Land­kreis Lich­ten­fels: Gro­ße Trau­er um Inge Stanton

Beim Festakt zur Eröffnung der Ausstellung „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ am Meranier-Gymnasium Lichtenfels übergab Landrat Christian Meißner Inge Stanton (Mitte) die Dokumente, die man ihrem Vater abgenommen hatte. Weiter im Bild links Enkelin Ellie sowie die Töchter Suzanne und Nancy. Foto: Landratsamt Lichtenfels/Heidi Bauer
Beim Festakt zur Eröffnung der Ausstellung „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ am Meranier-Gymnasium Lichtenfels übergab Landrat Christian Meißner Inge Stanton (Mitte) die Dokumente, die man ihrem Vater abgenommen hatte. Weiter im Bild links Enkelin Ellie sowie die Töchter Suzanne und Nancy. Foto: Landratsamt Lichtenfels/Heidi Bauer

„Sie war eine beein­drucken­de Per­sön­lich­keit, die trotz des unfass­ba­ren Unrechts und Leids, das ihr und ihrer Fami­lie wider­fah­ren ist, die Güte hat­te zu ver­zei­hen. Ich bin sehr, sehr dank­bar, dass ich sie im Rah­men des Pro­jekts ‚13 Füh­rer­schei­ne – drei­zehn jüdi­sche Schick­sa­le‘ ken­nen­ler­nen durf­te und dass sie unse­rem Land­kreis die Hand gereicht hat“, so Land­rat Chri­sti­an Meiß­ner anläss­lich des Tods von Inge Stan­ton, gebo­re­ne Marx. Sie ist in der Nacht zum Diens­tag kurz nach ihrem 93. Geburts­tag in den USA verstorben.

Inge Stan­ton stammt ursprüng­lich aus Lich­ten­fels und ist mit ihrer Fami­lie in Fol­ge der NS-Pogro­me und der Ver­fol­gung jüdi­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger wäh­rend des Drit­ten Reichs in die USA aus­ge­wan­dert. Sie ist eine der letz­ten Zeit­zeu­gin­nen der Nazi-Dik­ta­tur in unse­rer Region.

Sie wur­de 1930 in Lich­ten­fels gebo­ren. Ihre Eltern waren der jüdi­sche Kauf­mann Alfred Marx und des­sen Frau Ellen, geb. Bam­ber­ger. Die Fami­lie Marx betrieb ein Han­dels­ge­schäft für Fel­le, Pel­ze und für Metz­ge­rei­be­darf in der sog. Gut­h­mann-Vil­la in der Bam­ber­ger Stra­ße 19.

Inge Stan­ton, die sich bis zuletzt ein glas­kla­res mora­li­sches Urteil bewahrt hat, berich­te­te von schö­nen Aspek­ten ihrer Kind­heit wie auch von zuneh­men­der Dis­kri­mi­nie­rung und Über­grif­fen durch Nazi-Behör­den und Nazi-Anhän­ger. In der Nacht vom 9. auf den 10. Novem­ber 1938 über­fie­len NS-Hor­den das Fami­li­en-Anwe­sen. Die Kin­der muss­ten sich im Dach­bo­den des Hau­ses unter dem Schutz einer nicht­jü­di­schen Mie­ter­fa­mi­lie vor den gewalt­tä­ti­gen, maro­die­ren­den Nazi-Anhän­gern ver­stecken. Inge als älte­ste mit ihren acht Jah­ren muss­te die ande­ren Kin­der ruhig halten.

Es gelang der Fami­lie 1939 aus Deutsch­land zunächst nach Groß­bri­tan­ni­en und im April 1940 in die USA zu flie­hen, wo sie sich unter gro­ßen Mühen eine neue Exi­stenz auf­bau­en konn­ten. Bereits 1994 und 2016 hat­te Inge mit ihrer Fami­lie Lich­ten­fels besucht. Anlass für eine ech­te Heim­kehr war dann das Pro­jekt „13 Füh­rer­schei­ne – drei­zehn jüdi­sche Schick­sa­le“ des Mera­ni­er-Gym­na­si­ums im Jahr 2018, das in enger Zusam­men­ar­beit mit dem Land­rats­amt Lich­ten­fels initi­iert wurde.

Im Rah­men des Pro­jekt-Semi­nars „13 Füh­rer­schei­ne – drei­zehn jüdi­sche Schick­sa­le“ hat­ten sich die Abitu­ri­en­tin­nen und Abitu­ri­en­ten des Jahr­gangs 2018/19 mit Semi­nar­lei­ter Stu­di­en­di­rek­tor Man­fred Brösam­le-Lam­brecht auf Spu­ren­su­che nach den jüdi­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bege­ben, denen wäh­rend des Drit­ten Reichs die Füh­rer­schei­ne abge­nom­men wurden.

Unter den Doku­men­ten, die im Land­rats­amt Licht­gen­fels gefun­den wor­den waren, war auch der Füh­rer­schein von Inges Vater Alfred Marx. Die Schü­le­rin­nen mach­ten die Fami­lie in den USA aus­fin­dig, und Inge Stan­ton half mit einer Fül­le von Mate­ria­li­en und genau­em Erin­ne­rungs­ver­mö­gen bereit­wil­lig bei der Rekon­struk­ti­on der Familiengeschichte.

