Bam­ber­ger LIf­Bi-Insti­tut zur Bil­dungs­in­te­gra­ti­on geflüch­te­ter Jugendlicher

LIfBI-Institut am Wilhelmsplatz. © LIfBi
LIfBI-Institut am Wilhelmsplatz. © LIfBi

Es kommt dar­auf an, wo man wohnt

Wie geflüch­te­te Jugend­li­che im deut­schen Bil­dungs­sy­stem ankom­men, hängt im föde­ra­len Schul­sy­stem stark davon ab, in wel­chem Bun­des­land sie leben. In einer neu­en Stu­die zei­gen For­schen­de des Leib­niz-Insti­tuts für Bil­dungs­ver­läu­fe (LIf­Bi) und der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg (MLU) den Ein­fluss der Bil­dungs­po­li­tik von Bun­des­län­dern auf den Schul­ein­tritt von geflüch­te­ten Jugend­li­chen. Die unter­such­ten Geflüch­te­ten war­te­ten dem­nach oft­mals lan­ge auf den Schul­start, wur­den zunächst häu­fig in Neu­zu­ge­wan­der­ten­klas­sen ein­ge­schult und besuch­ten ver­gleichs­wei­se häu­fig nied­ri­ge­re Schul­for­men. Auf­grund der oft gerin­gen Durch­läs­sig­keit des deut­schen Schul­sy­stems sind ihnen dadurch zum Teil schon früh im Inte­gra­ti­ons­pro­zess Gren­zen für ihren wei­te­ren Bil­dungs­ver­lauf gesetzt.

Schnel­le Ein­schu­lung oder eine län­ge­re War­te­zeit, gemein­sa­mer Schul­be­such mit ein­hei­mi­schen Jugend­li­chen oder geson­der­te Neu­zu­ge­wan­der­ten­klas­sen – je nach Bun­des­land gibt es für Jugend­li­che, die nach ihrer Flucht in Deutsch­land ankom­men, ganz unter­schied­li­che Vari­an­ten zur Inte­gra­ti­on ins Bil­dungs­sy­stem, jeweils mit spe­zi­fi­schen Vor‑, aber auch Nach­tei­len. Wie sich die unter­schied­li­chen Bil­dungs­po­li­ti­ken in fünf Bun­des­län­dern auf den Schul­start von 2.415 geflüch­te­ten 14- bis 16-jäh­ri­gen Jugend­li­chen, die zwi­schen 2014 und 2018 in Deutsch­land ange­kom­men sind, aus­ge­wirkt haben, unter­such­ten For­schen­de des LIf­Bi und der MLU anhand von Daten der BMBF-geför­der­ten Geflüch­te­ten­stu­die ReGES (Refu­gees in the Ger­man Edu­ca­tio­nal System).

Lan­ge Wartezeit

Die ReGES-Daten zei­gen, dass die geflüch­te­ten Jugend­li­chen nach ihrer Ankunft im Durch­schnitt sie­ben Mona­te war­ten muss­ten, bis für sie die Schu­le begann. In der vor­lie­gen­den Stu­die wur­den nun Fak­to­ren unter­sucht, die mit der War­te­dau­er zusam­men­hän­gen: Kamen die Jugend­li­chen mit ihren Fami­li­en in Bun­des­län­dern an, die eine zeit­li­che Begren­zung bis zum Ein­set­zen der Schul­pflicht vor­schrei­ben, wur­den sie bis zu zwei Mona­te schnel­ler ein­ge­schult als in Bun­des­län­dern, in denen Geflüch­te­te solan­ge auf die Ein­schu­lung war­ten müs­sen, bis sie einer Kom­mu­ne zuge­wie­sen wer­den. „Die ReGES-Daten zei­gen unter ande­rem, dass die Schul­lauf­bahn der befrag­ten Jugend­li­chen auf­grund der Flucht und im Zuge des Ankom­mens in Deutsch­land ins­ge­samt durch­schnitt­lich län­ger als ein Jahr unter­bro­chen war“, so Dr. Gise­la Will, Pro­jekt­ko­or­di­na­to­rin der Geflüch­te­ten­stu­die am LIf­Bi und Haupt­au­to­rin des Arti­kels. Sie betont, dass man mög­li­che Häu­fun­gen der Risi­ken in den Bil­dungs­we­gen geflüch­te­ter Jugend­li­cher im Blick behal­ten müsse.

