Zet­tels Refle­xio­nen: Sehen, was wirk­lich ist.

Peter Zettel
Peter Zettel

Wer hat die Fäden mei­nes Lebens in der Hand? Jeden­falls nicht ich, solan­ge ich mir mei­ner selbst nicht bewusst bin. Bis dahin bin ich nichts ande­res als ein Ham­pel­mann der Gesell­schaft bezie­hungs­wei­se der Metho­den und Kon­zep­te, die ich für rich­tig hal­te. Nur weil ich sie für rich­tig hal­te, müs­sen sie das ja nicht sein; viel­mehr kön­nen sie mich sogar gewal­tig in die Irre schicken.

Alle Kon­zep­te und Metho­den sind immer nur Annah­men über die Wirk­lich­keit. Also stüt­ze ich, wie vie­le Men­schen auch, mei­ne Ansich­ten auf die Erkennt­nis­se der Wis­sen­schaft, vor allen Din­gen der Natur­wis­sen­schaf­ten. Erst die Wis­sen­schaft, dann die Phi­lo­so­phie – und kei­nes­falls umge­kehrt. Kei­nes­falls ohne natur­wis­sen­schaft­li­che Grund­la­gen. Das geht gar nicht, jeden­falls nicht (mehr – das muss ich lei­der ein­ge­ste­hen) für mich. Das Dum­me ist nur, dass einem Metho­den und Kon­zep­te so ein wun­der­ba­res Gefühl von Sicher­heit geben, selbst wenn sie nichts wei­ter als Fol­ge einer Illu­si­on sind.

Ich kann mich nicht ein­mal auf das ver­las­sen, was ich erle­be; ich weiß über­haupt nicht, ob mein Erle­ben die Rea­li­tät über­haupt wirk­lich­keits­ge­treu abbil­det. Ich erle­be zum Bei­spiel, dass mich die Son­ne erwärmt, doch das erle­be ich so nur auf­grund einer Annah­me. Ich weiß in dem Moment, dass die Son­ne scheint und dass mir warm ist. Den sach­li­chen Zusam­men­hang aber kann ich über­haupt nicht erle­ben, nur gedank­lich kon­stru­ie­ren. Auch wenn die­ses Kon­strukt rich­tig ist, es ist und bleibt jedoch ein Kon­strukt. Das darf ich nicht ver­ges­sen. Sonst pas­siert es leicht, dass ich mir ange­wöh­ne, Kon­struk­te für stim­mig zu hal­ten – mit even­tu­ell fata­len Folgen.

Also soll­te ich mir immer erst ein­mal die Fra­ge stel­len, wie ich auf das kom­me, was ich anneh­me. Wie gesagt, dass ich es so erle­be, sagt nur etwas über mei­ne gedank­li­chen Annah­men über Zusam­men­hän­ge aus. Kürz­lich habe ich einen inter­es­san­ten Arti­kel über die Inter­pre­ta­ti­on des Marsh­mal­low-Effekts gele­sen. Mitt­ler­wei­le ist geht man näm­lich davon aus, dass die Inter­pre­ta­ti­on der Test­ergeb­nis­se auf einer stark redu­zier­ten Annah­me beruh­te, ande­re Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten nicht gese­hen wur­den und damit schlicht und ein­fach falsch ist.

Wir soll­ten also immer davon aus­ge­hen, dass wir nie sicher sein kön­nen, dass unse­re Annah­men zutref­fend sind. Ande­rer­seits kön­nen wir uns bewusst machen und noch bes­ser, bewusst sein, dass wir uns immer nur des­sen bewusst sind, was wir den­ken, dass es so wäre. Gera­de ist eine wun­der­ba­re Gele­gen­heit, das wie­der ein­mal fest­zu­stel­len. Die Coro­na-Pan­de­mie spal­tet die Gesell­schaft viel­fach in Impf­geg­ner und Impf­be­für­wor­ter. Nur wer hat wirk­lich recht? Frü­her hat­ten sich die Wis­sen­schaft­ler wenig­stens hin­ter ver­schlos­se­nen Türen gestrit­ten und die Men­schen nicht noch mehr ver­un­si­chert. Beur­tei­len, wirk­lich beur­tei­len, kann es kaum jemand. Und ich wage zu bezwei­feln, dass wir in unse­rer Gesell­schaft son­der­lich gut mit dif­fe­rie­ren­den Ansich­ten und Mei­nun­gen umge­hen kön­nen. Jedoch kön­nen wir uns ange­wöh­nen von Fak­ten und eben nicht von Mei­nun­gen auszugehen.

