Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 76

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

OH HAPPY DAY

Eigentlich wollte er die Schule schwänzen. Mit ihr am Bahnhof sein. Eilzug Richtung Nürnberg zehn Uhr drei. Koffer tragen und Nachwinken. Aber sie hat gesagt, dass sie von den Eltern zum Bahnhof gebracht wird. Was sollte er da noch?

So sitzt er im Klassenzimmer. Noch zwei Wochen bis zum Abi. Analytische Geometrie und Infinitesimalrechnung wie hinter einer Glaswand.

T.S. Elliot The Unity of European Culture. Die Kinokarte liegt in der Englischlektüre. Heiliges Lesezeichen.

Wie das Individuum gegen die Masse geschützt werden muss. Irgendein Spruch von Karl Jaspers. Die Diskussion schwebt über ihn hinweg.

Am Nachmittag im Hofgarten. Den Weg abgehen, den sie erst gestern vor dem Kino gegangen sind. Durch die Zweige auf das elegante Bürgerhaus mit den Türmchen spähen. Er flüstert Veronika. Wahrscheinlich wird jetzt gerade ihr Rheumaknie geröntgt.

Bei der Nachmittagspost muss der Brief dabei sein. Nichts. Vielleicht haben die Eltern ihn schon in Erlangen abgefangen.

Vielleicht ist er denen nicht gut genug. Einer von da oben am Berg aus dem sozialen Wohnungsbau. Sankt Josephstiftung – das klingt aber auch richtig ärmlich. Vielleicht haben sich ihre Eltern für sie einen Medizinstudenten ausgedacht. So einer mit einem goldbestickten Käppi, wie sie jedes Jahr zum Pfingstkongress in die Stadt kommen.

Nach einer Woche endlich eine Postkarte. Sie ist operiert worden, muss noch länger in der Klinik bleiben. Es geht ihr nicht besonders gut. Besuchen soll er sie. Und seinen Bruder soll er auch mitbringen. Oh Happy Day wünscht sie sich von ihnen.

Gitarren nicht vergessen, hat sie noch ganz klein darunter gequetscht. Mit drei Ausrufezeichen.

*

Die Gitarren im Futteral über den Köpfen auf der Gepäckablage.

Das wird Meniskus oder so was sein, sagt Jakob. Und dass er nicht weiß, ob es Meniskus oder Miniskus heißt. Irgend so ein Knorpel im Kniegelenk. Mindestens vierzehn Tage wird sie auf Krücken gehen müssen. Und wenn er sie küssen will, dann müsste sie beim Umarmen die Krücken loslassen und beide würden sie umfallen. Sie lachen kurz.

*

Dieser Scheiß Krankenhausmief. Sogar hier im Lift. Die Schwester blickt auf die Gitarren. Die sollten sie doch besser draußen im Gang lassen. Hier komme nichts weg. Sie fügen sich. Jakob drückt die Klinke.

Ein Einzelzimmer. Den Kopfteil der Matratze haben sie der Botticelli hochgestellt. Ihr dunkelbraunes Haar hat sie sich auf beiden Seiten mit Zopfgummis zusammengefasst. Sie wendet sich den Brüdern zu, stützt sich auf die Ellenbogen hoch und lächelt matt.

Ich hab ein Sarkom gehabt.

Das fremde, nie gehörte Wort fliegt ihnen entgegen. Bestimmt so etwas wie ein Meniskus oder Miniskus. Andi gibt ihr förmlich die Hand. Veronika, seine Traumfrau ohne ihre schwarzen Pumps mit den hohen Absätzen, ohne den Hauch von himbeerrosa Lippenstift. Hier in diesem chloroformigen Dunst. Gerne würde er jetzt den Hals seiner Gitarre in der Hand halten. Er wüsste, was er zu tun hätte. Den Satz der neuen Saiten nachziehen, die sich immer so schrecklich schnell verstimmen, wenn sie frisch aufgezogen sind.

Die Bettdecke ist auf Hüfthöhe wie ein kleines Zelt aufgespannt.

