Bay­reu­ther Physiker*innen ent­wickeln lei­stungs­star­ke Alter­na­ti­ve zur dyna­mi­schen Dichtefunktionaltheorie

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Leben­de Orga­nis­men, Öko­sy­ste­me und der Pla­net Erde sind, vom Stand­punkt der Phy­sik betrach­tet, Bei­spie­le für außer­or­dent­lich gro­ße und kom­ple­xe Syste­me, die sich nicht im ther­mi­schen Gleich­ge­wicht befin­den. Um Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­me phy­si­ka­lisch zu beschrei­ben, wird bis­her die dyna­mi­sche Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie ange­wen­det. Die­se Theo­rie hat jedoch Schwä­chen, wie Physiker*innen der Uni­ver­si­tät Bay­reuth jetzt im „Jour­nal of Phy­sics: Con­den­sed Mat­ter“ zei­gen. Als lei­stungs­stär­ker erweist sich die Power­funk­tio­nal­theo­rie: In Kom­bi­na­ti­on mit Metho­den der Künst­li­chen Intel­li­genz ermög­licht sie zuver­läs­si­ge­re Beschrei­bun­gen und Pro­gno­sen der Dyna­mik von Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­men im Zeitverlauf.

Viel­teil­chen­sy­ste­me sind alle Syste­me, die sich aus Ato­men, Elek­tro­nen, Mole­kü­len und ande­ren für das Auge unsicht­ba­ren Teil­chen zusam­men­set­zen. Sie befin­den sich im ther­mi­schen Gleich­ge­wicht, wenn die Tem­pe­ra­tur in ihrem Inne­ren aus­ge­gli­chen ist und kei­ne Wär­me­flüs­se statt­fin­den. Ein System im ther­mi­schen Gleich­ge­wicht ändert sei­nen Zustand nur dann, wenn sich äuße­re Rah­men­be­din­gun­gen ändern. Die Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie ist für die Erfor­schung der­ar­ti­ger Syste­me gera­de­zu maß­ge­schnei­dert. Seit mehr als einem hal­ben Jahr­hun­dert hat sie sich in der Che­mie und der Mate­ri­al­wis­sen­schaft unein­ge­schränkt bewährt: Auf der Grund­la­ge einer lei­stungs­fä­hi­gen klas­si­schen Vari­an­te die­ser Theo­rie kön­nen Zustän­de von Gleich­ge­wichts­sy­ste­men mit hoher Genau­ig­keit beschrie­ben und vor­her­ge­sagt wer­den. Die dyna­mi­sche Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie (DDFT) wei­tet nun den Anwen­dungs­be­reich die­ser Theo­rie auf Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­me aus: Dabei geht es um das phy­si­ka­li­sche Ver­ständ­nis von Syste­men, deren Zustän­de nicht durch ihre äuße­ren Rah­men­be­din­gun­gen fest­ge­legt sind. Die­se Syste­me besit­zen eine Eigen­dy­na­mik: Sie haben die Fähig­keit, ihre Zustän­de aus sich selbst her­aus – ohne dass äuße­re Ein­flüs­se auf sie ein­wir­ken – zu ändern. Erkennt­nis­se und Anwen­dungs­ver­fah­ren der DDFT sind daher bei­spiels­wei­se für die Erfor­schung leben­der Orga­nis­men oder mikro­sko­pi­scher Strö­mun­gen von gro­ßem Interesse.

Das Feh­ler­po­ten­zi­al der dyna­mi­schen Dichtefunktionaltheorie

Die DDFT bedient sich aller­dings einer Hilfs­kon­struk­ti­on, damit Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­me einer phy­si­ka­li­schen Beschrei­bung zugäng­lich wer­den: Sie über­setzt die kon­ti­nu­ier­li­che Dyna­mik die­ser Syste­me in eine zeit­li­che Abfol­ge von Gleich­ge­wichts­zu­stän­den. Dar­aus ergibt sich ein nicht zu unter­schät­zen­des Feh­ler­po­ten­zi­al, wie das Bay­reu­ther Team unter der Lei­tung von Prof. Dr. Mat­thi­as Schmidt in der neu­en Stu­die zeigt. Die Unter­su­chun­gen kon­zen­trier­ten sich auf ein ver­gleichs­wei­se ein­fa­ches Bei­spiel: die gerad­li­ni­ge Strö­mung eines Gases, das in der Phy­sik als „Len­nard-Jones-Flu­id“ bezeich­net wird. Wenn die­ses Nicht­gleich­ge­wichts­sy­stem als eine Ket­te auf­ein­an­der fol­gen­der Gleich­ge­wichts­zu­stän­de inter­pre­tiert wird, dann wird ein Fak­tor ver­nach­läs­sigt, der an der zeit­ab­hän­gi­gen Dyna­mik des Systems mit­be­tei­ligt ist, näm­lich das Strö­mungs­feld. Infol­ge­des­sen lie­fert die DDFT mög­li­cher­wei­se unge­naue Beschrei­bun­gen und Prognosen.