Im Novem­ber 2018 kam sie, 88 Jah­re alt, mit Fami­li­en­mit­glie­dern zur Aus­stel­lungs­er­öff­nung „13 Füh­rer­schei­ne. Drei­zehn jüdi­sche Schick­sa­le“ und zur Ver­le­gung von Stol­per­stei­nen nach Lich­ten­fels. Sie hielt dort eine beein­drucken­de Rede, in der sie einer­seits das Gesche­he­ne nicht rela­ti­vier­te und ande­rer­seits die Bereit­schaft zu einem Mit­ein­an­der ange­sichts eines gewan­del­ten Deutsch­lands bekun­de­te. Und sie prak­ti­zier­te das auch: Die Ver­bin­dung, ja Freund­schaft mit vie­len Semi­nar­teil­neh­mern und ‑teil­neh­me­rin­nen riss bis zu ihrem Tode nicht ab.

Rachel Schle­sin­ger, Inges Enke­lin, dreh­te einen Kurz­film über Inges ersten Besuch in Lich­ten­fels, der unter https://​vimeo​.com/​1​9​5​9​1​4​950 abruf­bar ist.

„Es war für mich ein äußerst bewe­gen­der Moment, als ich ihr am 5. Novem­ber 2018 den Füh­rer­schein zurück­ge­ben durf­te, der ihrem Vater im Drit­ten Reich abge­nom­men wur­de“, so der Land­rat. „Ich bin sehr glück­lich und unend­lich dank­bar, dass Inge Stan­ton und ihre Fami­lie zu uns gekom­men sind und uns nach all dem, was der Fami­lie Furcht­ba­res wider­fah­ren ist, die Hand der Ver­söh­nung gereicht haben. Ihre Schil­de­run­gen und ihre Erin­ne­run­gen wer­den für uns immer gegen­wär­tig und eine Mah­nung sein, dass so etwas bei uns nie wie­der gesche­hen darf!“, betont Chri­sti­an Meiß­ner. „In die­sen schwe­ren Stun­den des Abschieds sind unse­re Gedan­ken bei ihren Ange­hö­ri­gen, denen ich im Namen des Kreis­tags und der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger des Land­krei­ses Lich­ten­fels unse­re tief­ste Anteil­nah­me über­mit­teln darf.“

Hin­ter­grund zum Pro­jekt „13 Füh­rer­schei­ne – Drei­zehn jüdi­sche Schicksale“:
2017 war im Land­rats­amt Lich­ten­fels im Rah­men der Digi­ta­li­sie­rung der Ver­wal­tung ein alter Umschlag gefun­den wor­den. In ihm befan­den sich Füh­rer­schei­ne, die man 1938 im Zustän­dig­keits­be­reich des Bezirks­am­tes Lich­ten­fels drei­zehn jüdi­schen Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­gern abge­nom­men hatte—teils bei deren Emi­gra­ti­on, teils im Zusam­men­hang mit den Novemberpogromen.

Land­rat Chri­sti­an Meiß­ner reg­te an, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler anhand der Papie­re ein Stück Lokal­ge­schich­te auf­ar­bei­ten. Das Pro­jekt­se­mi­nar zur Stu­di­en­ori­en­tie­rung 2pg des Mera­ni­er-Gym­na­si­ums Lich­ten­fels (MGL) begab sich 2018/2019 unter der Lei­tung von Stu­di­en­di­rek­tor Man­fred Brösa­mIe-Lam­brecht auf Spurensuche.

Was die Abitu­ri­en­tin­nen und Abitu­ri­en­ten in auf­wän­di­ger Recher­che her­aus­ge­fun­den haben, geht unter die Haut. Die jun­gen Leu­te haben es geschafft, die Schick­sa­le der ein­sti­gen Füh­rer­schein­in­ha­be­rin­nen und
‑inha­ber zu rekon­stru­ie­ren. Sie haben den Namen jeweils ein Gesicht zurück­ge­ge­ben. Fünf der Füh­rer­schein-lnha­ber wur­den ermor­det, acht konn­ten noch recht­zei­tig ins Aus­land flie­hen. Ihre Nach­kom­men haben die Gym­na­sia­stin­nen und Gym­na­sia­sten in Nord- und Süd­ame­ri­ka sowie in Isra­el gefun­den. Eine die­ser Nach­kom­men war Inge Stanton.

Die ein­zel­nen Schick­sa­le der Füh­rer­schein­in­ha­be­rin­nen und ‑inha­ber doku­men­tiert die Aus­stel­lung „13 Füh­rer­schei­ne – drei­zehn jüdi­sche Schick­sa­le“. Sie war inzwi­schen natio­nal und inter­na­tio­nal zu sehen – unter ande­rem im deut­schen Gene­ral­kon­su­lat und im Muse­um of Jewish Heri­ta­ge in New York –und wur­de mit einer Viel­zahl von Prei­sen aus­ge­zeich­net. Inzwi­schen ist ein Doku­men­tar­film über das Pro­jekt entstanden.