Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 72

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Das Mäd­chen aus dem Album

Für den ersten mut­ter­lo­sen Tag hat sie schon vor­ge­kocht. Ihre berühm­te Kar­tof­fel­sup­pe braucht nur noch auf die Gasflamme.

Danach ler­nen. Andi für das Abitur auf dem Erne­sti­num. Jakob feilt an sei­ner Jah­res­ar­beit über Bur­gen und Schlös­ser im Cobur­ger Land.

Der Vater will Fami­li­en­fo­tos in ein Album kle­ben. Schon ewig lie­gen die lose in einem Schuh­kar­ton. Für die Bei­den eine will­kom­me­ne Ablen­kung von der Schul­ar­beit. Sie kichern über die Vor­kriegs­mo­de der Frau­en, über­lan­ge Kote­let­ten und vol­len Haar­wuchs des Vaters. Bei einem Foto mit star­kem Knick blei­ben sie hän­gen. Sie erken­nen die Mut­ter mit ihren drei Schwestern.

Ver­rück­te, aus­la­den­de Hüte. Klei­der mit gro­ßen Punk­ten, brei­ten Strei­fen. Aber da ist noch eine jun­ge Frau. Eigent­lich ein Mäd­chen. Etwas ver­lo­ren schaut sie zwi­schen den Schul­tern der Hut­frau­en her­vor. Dun­kel­haa­rig, Bubi­kopf­fri­sur. Eine Span­ge bän­digt ihre Haar­sträh­ne an die Schlä­fe hin. Vom Foto­gra­fier­lä­cheln der vier Frau­en hat sie sich nicht anstecken las­sen. Ernst und ange­strengt blickt sie in das Kame­ra­au­ge. So, als wäre sie sich des­sen bewusst, was für ein beson­de­rer Augen­blick das jetzt ist.

Wer das jun­ge Mäd­chen ohne Hut ist, will Jakob wis­sen und erfährt, dass alle Mamas Schwe­stern sind. Er denkt, dass sein Vater ihn nicht rich­tig ver­stan­den hat, hält ihm das Knick­fo­to direkt vor die Nase, zeigt auf das ern­ste Mäd­chen­ge­sicht. Der Vater sagt, er soll ihn doch in Ruhe sei­ne Fotos sor­tie­ren las­sen und erst ein­mal lesen, was auf der Rück­sei­te steht.

Alt­deut­sche, win­ke­li­ge Schrift. Die Tin­te aus­geb­li­chen und grün­lich ver­färbt. Die Jah­res­zahl neunzehnhundertdreiundvierzig.

Oh wie lieb­lich und wie fein, wenn fünf Schwe­stern fried­lich sein.

Gestört wer­den will er jetzt nicht mehr. Er müs­se sich konzentrieren.

Aber das ken­nen sie. Das sagt er immer dann, wenn er ver­le­gen ist. Wenn man jetzt wei­ter bohrt, gibt es sei­nen gefürch­te­ten Vulkanausbruch.

*

Sie bera­ten sich. Erst muss ein Brief aus Bad Bock­let kommen.

Dann ist er wie­der guter Lau­ne. Aber wenn er gar nicht mehr dar­an denkt, wol­len sie es machen. Sie nen­nen es Atten­tat. Eine von Mamas Schwe­stern ist ihnen ver­schwie­gen wor­den. Eine ganz nahe Bluts­ver­wand­te. Und dazu noch die jüng­ste und hüb­sche­ste von allen. Immer­hin sind sie mit acht­zehn und neun­zehn kei­ne klei­nen Kin­der mehr. Aben­teu­er­li­che Spe­ku­la­tio­nen wech­seln ein­an­der ab. War sie zur Mör­de­rin gewor­den und sitzt noch heu­te lebens­läng­lich? Die­se regel­mä­ßi­gen Fahr­ten zu den Schle­si­er­tref­fen – könn­ten die nicht genau so gut Besu­che im Gefäng­nis sein? TBC, Kin­der­läh­mung, Bom­ben­an­griff, Selbst­mord, sogar das Irren­haus wer­den in Betracht gezo­gen. Beim Fern­se­hen mustert Jakob den Vater heim­lich von der Sei­te, wun­dert sich, wie er mit die­sem Geheim­nis Bonan­za anschau­en und bei Rate­spie­len mit­ra­ten, bei dum­men Ant­wor­ten den Kopf schüt­teln kann.

Ein Brief aus dem Kur­ort. Die Mut­ter schreibt, dass es wie­der auf­wärts geht. Eine sym­pa­thi­sche Dame wohnt mit ihr in dem Zwei­bett­zim­mer. Sie lässt unbe­kann­ter­wei­se grü­ßen. Er soll sich kei­ne Sor­gen machen. Nach einem P.S. liest er noch, dass ihre Zim­mer­ge­nos­sin ihn auf dem Foto sehr sym­pa­thisch findet.

Vater in bester Lau­ne. Aus der Stadt hat er Toble­ro­ne mitgebracht.

Knackt bei­den gleich drei der Scho­ko­la­den­zäh­ne herunter.

Wie gut der Opa noch mit fünf­und­sieb­zig rei­ten konn­te und dass die Tan­te Lisa aus Erfurt ein Col­lier aus Cognacdia­man­ten hat. Sie hät­ten doch wohl die besten Aus­sich­ten, das ein­mal zu erben. Ein­schließ­lich des schwe­ren Pla­tin­schmucks, den sie für die Flucht in das Fut­ter ihres Per­sia­ner­man­tels ein­ge­näht hatte.

*

Das Stich­wort Tan­te hat er selbst gege­ben. Der Tag für das Atten­tat ist gekom­men. Sie wol­len das Album mit den neu ein­ge­ord­ne­ten Fotos sehen. Er holt es umständ­lich aus einer Schublade.

