Fort­set­zungs­ro­man: “Mamas rosa Schlüp­fer” von Joa­chim Kort­ner, Teil 82

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Das Bein­lei­den mit dem schwar­zen Tuch

Frau Hal­ler erkann­te die Hand­schrift auf dem Brief­um­schlag, ohne noch lan­ge über­le­gen zu müs­sen. Es war eine Anfra­ge die­ses älte­ren Herrn aus Gol­ßen, der sich mit dem Foto­gra­fie­ren von Schul­klas­sen durch­schlug. Dass er vor­ha­be, am näch­sten Sonn­abend zu kom­men, dass jedes Jahr immer neue Schü­ler in der ach­ten Abschluss­klas­se sei­en und man­cher von ihnen sicher froh wäre, von sei­nem letz­ten Schul­jahr eine schö­ne Foto­gra­fie als Andenken für sein spä­te­res Leben zu haben. Auch Foto­gra­fien von ein­zel­nen Schü­lern oder klei­nen Grup­pen sei­en sei­ne Spe­zia­li­tät. Wegen sei­nes Bein­lei­dens sol­le sie doch bit­te zwei wirk­lich zuver­läs­si­ge und auch kräf­ti­ge Acht­kläss­ler zum Tra­gen von Sta­tiv und Kame­ra an den 10-Uhr-Zug schicken.

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Die Wagons waren ruck­ar­tig zum Ste­hen gekom­men. Ein grau­haa­ri­ger Mann han­gel­te sich vor­sich­tig an den Hal­te­grif­fen über die Eisen­git­ter­stu­fen auf den lee­ren Bahn­steig her­ab. Sein gewich­ti­ges Foto­sta­tiv lehn­te noch oben auf der Wagon­platt­form. Flink sprang einer der bei­den Acht­kläss­ler auf und stand im Nu wie­der damit auf dem Boden. In der Zwi­schen­zeit hat­te der ande­re schon brav sei­nen ein­ge­trich­ter­ten Satz heruntergesagt.

„Frau Leh­re­rin Hal­ler schickt uns zum Tragen.“

Nur zögernd über­gab der Foto­graf sei­ne Kame­ra dem ande­ren Jun­gen, wobei er ihn noch zur beson­de­ren Vor­sicht mahn­te, da dies eine ech­te alte Agfa sei. Der schwe­re Appa­rat steck­te in einer selbst genäh­ten Hül­le aus tarn­far­be­nem Zelttuch.

Jetzt sahen die bei­den Hel­fer auch, dass der Foto­graf ein stei­fes Bein hat­te. Er griff sich den Geh­stock, der über dem zusam­men­ge­klapp­ten Sta­tiv hing und ging mit den Jun­gen müh­sam über die Glei­se in Rich­tung der Schu­le. Da er ihre ver­stoh­le­nen Blicke auf sein Knie spür­te, knurr­te er noch:

„Der ver­damm­te Eng­län­der hat mir 18 einen Hei­mat­schuss ins Knie verpasst.“

Dar­auf tru­gen die Jun­gen ihre foto­gra­fi­schen Lasten noch andäch­ti­ger und ver­such­ten, ihr sonst zügi­ges Tem­po dem müh­se­li­gen Gang des alten Man­nes anzu­pas­sen. Die Schu­le kam in Sicht. Von wei­tem erkann­ten sie, dass Frau Hal­ler mit ihren Klas­sen schon auf dem Pau­sen­hof war­te­te. Mäd­chen floch­ten auf­ge­regt das Haar nach und ver­such­ten, ihre kunst­sei­de­nen Schlei­fen zu glät­ten. Jun­gen lie­hen sich gegen­sei­tig ihre Kamm­bruch­stücke aus, um ihrer Fri­sur noch den letz­ten Schliff zu geben. Inzwi­schen hat­te es auch Fräu­lein Grö­ning auf­ge­ge­ben, die ewi­gen Zap­pel­phil­ipps ihrer Grund­schul­ban­de stän­dig zur Auf­merk­sam­keit ermah­nen zu müs­sen und sie ent­ließ ihre Mäd­chen und Jun­gen in eine vor­ge­zo­ge­ne zwei­te Pause.

