ne Gesti­ku­la­ti­on fort. Als ich ver­such­te, links neben sein Fahr­zeug zu gelan­gen, um ihn zur Rede zu stel­len, gab er Gas und fuhr davon.

Begrün­dung:

Das Ver­hal­ten des genann­ten Pkw-Fah­rers erfüllt die genann­ten Straf­tat­be­stän­de, ohne daß die wei­te­ren Umstän­de des Vor­falls hier­für rele­vant wären. Eine irgend­wie gear­te­te Pro­vo­ka­ti­on mei­ner­seits konn­te allein des­halb nicht vor­lie­gen, als ich mit dem hin­ter mir ablau­fen­den Ver­kehr kei­ner­lei wei­te­re Berüh­rungs­punk­te gehabt hatte.

Den­noch hal­te ich, nicht zuletzt auf Grund der in einem frü­he­ren Fall sei­tens der Ermitt­lungs­be­hör­den gezeig­ten Vor­ein­ge­nom­men­heit und Par­tei­lich­keit zu Lasten des Fahr­rad­ver­kehrs, die Dar­stel­lung der beglei­ten­den Umstän­de für erfor­der­lich: Der bezeich­ne­te Rad­weg weist an der Ein­mün­dung des Mar­ga­re­ten­damms eine Fahr­weg­brei­te von 1,46 m auf. Sie ist an die­ser Stel­le mit­tels Mar­kie­rung in zwei gegen­läu­fi­ge (ange­ord­ne­te Benut­zungs­pflicht für bei­de Rich­tun­gen) Fahr­spu­ren von 0,66 m und 0,68 m, getrennt durch eine 12 cm brei­te Linie, unter­teilt. Im spä­te­ren Ver­lauf sinkt die Fahr­weg­brei­te auf Grund eines auf dem Weg pla­zier­ten Licht­ma­stes bis auf 0,87 m insgesamt.

Bereits von der Kreu­zung des Stra­ßen­zugs Regens­bur­ger Ring – Maga­zin­stra­ße mit dem Mar­ga­re­ten­damm aus war deut­lich zu erken­nen, daß der Rad­weg zudem durch ein oran­ge­far­be­nes Arbeits­fahr­zeug, gesi­chert durch eine am Fahr­bahn­rand auf­ge­stell­te, rot-weiß schraf­fier­te Warn­ba­ke, blok­kiert gewe­sen war. Der geschil­der­te Vor­fall ereig­ne­te sich weni­ge Meter vor die­sem Fahr­zeug. Der genann­te Rad­weg ent­spricht auf Grund sei­ner Gestal­tung nicht ein­mal den Min­dest­qua­li­täts­kri­te­ri­en der All­ge­mei­nen Ver­wal­tungs­vor­schrift zur Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung (VwV-StVO). Neben wei­te­ren Män­geln beläßt er nicht den zwin­gend erfor­der­li­chen, aus­rei­chen­den Raum für den fuß­läu­fi­gen Ver­kehr. Zudem erlaubt die VwV-StVO für benut­zungs­pflich­ti­ge Zwei­rich­tungs­rad­we­ge kei­ner­lei Aus­nah­me vom Min­dest­maß der lich­ten Wei­te (2,00 m, Regel­maß 2,40 m; Emp­feh­lun­gen für Rad­ver­kehrs­an­la­gen ERA 2010: Regel­maß: 3,00 m, Min­dest­maß: 2,50 m) – anders als bei Ein­rich­tungs­we­gen, bei denen die Aus­nah­me (!) gern und nicht sel­ten ohne Beach­tung der ein­schrän­ken­den Bedin­gun­gen als Regel miß­braucht wird. Die Benut­zungs­pflicht ist daher rechts­wid­rig ange­ord­net. Dies beläßt dem Rad­ver­kehr unver­ständ­li­cher­wei­se nicht das Recht, sie zu igno­rie­ren. Er ist gezwun­gen, das bei Benut­zung ein­tre­ten­de hohe Unfall­ri­si­ko (unüber­sicht­li­che Grund­stücks­zu­fahr­ten, gefähr­li­che Ein­mün­dung, Hin­der­nis­se im Fahr­weg, ris­kan­te Lini­en­füh­rung) in Kauf zu nehmen.

„Die vor­ge­ge­be­nen Maße für die lich­te Brei­te bezie­hen sich auf ein ein­spu­ri­ges Fahr­rad. Ande­re Fahr­rä­der … wie mehr­spu­ri­ge Lasten­fahr­rä­der und Fahr­rä­der mit Anhän­ger wer­den davon nicht erfaßt. Die Füh­rer ande­rer Fahr­rä­der sol­len in der Regel dann, wenn die Benut­zung des Rad­we­ges nach den Umstän­den des Ein­zel­fal­les unzu­mut­bar ist, nicht bean­stan­det wer­den, wenn sie den Rad­weg nicht benut­zen“, führt die VwV-StVO aus. Wenn also der Rad­weg nicht ein­mal die für ein­spu­ri­ge Fahr­rä­der gel­ten­den Maße ein­hält, ist die Benut­zung mit dem knapp 90 cm brei­ten Anhän­ger defi­ni­tiv nicht zuzu­mu­ten. Weder Begeg­nungs- noch Über­hol­ver­kehr wäre mög­lich. Vor­ste­hend genann­te Eng­stel­le hät­te ich ohne ver­bo­te­ne Mit­be­nut­zung des Geh­wegs nicht pas­sie­ren kön­nen. Selbst, wenn der Weg nicht durch das Arbeits­fahr­zeug blockiert gewe­sen wäre, hät­te die Benut­zung der Fahr­bahn nicht bean­stan­det wer­den dür­fen. Unab­hän­gig hier­von, ist das geschil­der­te Ver­hal­ten des Kraft­fah­rers ohne­hin inakzeptabel.

Nicht uner­wähnt blei­ben soll­te die Mit­ver­ant­wor­tung der Stra­ßen­ver­kehrs­be­hör­de. Ihre offen­kun­di­ge Pra­xis, Rad­weg­be­nut­zungs­pflich­ten ohne Beach­tung recht­li­cher und fach­li­cher Vor­ga­ben nach Gut­dün­ken anzu­ord­nen, ermu­tigt so man­chen Möch­te­gern-Hilfs­she­riff, so man­che ver­hin­der­te Hilfs­po­li­zi­stin, eigen­mäch­tig gegen schein­bar unbot­mä­ßi­ge Radler/​innen vor­zu­ge­hen. Daß es hier­bei gewal­tig an Regel­kennt­nis man­gelt, ver­wun­dert weni­ger – mit Blick auf ent­spre­chen­de Defi­zi­te in Behörden.

Mit freund­li­chen Grüßen