Sie blät­tern. Er ver­schwin­det aufs Klo. Noch bevor die Spü­lung rauscht, haben sie es durch­ge­se­hen. Das Knick­fo­to mit der Tan­te ohne Hut ist nicht dabei gewe­sen. Die Fra­gen haben sie mit­ein­an­der abge­spro­chen. Sie wer­den sich heu­te weder mit einer Aus­re­de abspei­sen, noch von einem Wut­an­fall ein­schüch­tern lassen.

Wo das Foto mit dem Knick ist, will Jakob wis­sen. Er hat es zer­ris­sen. Er gibt es zu. Weil die Mama dar­auf angeb­lich nicht vor­teil­haft getrof­fen ist. Der Hut­rand von der Tan­te Lisa habe fast ihr hal­bes Gesicht ver­deckt. Sie sehen, dass er sich schon wie­der aus dem Ses­sel erho­ben hat, mit vor­ge­streck­ter Hand auf den Ein­schalt­knopf des Fern­seh­ge­räts zugeht. Er ist unsi­cher und schwach.

Wie heißt die jun­ge Tan­te? Wo ist die jetzt? Was ist mit der? Sie schie­ßen die Fra­gen auf ihn ab, war­ten nicht, dass er sie der Rei­he nach beant­wor­tet. Sein Dau­men drückt die Einschalttaste.

Sport­re­por­ter Sam­my Drech­sel. Fuß­ball. Er hasst Fuß­ball. Unter der dra­ma­ti­schen Ton­ku­lis­se glaubt er, sich noch an Land ret­ten zu kön­nen. Sie haben den Respekt vor ihm ver­lo­ren. Andi dreht ihm den Ton ab. Jakob lehnt die Wohn­zim­mer­tür zu.

Er hat auf­ge­ge­ben. Müde und ton­los lässt er sich Wort für Wort aus der Nase zie­hen. Ilo­na hat die Tan­te gehei­ßen. Eine Han­dels­schü­le­rin ist sie gewe­sen. Aber Hüft­lu­xa­ti­on hat sie gehabt.

Etwas, bei dem man so komisch hin­ken muss. Ein Krüp­pel halt.

Von ihrer Oma geerbt. Von allen Schwe­stern war sie die Schön­ste. Aber natür­lich nur im Gesicht. Wenn sie gegan­gen ist, dann hat man es lei­der gese­hen. Und natür­lich hat sie des­we­gen kei­nen abge­kriegt. Wer nimmt denn schon so eine. Ihre Schwe­stern sind alle weg­ge­hei­ra­tet wor­den. Eine Arbeits­stel­le konn­te sie auch nicht bekom­men. Bis zum Tod der Mut­ter hat sie ihr noch den Haus­halt geführt. Und danach ist sie nir­gend­wo untergekommen.

Weil man schließ­lich sei­ne eige­nen Sor­gen gehabt hat. Das mit ihrer Hüf­te ist auch nicht bes­ser gewor­den. Da ist sie dann nach Tost gekom­men. Ins Krüp­pel­heim. Da hat man sich um sie geküm­mert. Auch Ärz­te hat sie dort um sich gehabt.

An einem Sonn­tag sei er auf Front­ur­laub mit der Mama sogar hin­ge­fah­ren. Vom Boden hät­te man da essen kön­nen, so sau­ber sei die Anstalt gewe­sen. Beim Abschied habe sie geweint und gesagt, dass sie wie­der nach Hau­se woll­te. Aber das sei ja nur natür­lich, denn beim Abschied fal­len nun mal Trä­nen. Auf der gan­zen Welt ist das schließ­lich so.

Sie ste­hen im Zim­mer neben ihren Stüh­len, haben ver­ges­sen, sich hin­zu­set­zen. Aus dem Vater spru­delt es nur so her­aus. Jakob scheint es, als habe er Angst vor einer Pau­se, vor drän­gen­den Fra­gen. Vor dem stum­men Bild­schirm der Sport­über­tra­gung sitzt er, als ob er den abge­stell­ten Ton erset­zen müsste.

Ihre älte­ste Schwe­ster Lisa hat­te Ilo­na nicht besucht. Die kann Kran­ken­häu­ser noch heu­te nicht von innen sehen, sagt sie. Sonst wird ihr sofort schlecht. Die ande­re hat­te als Geschäfts­frau so viel um die Ohren. Und der Tan­te Ger­ti war es mit ihrem SS-Mann natür­lich pein­lich, dass sie in ihrer Fami­lie einen Krüp­pel hatte.

Immer­hin sei Mama die Ein­zi­ge gewe­sen, die ihre jüng­ste Schwe­ster wenig­stens ein­mal in Tost besucht hat. Dann lei­der die­ser Brief von der Heim­lei­tung. Eine Epi­de­mie in der Anstalt, der auch Ilo­na zum Opfer gefal­len sei. Alle Lei­chen hät­ten sie aus Sicher­heits­grün­den ver­bren­nen müs­sen. Und natür­lich die gesam­te Klei­dung. Dass man die Ilo­na so schnell erlöst, hät­te ja kei­ner vor­aus­ah­nen kön­nen. Hin­ter­her wäre man immer klüger.

Aber wer wüss­te denn schon, wozu das letzt­lich doch gut gewe­sen war. Auf jeden Fall sei der Ilo­na viel erspart wor­den. Dass sie zum Bei­spiel eine alte Jung­fer wur­de, die sowie­so nie­mand zum Tan­zen auffordert.

Er stößt zwei kur­ze, gekün­stel­te Lacher her­vor. Wie gesagt, die Hüb­sche­ste von allen fünf Schwe­stern. Natür­lich nur vom Gesicht her. Er stellt sich den Fern­seh­ton wie­der an.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839