„Wir bestrei­ten nicht, dass die dyna­mi­sche Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie wert­vol­le Erkennt­nis­se und Anre­gun­gen lie­fern kann, wenn sie unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen auf Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­me ange­wen­det wird. Das Pro­blem ist aber, und dar­auf wol­len wir in unse­rer Stu­die am Bei­spiel der Fluid­strö­mung auf­merk­sam machen, dass sich nicht mit hin­rei­chen­der Sicher­heit bestim­men lässt, ob die­se Vor­aus­set­zun­gen im jewei­li­gen Ein­zel­fall gege­ben sind. Die DDFT bie­tet kei­ne Kon­trol­le dar­über, ob die ein­ge­schränk­ten Rah­men­be­din­gun­gen erfüllt sind, unter denen sie zuver­läs­si­ge Berech­nun­gen ermög­licht. Umso mehr lohnt es sich, für das Ver­ständ­nis von Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­men alter­na­ti­ve theo­re­ti­sche Kon­zep­te zu ent­wickeln“, sagt Prof. Dr. Dani­el de las Heras, Erst­au­tor der Studie.

Die Power­funk­tio­nal­theo­rie als lei­stungs­star­ke Alternative

Seit zehn Jah­ren lei­stet das For­schungs­team um Prof. Dr. Mat­thi­as Schmidt wesent­li­che Bei­trä­ge zur Aus­ar­bei­tung einer noch jun­gen phy­si­ka­li­schen Theo­rie, die sich bei der phy­si­ka­li­schen Erfor­schung von Viel­teil­chen­sy­ste­men bis­her als sehr erfolg­reich erwie­sen hat: die Power­funk­tio­nal­theo­rie (PFT). Die Bay­reu­ther Physiker*innen ver­fol­gen dabei das Ziel, die Dyna­mik von Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­men mit der glei­chen Prä­zi­si­on und Ele­ganz beschrei­ben zu kön­nen, mit der die klas­si­sche Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie die Ana­ly­se von Gleich­ge­wichts­sy­ste­men ermög­licht. In ihrer neu­en Stu­die zei­gen sie nun am Bei­spiel der Fluid­strö­mung, dass die Power­funk­tio­nal­theo­rie der DDFT signi­fi­kant über­le­gen ist, wenn es um das Ver­ständ­nis von Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­men geht: Die PFT erlaubt eine Beschrei­bung der Dyna­mik die­ser Syste­me, ohne den Umweg über eine Ket­te zeit­lich auf­ein­an­der fol­gen­der Gleich­ge­wichts­zu­stän­de gehen zu müs­sen. Ent­schei­dend ist dabei der Ein­satz künst­li­cher Intel­li­genz: Maschi­nel­les Ler­nen erschließt das zeit­ab­hän­gi­ge Ver­hal­ten der Fluid­strö­mung, indem alle für die Eigen­dy­na­mik des Systems rele­van­ten Fak­to­ren – ein­schließ­lich des Strö­mungs­felds – ein­be­zo­gen wer­den. Auf die­se Wei­se ist es dem Team sogar gelun­gen, die Strö­mung des Len­nard-Jones-Fluids mit hoher Prä­zi­si­on zu steuern.

„Unse­re Unter­su­chung lie­fert erneut Bele­ge dafür, dass es sich bei der Power­funk­tio­nal­theo­rie um ein sehr viel­ver­spre­chen­des Kon­zept han­delt, mit der sich die Dyna­mik von Viel­teil­chen­sy­ste­men beschrei­ben und erklä­ren lässt. In Bay­reuth wol­len wir die­se Theo­rie in den näch­sten Jah­ren wei­ter aus­ar­bei­ten und dabei auf Nicht­gleich­ge­wichts­sy­ste­me anwen­den, die einen deut­lich höhe­ren Kom­ple­xi­täts­grad haben als die von uns unter­such­te Fluid­strö­mung. Auf die­se Wei­se wird die PFT an die Stel­le der dyna­mi­schen Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie tre­ten kön­nen, deren syste­mi­sche Schwä­chen sie nach unse­ren bis­he­ri­gen Erkennt­nis­sen ver­mei­det. Die ursprüng­li­che, auf Gleich­ge­wichts­sy­ste­me zuge­schnit­te­ne und bewähr­te Dich­te­funk­tio­nal­theo­rie bleibt dabei als theo­re­tisch ele­gan­ter Son­der­fall der PFT erhal­ten“, sagt Prof. Dr. Mat­thi­as Schmidt, Inha­ber des Lehr­stuhls für Theo­re­ti­sche Phy­sik II an der Uni­ver­si­tät Bayreuth.

Ver­öf­fent­li­chung:

Dani­el de las Heras, Toni Zim­mer­mann, Flo­ri­an Sammüller, Sophie Her­mann and Mat­thi­as Schmidt: Per­spec­ti­ve: How to over­co­me dyna­mical den­si­ty func­tion­al theo­ry. Jour­nal of Phy­sics: Con­den­sed Mat­ter (2023), Vol. 35, No. 27, 271501, DOI: https://dx.doi.org/10.1088/1361–648X/accb33