Mill ver­drück­te sich in dem laut­star­ken Durch­ein­an­der, rann­te die lee­re Dorf­stra­ße ent­lang. Unbe­dingt muss­te er sei­nen Hans holen. Er hoff­te, dass der nicht mit dem Och­sen­wa­gen auf dem Feld war. Sonst hät­te Hans doch den Foto­gra­fen unwei­ger­lich ver­passt und sie wären dann bloß zu zweit auf dem Bild. Keu­chend erreich­te er den Lettau­hof und stieg dann hastig durch die klei­ne Ein­stiegs­lu­ke des gro­ßen Hof­tors. Hans kam gera­de aus dem Stall. Eben war er mit dem Ein­streu­en fer­tig gewor­den und wun­der­te sich, sei­nen klei­nen Bru­der jetzt schon mit­ten in der Unter­richts­zeit auf dem Hof zu sehen.

„Der Foto­graf is da. Los komm!“

Jetzt erin­ner­te sich Hans wie­der, dass sei­ne Mut­ter mit Adel­heid Lettau ver­trau­lich gere­det hat­te. Bit­ter­ernst hat­te sie vor kur­zem zu der jun­gen Bäue­rin gesagt:

„Dann hab ich sie wenigstns noch auf eim Foto.“

Er woll­te sei­ne Mut­ter fra­gen, was sie denn damit meint, aber sie lenk­te kurz ab.

„Wenn der Schul­fo­to­graf kommt, dann lasst ihr drei euch fotografiern.“

Schon seit über einem Jahr war Hans nun kein Volks­schü­ler mehr. Er hät­te sich schreck­lich geniert, zusam­men mit klei­nen Kin­dern an sei­ner ehe­ma­li­gen Schu­le foto­gra­fiert zu wer­den. Des­halb erlö­ste ihn Adel­heids Zuruf, dass der Foto­graf ja auch noch am Nach­mit­tag vor dem Gast­haus ste­hen wird, um dort für Aus­wei­se und Fami­li­en­fe­ste Pri­vat­fo­tos aufzunehmen.

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Vor dem Lokal war­te­ten Mill und Jank auf die­sen denk­wür­di­gen Augen­blick. Zwei Stüh­le waren gera­de aus der Wirt­schaft geholt wor­den. Hans ging ner­vös auf dem Geh­weg hin und her. Hed­wig sag­te, sie soll­ten lächeln, sobald der Mann unter sein schwar­zes Tuch krieche.

Zu die­sem Anlass hat­te Hans sei­nen gan­zen Stolz, die kur­ze, brau­ne Leder­jacke ange­zo­gen. Ande­ren gegen­über hat­te er immer gesagt, es sei sogar eine ech­te Pilo­ten­jacke der Luftwaffe.

Der Foto­graf ließ die Brü­der vor dem weiß-grau­en Putz der Haus­wand neben dem Fen­ster­sims Auf­stel­lung neh­men und bück­te sich unter das schwar­ze Tuch.

Hans hat­te sein Haar geschei­telt und vor­ne mit Was­ser modern aus der Stirn gekämmt. Ange­spannt und ernst blick­te er in das Auge des Apparats.

Sei­ne Brü­der tru­gen schon ihre dicken Win­ter­män­tel mit rie­sen­gro­ßen Knöp­fen aus Horn und Perl­mutt. Wäh­rend Mill bereit­wil­lig der Lächel-Ermah­nung gehorch­te, schien Wolf­gang die­se über­haupt nicht gehört zu haben. Gedan­ken­ver­lo­ren starr­te er ins Objek­tiv. Das Geplap­per und Geki­cher der Umher­ste­hen­den ver­sank in den Ohren der drei Brü­der zu einem wogen­den, weit ent­fern­ten Stimmengewirr.

Der Foto­graf hat­te sein zer­schos­se­nes Bein beim Bücken unter das schwar­ze Tuch von sich weg­ge­streckt. Als er mit der Bril­le auf der Stirn blin­zelnd ins grel­le Tages­licht hoch­tauch­te, zog er es wie­der mit bei­den Hän­den an sich heran.

Erst jetzt ver­schwand das befoh­le­ne Lächeln aus Mills Gesicht, schob Jank sei­ne dün­ne Haar­sträh­ne aus der Stirn, zog Hans den Reiß­ver­schluss sei­ner rech­ten Brust­ta­sche ganz zu.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüp­fer” von Joa­chim Kort­ner, Eber­mann­stadt.