Ver­bleib an der Hauptschule

Mit extra ein­ge­rich­te­ten Will­kom­mens- oder Neu­zu­ge­wan­der­ten­klas­sen soll­te den Jugend­li­chen der Ein­stieg in die Schu­le erleich­tert wer­den. Aller­dings wur­den die­se Klas­sen in ein­zel­nen Bun­des­län­dern vor­nehm­lich an Haupt­schu­len oder nied­ri­ge­ren Schul­for­men ein­ge­rich­tet. Die Ergeb­nis­se der vor­lie­gen­den Stu­die legen nahe, dass in die­sen Bun­des­län­dern die geflüch­te­ten Schü­le­rin­nen und Schü­ler beim Wech­sel in eine Regel­klas­se ihre Schul­lauf­bahn oft­mals in der glei­chen Schul­form fort­set­zen und sel­te­ner Regel­klas­sen höhe­rer Schul­for­men besu­chen. „Geflüch­te­ten Jugend­li­chen scheint der Wech­sel in eine höhe­re Schul­form in die­sen Bun­des­län­dern nur schwer zu gelin­gen“, fasst Dr. Oli­ver Wink­ler von der MLU den Befund zusammen.

Unter Jün­ge­ren

Aus der ReGES-Stu­die geht her­vor, dass Geflüch­te­te häu­fig nicht alters­ge­recht ein­ge­schult wur­den. Oft­mals lern­ten sie zusam­men mit deut­lich jün­ge­ren Mit­schü­le­rin­nen und ‑schü­lern. Die aktu­el­le Ana­ly­se zeigt, dass dies meist in jenen Bun­des­län­dern der Fall war, in denen die Geflüch­te­ten nicht mög­lichst schnell in eine kon­kre­te Klas­sen­stu­fe ein­ge­schult wer­den sol­len, son­dern dies zu einem spä­te­ren Zeit­punkt geschieht, wenn etwa detail­lier­te Mes­sun­gen der Lei­stungs­stän­de der Jugend­li­chen vor­lie­gen. Neben den Aus­wir­kun­gen auf das Klas­sen­ge­fü­ge, in dem durch die­se Pra­xis Jugend­li­che ver­schie­de­ner Alters­grup­pen auf­ein­an­der­tref­fen, hat dies auch für die Geflüch­te­ten selbst Vor- und Nach­tei­le, so die For­schen­den. Auf der einen Sei­te haben älte­re Geflüch­te­te mehr Zeit, um Deutsch zu ler­nen, bevor die Schul­zeit für sie for­mal endet. Auf der ande­ren Sei­te füh­len sich älte­re Geflüch­te­te viel­leicht weni­ger ver­bun­den mit der Schu­le, weil sie sich schon viel stär­ker in Rich­tung Beruf ori­en­tie­ren. Und das wie­der­um kann sich ungün­stig auf das Ler­nen auswirken.

Die Bil­dungs­po­li­tik bestimmt den Weg

Ins­ge­samt zei­gen die ReGES-Daten deut­lich, dass die Bil­dungs­ver­läu­fe der geflüch­te­ten Jugend­li­chen in Deutsch­land stark mit den poli­ti­schen Vor­ga­ben in den Ankunfts­bun­des­län­dern zusam­men­hän­gen. Fami­liä­re und indi­vi­du­el­le Merk­ma­le der Jugend­li­chen, wie zum Bei­spiel der Bil­dungs­sta­tus ihrer Eltern, bil­den hin­ge­gen kein ech­tes Gegen­ge­wicht zum Ein­fluss der gesetz­li­chen Vor­ga­ben. Ledig­lich bei der besuch­ten Schul­form spie­len die Bil­dung der Eltern und die frü­he­ren Schul­lei­stun­gen der Jugend­li­chen eine etwas bedeut­sa­me­re Rolle.

