Zet­tels Refle­xio­nen: Auf­bruch in die Freiheit

Peter Zettel
Peter Zettel

H. G. Wells hat das in sei­ner Erzäh­lung „Im Land der Blin­den“ sehr gut beschrie­ben. Der Unter­schied zu unse­rer Zeit ist, dass wir nicht blind sind, son­dern nur die Augen auf­ma­chen müss­ten. Oder, anders aus­ge­drückt, nicht alles durch den Fil­ter unzu­tref­fen­der Annah­men und vor allem nicht durch den Fil­ter der Selbst­be­zo­gen­heit zu sehen.

Ich defi­nie­re Frei­heit als die Frei­heit von unzu­tref­fen­den Annah­men, irri­gen Sicht­wei­sen und nicht stim­mi­gen Über­zeu­gun­gen über die Wirk­lich­keit. Wenn Witt­gen­stein als Ziel sei­ner Phi­lo­so­phie angibt, der Flie­ge den Aus­weg aus dem Flie­gen­glas zu zei­gen, so meint er damit, die ewi­gen Pro­ble­me einer über­kom­me­nen Phi­lo­so­phie als Scheinfra­gen und Sprach­ver­wir­run­gen zu entlarven.

Ich möch­te die­sen Gedan­ken wei­ter­spin­nen und die übli­chen, kon­ven­ti­ons­ge­präg­ten Gesprä­che mit­ein­be­zie­hen, die von Schein­the­men und Selbst­be­zo­gen­heit geprägt sind. Die Fra­ge ist, wie fin­den ich da heraus?

Für mich ist die Fel­den­krais-Metho­de der pas­sen­de Weg, über­tra­gen auf mein Den­ken. Denn Fel­den­krais hat ein „Pro­blem“ in der Bewe­gungs­fä­hig­keit nicht als sol­ches ange­se­hen, son­dern als einen Pro­zess, der nur stim­mig ange­wen­det wer­den muss, um sich wie­der gut bewe­gen zu kön­nen. Er nann­te es „Bewusst­heit durch Bewe­gung“. Habe ich die Bewusst­heit für mein Den­ken, pas­siert das Glei­che wie bei der Bewe­gung – habe ich ein­mal die Bewusst­heit über einen Pro­zess erlangt, wer­de ich – und nicht etwa kann ich! – ihn zukünf­tig stim­mig anwenden.

Hier pas­siert das Glei­che wie in der kogni­ti­ven Defu­si­on. Bin ich ich dazu bereit (nicht dass ich das nicht könn­te, denn das zu kön­nen ist eine Fähig­kei­ten, die jeder Mensch hat, des­sen sich nur vie­le nicht bewusst sind) wird sich augen­blick­lich inne­re Ruhe ein­stel­len. So wie ich auf der kör­per­li­chen Ebe­ne Bewusst­heit durch Bewe­gung erlan­ge, erlan­ge ich sie auf der men­ta­len Ebe­ne durch den Dia­log. Aber nicht den Pseu­do-Dia­log, den wir aus Talk-Shows kennen.

Gehe ich die­sen Weg, dann öff­net sich mir eine Dimen­si­on des Den­kens, die wir im Flow erfah­ren kön­nen – aber nicht nur da. Der Begriff Den­ken durch Nicht­Den­ken umschreib es sehr gut. Das Ein­zi­ge, was es braucht, ist die Her­aus­for­de­rung – eben im Den­ken durch Nicht­Den­ken. Die Her­aus­for­de­rung besteht dar­in, das, was ist oder was ein ande­rer sagt, erst ein­mal ohne Bewer­tung und Beur­tei­lung zur Kennt­nis zu neh­men. Das geht auch ohne Anstrengung.

Nur bedeu­tet es, mich über mei­ne Kom­fort­zo­ne hin­aus­zu­be­we­gen, sonst ent­ste­hen dort Ver­mei­dungs­re­ak­tio­nen. Wenn ich nega­ti­ve Gefüh­le aus­blen­de, ver­lie­re ich mit der Zeit auch die Fähig­keit, posi­ti­ve Gefüh­le zu emp­fin­den. Leug­ne ich das, wor­un­ter ich lei­de, schot­te ich mich von der Weis­heit ab, die es mir zu bie­ten hat.

Wie schäd­lich Ver­mei­dungs­ver­hal­ten sein kann, ver­an­schau­licht die Treib­sand­me­ta­pher: Wer in Treib­sand gerät, zieht instink­tiv ein Bein aus dem Sand und will einen Schritt vor­wärts machen. Doch da sich so sein Gewicht kurz­zei­tig auf nur einen Fuß kon­zen­triert, ver­sinkt er noch tie­fer. Statt­des­sen soll­te er sich flach auf den Boden legen und in Rich­tung Rand robben.

Die Moral der Geschich­te: Manch­mal hilft es, die Kon­takt­flä­che zu einer Gefahr zu ver­grö­ßern, statt sei­nem spon­ta­nen Impuls nach­zu­ge­ben und sie zu ver­klei­nern. Das gilt eben auch für nega­ti­ve Emo­tio­nen wie Angst oder Trau­er. Um sich ihnen aus­zu­set­zen und aus ihnen zu ler­nen, soll­te ich sie zunächst ein­fach ein­mal akzep­tie­ren, denn nur dann kann ich sie über­haupt klären.

Daher brau­che ich Bewusst­heit, um mei­ne eige­fah­re­nen Wahr­neh­mungs­mu­ster zu erken­nen – in der kör­per­li­chen wie in der men­ta­len Bewe­gung. Sind mir die­se Muster bewusst, kann ich sie anders organisieren.


Peter Zet­tel

ist pen­sio­nier­ter Anwalt. Seit ein paar Jah­ren ist er begei­ster­ter Motor­rad­fah­rer – sein per­sön­li­cher Weg der Selbst­er­kennt­nis. Er inter­es­siert sich für das, was die Welt bewegt und schreibt dar­über in sei­nem Blog zet​tel​.biz.

Alle bis­her im Wie­sent­bo­ten erschie­nen „Zet­tels Refle­xio­nen