Zet­tels Refle­xio­nen: Sich selbst auf die Schli­che kom­men wollen

Peter Zettel
Peter Zettel

Der Raum zwi­schen Reiz und Reak­ti­on. Kürz­lich hat mich eine Lese­rinn an die­sen ‚Raum zwi­schen Reiz und Reak­ti­on‘, erin­nert, von dem Vik­tor Frankl oft spricht. Ent­steht der Raum zwi­schen Reiz und Reak­ti­on, dann kann in ihm die mög­li­che Wahl her­auf­däm­mern, das Böse zu unterlassen.Ich sage dan­ke für die­se Erin­ne­rung, den das ist eines der Mosa­ik­stein­chen in mei­nem Denk­ge­bäu­de. Oder viel­leicht doch eher ein tra­gen­des Element.

Es ist die eine Sache, mich nicht mehr an Wer­ten zu ori­en­tie­ren zu suchen, wo es doch tat­säch­lich um Fak­ten geht. Aber eine ganz ande­re Sache ist es, den Emo­tio­nen kei­nen frei­en Lauf zu las­sen, son­dern einen einen Moment lang zwi­schen Reiz und Reak­ti­on eine Pau­se zu machen, nicht um zu den­ken, son­dern sich des Den­kens in einem selbst bewusst zu wer­den. Vik­tor Frankl umschreibt dies so: „Zwi­schen Reiz und Reak­ti­on liegt ein Raum. In die­sem Raum liegt unse­re Macht zur Wahl unse­rer Reak­ti­on. In unse­rer Reak­ti­on lie­gen unse­re Ent­wick­lung und unse­re Freiheit.“

Schon oft habe ich erlebt, dass in dem Moment, in dem mit mein Den­ken bewusst wur­de, ich mich schlag­ar­tig ument­schie­den und etwas ganz ande­res gemacht habe. Es ist viel­leicht die­ser Moment der Selbst­be­wusst­wer­dung, der uns nicht zwi­schen ‚rich­tig‘ und ‚falsch‘ ent­schei­den oder wäh­len lässt, son­dern etwas in uns tief in uns Lie­gen­des, Ver­bor­ge­nes, etwas ganz Grund­sätz­li­ches sicht­bar wer­den lässt; das was uns Men­schen aus­macht, wir aber durch unse­re Art zu Leben in uns zuge- und ver­schüt­tet haben.

Vik­tor Frankl berich­tet wei­ter, wie den Häft­lin­gen nicht nur das gesam­te pri­va­te Hab und Gut und das Kopf­haar genom­men wur­de, son­dern auch Hoff­nung und Wür­de. Als ein­zi­ge Frei­heit blie­ben die inne­re Hal­tung und die per­sön­li­che Ent­schei­dungs­frei­heit, „sich zu den gege­be­nen Ver­hält­nis­sen so oder so ein­zu­stel­len“. Und er resü­mier­te wei­ter: „Gera­de eine außer­ge­wöhn­lich schwie­ri­ge äuße­re Situa­ti­on gibt dem Men­schen Gele­gen­heit, inner­lich über sich selbst hinauszuwachsen.“

Ein Gedan­ke, der mir intel­lek­tu­ell rich­tig erscheint, den ich aber nicht nach­emp­fin­den kann, denn ich war noch nie in einer sol­chen Situa­ti­on. Und da hilft mir auch mei­ne Empa­thie nicht wei­ter, den empha­tisch bin ich nur inso­weit ich zumin­dest einen ähn­li­chen Schmerz selbst schon erlebt habe. Wie aber mich in einen ande­ren ‚hin­ein­ver­set­zen‘, des­sen erle­ben ich selbst noch nie erlebt habe? Es wäre schlicht­weg eine Lüge, wenn ein Mann behaup­ten wür­de, er kön­ne nach­emp­fin­den, was eine Frau bei der Geburt eines Kin­des emp­fin­det, im Posi­ti­ven wie im Nega­ti­ven. Viel­leicht gibt es die­se Ebe­ne, aber ich den­ke sie ist gut ver­steckt hin­ter all unse­rem Denken.

Die Kunst besteht dar­in, uns inmit­ten all der Rei­ze, die stän­dig auf uns ein­wir­ken selbst zu füh­ren, uns selbst an die Hand zu neh­men und uns dar­an zu hin­dern immer gleich los­zu­ren­nen, bevor wir uns unse­rer Emo­tio­nen über­haupt bewusst gewor­den sind. Stän­dig wer­den wir mit Rei­zen über­flu­tet und auf jeden Reiz reagie­ren wir. Auch wenn wir nicht reagie­ren, reagie­ren wir, in die­sem Fall durch Igno­rie­ren. Wir kön­nen auf etwas sofort reagie­ren, impul­siv und ohne dar­über nach­zu­den­ken. Oder wir kön­nen mit Bedacht reagie­ren, um uns selbst Raum zu schaf­fen, damit über­legt wer­den kann, was in der Situa­ti­on ange­mes­sen sein könn­te. Es geht näm­lich nicht um ‚rich­tig‘ oder ‚falsch‘, son­dern um das der Situa­ti­on Angemessene.

Instink­tiv reagie­ren wir „gelernt“ auf Rei­ze, getrie­ben von unse­ren Prä­gun­gen, Ein­stel­lun­gen und Glau­bens­mu­stern. Dann ist der Reak­ti­ons­raum gleich Null oder sehr klein. Aber dies muss nicht so blei­ben. Den Reak­ti­ons­raum müs­sen wir selbst, bewusst und wil­lent­lich, schaf­fen. So kön­nen wir destruk­ti­ve Reak­ti­ons­mu­ster, aus­ge­drückt in Denk‑, Gefühls- und Ver­hal­tens­mu­stern, bes­ser überwinden.

Um das „gelern­te“ Reiz-Reak­ti­on-Muster zu unter­bre­chen, bedarf es der Wach­sam­keit. Wir müs­sen es ler­nen, selbst zu inter­ve­nie­ren, wenn wir im Begriff sind, auf einen Reiz zu reagie­ren. Es kann sehr hilf­reich sein, sich selbst ein gedank­li­ches „Stopp!“ zuzu­ru­fen, um eine mög­li­cher­wei­se ungün­sti­ge Reak­ti­on zu ver­mei­den. Schon damit wach­sen wir in gewis­ser Wei­se über uns selbst hinaus.

Wie wir auf Rei­ze reagie­ren ist in der Kon­se­quenz ein Spie­gel­bild unse­rer Ent­wick­lung und unse­rer Frei­heit. Selbst in Stress­si­tua­tio­nen kön­nen wir unse­ren Reak­ti­ons­raum nut­zen und aktiv und wirk­sam beein­flus­sen, wie Begeg­nun­gen, Gesprä­che, Aus­ein­an­der­set­zun­gen usw. ver­lau­fen. Wir behal­ten die Kon­trol­le über uns und kön­nen uns selbst führen.


Peter Zet­tel

ist pen­sio­nier­ter Anwalt. Seit ein paar Jah­ren ist er begei­ster­ter Motor­rad­fah­rer – sein per­sön­li­cher Weg der Selbst­er­kennt­nis. Er inter­es­siert sich für das, was die Welt bewegt und schreibt dar­über in sei­nem Blog zet​tel​.biz.

Alle bis­her im Wie­sent­bo­ten erschie­nen „Zet­tels Refle­xio­nen