Sobald wir uns in unse­ren Mei­nun­gen und Ansich­ten ange­grif­fen füh­len, wird es meist sehr, sehr schnell per­sön­lich. Vie­le füh­len sich dann ange­grif­fen, da sie sich über ihre Annah­men defi­nie­ren und damit iden­ti­fi­zie­ren, was sie für gege­ben hal­ten. Da wird man blitz­ar­tig zum Ham­pel­mann, wenn man nicht bereit ist, sei­ne eige­nen Annah­men zu hin­ter­fra­gen bezie­hungs­wei­se sie wenig­stens so zu bele­gen, dass der ande­re sie veri­fi­zie­ren kann. „Eigent­lich“ soll­ten wir mitt­ler­wei­le wis­sen, dass wir all­er­gisch dar­auf reagie­ren, wenn unse­re Grund­an­nah­men tat­säch­lich oder ver­meint­lich ange­grif­fen wer­den, denn recht zu haben gilt all­ge­mein als abso­lut not­wen­di­ger Bestand­teil des Kon­zep­tes vom Selbst.

Gehe ich von der Rich­tig­keit mei­ner Annah­men aus, dann bedeu­tet das ja nicht, dass ich zwin­gend recht habe. Ich jeden­falls gehe solan­ge davon aus, dass ich mit mei­nen Annah­men rich­tig lie­ge, solan­ge man mich nicht vom Gegen­teil über­zeugt – was natür­lich ver­langt, dass man mit­ein­an­der redet. Das ist etwas ganz ande­res als gedank­li­che Starr­heit. Nur wer­de ich unru­hig, wenn jemand über sei­ne Ansich­ten nicht reden möch­te. Wird so jeman­dem ein grund­le­gen­der Irr­tum auf­ge­zeigt, so kann das letzt­lich eine ernst­haf­te neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche und neu­ro­che­mi­sche Stö­rung des gan­zen Systems bewirken.

Als Bera­ter habe ich immer wie­der erlebt, dass der blo­sse Gedan­ke an eine Ver­än­de­rung der eige­nen Ansich­ten als so uner­träg­lich erscheint, dass er gar nicht ernst­lich in Betracht gezo­gen wer­den kann. Lei­der habe ich noch immer nicht gelernt, mich dann recht­zei­tig zurück­zu­zie­hen und still zu sein. Nur wenn mich jemand von sei­ner – mei­nes Erach­tens nach unzu­tref­fen­den – Ansicht mit Vehe­menz über­zeu­gen möch­te, dann fällt es mir schwer, still zu sein. Aber ich ver­su­che es zu lernen.

Die Fäden mei­nes Lebens habe ich defi­ni­tiv selbst in der Hand. Nur was ich damit webe, das liegt an mir selbst, genau­er dar­an, ob mei­ne Annah­men über die Wirk­lich­keit mit der Wirk­lich­keit selbst über­ein­stim­men – und zwar nicht nur, weil ich das glau­be und auch nicht, weil das gesell­schaft­li­cher Kon­sens ist, son­dern weil es der aktu­el­le Stand der Wis­sen­schaft ist – Irr­tum nicht aus­ge­schlos­sen und Wei­ter­ent­wick­lung erwünscht! Wenn ich mich auf die­ses gedank­lich Ebe­ne bege­be, dann kann ich mich dran­ma­chen zu sehen, was wirk­lich ist – anson­sten nicht. Es wirkt manch­mal wie der Tanz auf einem Seil. Fällt man aber doch mal run­ter – dann zügig wie­der rauf auf das Seil und wei­ter balancieren!

Wer sich auf den Weg der Erkennt­nis des­sen macht, was wirk­lich ist, der soll­te sich an das Balan­cie­ren gewöh­nen. Da gibt es kei­ne Auto­bah­nen, nicht ein­mal Wege.


Peter Zet­tel

ist pen­sio­nier­ter Anwalt. Seit ein paar Jah­ren ist er begei­ster­ter Motor­rad­fah­rer – sein per­sön­li­cher Weg der Selbst­er­kennt­nis. Er inter­es­siert sich für das, was die Welt bewegt und schreibt dar­über in sei­nem Blog zet​tel​.biz.

Alle bis­her im Wie­sent­bo­ten erschie­nen „Zet­tels Refle­xio­nen