Die haben mir ein Bein abgenommen.

Sie hebt das Federbett an. Zeigt das vanillegelbe Baby-DollHöschen, aus dem ihr Oberschenkelstumpf hervorschaut. Verbandsmull. Am Stumpfende mit Leukoplaststreifen fixiert. Das nässt gelblich durch. Andi steht betäubt und ist froh, dass sein Bruder ihr schon grausame Fragen stellt.

Wie das noch mal heißt, was sie hat. Ob das jetzt noch weh tut.

Wann sie ein Holzbein kriegt. Er merkt, dass sie nicht davor zurück schreckt, ihr das gefällt. Das Geheule der Verwandtschaft hat sie schon durchgemacht. Und ihr eigenes. Nur mit solchen unbarmherzigen Fragen versucht auch Jakob, sein Grausen zu unterdrücken. Ausgerechnet seine Botticelli, die in der Muschelschale steht.

Er soll ihr jetzt das kleine Holzgestell vom Bett wegnehmen.

Sie schlägt ihr Deckbett ganz auf. Es ist Hochsommer. Ihr gesundes Bein. Glatt, lang und schlank. Sie lächelt, deutet auf ihre fünf rot lackierten Zehennägel.

Hat mir die Schwester gemacht. Ist doch süß? Sie nicken brav. Sagen hm. Jakob verschweigt einen unaussprechbaren Gedanken. Was die mit ihrem abgesägten Bein gemacht haben.

Schade, dass ihr die Gitarren nicht dabei habt.

Andi ist erlöst, geht hinaus und kommt mit den Instrumenten herein. Die Botticelli weint kurz, wischt die Augen mit dem Kopfkissen und stemmt sich mit den Fäusten ganz aufrecht. Jakob hat noch die alten Saiten drauf, gibt dem Bruder die sechs Töne zum Nachstimmen. Der nimmt sein Plektrum aus dem Mund und fängt mit der Bassformel an. Jakob fällt mit aufgelösten Akkorden ein. Er ist stolz, dass seine Stimme schon so männlich klingt.

The sun is shining. Oh happy day.

No more troubles and no skies of grey.

Oh happy day. Oh lucky me.

Das Zwischenspiel mit der Bassmelodie, die sie so mag. Jakob blickt zum Bett. Die Botticelli sitzt aufrecht, stemmt sich immer noch mit den Fäusten auf der Matratze ab. Wieder neigt sie den Kopf genauso nachdenklich oder traurig, wie auf dem Bild.

You said you loved me. I know it’s true.

My life’s complete, dear. For now I have you.

Oh happy day. Oh lucky me.

Jakob denkt beim Singen nicht an Liebe. Er will nur, dass seine Stimme der Botticelli gefällt. Und dass seine Aussprache richtig amerikanisch klingt. Außerdem ist sie die Freundin seines Bruders. Sie wollen nach Oh happy day keine Lücke aufkommen lassen und singen Rock around the clock. Den Bill Haley kann er ziemlich gut. Das hat ihm sogar der Jim Arnold bestätigt.

Und der ist ein echter Ami.

Die Schwester kommt herein, schüttelt den Kopf. Aber sie lächelt. Ihre Klampfen sollten sie jetzt einpacken. Chefarztvisite.

Sie entdeckt das Gestell unter dem Bett, holt es hervor, baut es über dem Schenkelstumpf auf und legt die Bettdecke darüber.

Sie sind froh, jetzt gehen zu müssen. Jakob hört seiner eigenen Stimme zu, wie sie beim Händedruck Also dann sagt. Andi bringt ein gekünsteltes Halt-die-Ohren-steif hervor.

Der lange Gang – der Lift – die Freiheit.

*

Wieder auf dem Bahnsteig. Die Krankenschwester, die blöde Kuh. Klampfen hat die zu ihren Gitarren gesagt. Der Zug nach Coburg. Ein ganzes Abteil haben sie für sich. Auf der Gepäckablage können die Gitarren in ihren Futteralen schlafen.

Die Jugend ist vorüber. Sie wissen es noch nicht.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839