„Geflüch­te­te Schü­le­rin­nen und Schü­ler sowie ihre Eltern haben nur begrenz­te Hand­lungs­mög­lich­kei­ten im Hin­blick auf die Bil­dungs­be­tei­li­gung. Die Zuwei­sung zu einem Bun­des­land ent­schei­det maß­geb­lich über die War­te­zeit bis zur Ein­schu­lung, ob man alters­ge­recht ein­ge­stuft wird und ob man eine Will­kom­mens­klas­se besucht. Die zum Teil ein­ge­schränk­te Durch­läs­sig­keit im deut­schen Bil­dungs­sy­stem kann die Chan­cen von Geflüch­te­ten wei­ter min­dern, eine höhe­re Schul­form zu besu­chen, an der direkt Bil­dungs­ab­schlüs­se wie das Abitur oder die Mitt­le­re Rei­fe erlangt wer­den kön­nen“, zieht Dr. Regi­na Becker, Co-Autorin der Ver­öf­fent­li­chung, das Fazit der Auswertung.

Ori­gi­nal­pu­bli­ka­ti­on:

Will, G.; Becker, R.; & Wink­ler, O. (2022): Edu­ca­tio­nal Poli­ci­es Mat­ter: How Schoo­ling Stra­te­gies Influence Refu­gee Ado­le­s­cents’ School Par­ti­ci­pa­ti­on in Lower Secon­da­ry Edu­ca­ti­on in Ger­ma­ny. Fron­tiers in Socio­lo­gy 7:842543. https://​doi​.org/​1​0​.​3​3​8​9​/​f​s​o​c​.​2​0​2​2​.​8​4​2​543


Über das Leib­niz-Insti­tut für Bil­dungs­ver­läu­fe (LIf­Bi)

Das Leib­niz-Insti­tut für Bil­dungs­ver­läu­fe (LIf­Bi unter­sucht Bil­dungs­pro­zes­se von der Geburt bis ins hohe Erwach­se­nen­al­ter. Um die bil­dungs­wis­sen­schaft­li­che Längs­schnitt­for­schung in Deutsch­land zu för­dern, stellt das LIf­Bi grund­le­gen­de, über­re­gio­nal und inter­na­tio­nal bedeut­sa­me, for­schungs­ba­sier­te Infra­struk­tu­ren für die empi­ri­sche Bil­dungs­for­schung zur Verfügung.

Kern des Insti­tuts ist das Natio­na­le Bil­dungs­pa­nel (NEPS), das am LIf­Bi behei­ma­tet ist und die Exper­ti­se eines deutsch­land­wei­ten, inter­dis­zi­pli­nä­ren Exzel­lenz­netz­werks ver­eint. Wei­te­re Groß­pro­jek­te, an denen das LIf­Bi betei­ligt oder füh­rend ist, sind die Geflüch­te­ten­stu­di­en ReGES und „Bil­dungs­we­ge von geflüch­te­ten Kin­dern und Jugend­li­chen“, die Stu­die DaLi zu digi­ta­len und daten­be­zo­ge­nen Kom­pe­ten­zen der deut­schen Bevöl­ke­rung oder das schul­be­zo­ge­ne Inklu­si­ons­pro­jekt INSIDE.

Grund­la­ge dafür sind die eige­nen For­schungs- und Ent­wick­lungs­ar­bei­ten, ins­be­son­de­re die fun­dier­te Instru­men­ten- und Metho­den­ent­wick­lung für längs­schnitt­li­che Bil­dungs­stu­di­en, von der auch ande­re Infra­struk­tur­ein­rich­tun­gen und ‑pro­jek­te profitieren.