Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 65

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Ver­tei­di­ger der Reichshauptstadt

Seit der fünf­ten Stun­de war­tet er mit sei­nem Rad im Schat­ten der mäch­ti­gen Stadt­kir­che. Ein guter Platz zum Beob­ach­ten und Nicht­ge­se­hen­wer­den. Er weiß, dass sie hier vor­bei kom­men muss. Mit sei­nen acht­zehn Jah­ren kommt es ihm irgend­wie lächer­lich vor, dass er hier auf eine Vier­zehn­jäh­ri­ge war­tet. Hof­fent­lich wird sie nicht in Beglei­tung von irgend­wel­chen kin­di­schen Kicher­erb­sen aus ihrer Klas­se sein.

Die ersten locke­ren Grup­pen. Fahr­schü­ler mit aus­grei­fen­dem Schritt. Aber Jakob war­tet auf den leuch­tend roten Ano­rak aus dem Pau­sen­hof. Er spürt die Hals­ader, den fla­chen Atem. Fie­ber­haft sucht er in der Schul­ta­sche nach einem Kugel­schrei­ber, fetzt ein Papier­stück vom Notiz­block, krit­zelt eine Bot­schaft hin, knüllt eine Kugel daraus.

Der rote Ano­rak. Mit einem ande­ren Mäd­chen im Gespräch. Er lässt sie vor­bei, steigt aufs Rad und fährt ihr nach. Auf glei­cher Höhe tippt er sie an die Schul­ter. Ihr sei das gera­de aus der Tasche gefal­len. Ver­wirrt greift sie nach der Papier­ku­gel. Im Anfah­ren kann er sehen, wie sie das Ding in ihren roten Ano­rak steckt.

*

Er steht im Hof­gar­ten unter dem Rei­ter­stand­bild von die­sem Her­zog. Oft schon hat er hier gestan­den, ist um die Sta­tue her­um gegan­gen, hat jede Ein­zel­heit des Monu­ments in sich hin­ein gesaugt. Heu­te hat er kei­nen Blick für den präch­ti­gen Mar­mor­sockel, das edle Pferd des stol­zen Für­sten, die Pati­na der Bron­ze. Er war­tet auf den roten Anorak.

Hasti­ge Schrit­te knir­schen über den Kie­sel­stein­weg. Sie kommt.

Einen Turn­beu­tel über der Schul­ter. Dass sie den Nach­mit­tags­sport geschwänzt hat, sagt sie, ein biss­chen außer Atem. Auch, dass sie heu­te zum ersten Mal in ihrem Leben eine Unter­schrift gefälscht hat. Ziel­los schlen­dern sie die Park­we­ge ent­lang, wei­chen dem uni­for­mier­ten Park­wäch­ter aus, spre­chen über gemein­sa­me Leh­rer und dass der Bana­nen­shake in der Milch­bar am Spi­tal­turm viel zu teu­er ist.

Ob ihr Vater etwas dage­gen haben wür­de, wenn er sie mal in die Zwei-Uhr-Vor­stel­lung vom UT ein­lädt. Sie blickt ver­le­gen. Sie hat kei­nen Vater mehr. Gefal­len bei der Ver­tei­di­gung von Ber­lin. An vor­der­ster Front. In den letz­ten Kriegs­ta­gen. Nicht mal ein Grab gibt es. Nur sein Name auf der Gedenk­ta­fel in der Arka­den­hal­le am Schloss­platz. Das Album mit den Fami­li­en­fo­tos – alles im Bom­ben­krieg ver­brannt. Sie hat ihre Mut­ter schon mal gefragt, wie ihr Vater aus­sah. Da hat die Mut­ter geweint.

Sie hat es nie wie­der versucht.

Er will mit ihr die Namens­ta­fel anse­hen. Das ist er ihr schuldig.

Kann doch jetzt nicht wie­der anfan­gen mit Kino­ein­la­dung, mit Händ­chen­hal­ten und sol­chem Zeug. Sie tre­ten ein in das gedämpf­te Tages­licht der Hal­le. Ver­dorr­te Krän­ze der letz­ten Toten­eh­rung. Die gold­be­druck­ten Schlei­fen immer noch säu­ber­lich drapiert.

Der Ober­bür­ger­mei­ster.

Der Cobur­ger Convent.

Sie deu­tet auf eine stei­ner­ne Tafel an der Rück­wand, liest ihm laut den Fami­li­en­na­men und den Vor­na­men ihres Vaters vor.

Ihre dün­ne Mäd­chen­stim­me ver­klingt mit dump­fem Hall. Er hat die Hän­de aus den Taschen genom­men, bemüht sich um eine Mie­ne. Aus den Augen­win­keln blickt er sie an. Sie ist kein Kat­zen­mäd­chen mehr. Ein klei­ner, vater­lo­ser roter Ano­rak ist sie, den man beschüt­zen muss. Er wird es tun. Er legt ihr den Arm um die Schulter.

*

Sie sind ein Pär­chen gewor­den. In der Stadt wegen ihrer Unzer­trenn­lich­keit bewun­dert, auch belä­chelt. Vor­stel­lung bei der Krie­ger­wit­wen­mut­ter. Käse­ku­chen mit Schlag­sah­ne. Tschi­bo-Kaf­fee, frisch gemah­len. Bei spä­tem Heim­kom­men droht ihre Mut­ter­ge­stalt nun nicht mehr als fin­ste­rer Sche­ren­schnitt am Fenster.

*

Die Zeit für den all­jähr­li­chen Pfingst­kon­gress der schla­gen­den Stu­den­ten­ver­bin­dun­gen naht. Dazu wird auch ihr Onkel aus dem Rhein­land kom­men. Ein hohes Tier soll der sein. Welt umspan­nen­de Fir­ma. Bezie­hun­gen zu höch­sten Krei­sen. Mut­ter und Toch­ter ver­fü­gen auf ein­mal über neu­es Voka­bu­lar. Char­gier­ter, Sala­man­der, Phi­li­ster und Cere­vis kom­men ihnen in stol­zer Selbst­ver­ständ­lich­keit aus dem Mund.

Die Stadt rüstet sich zum Emp­fang Tau­sen­der Akademiker.

Fah­nen, Fähn­chen, Bän­der, Bekrän­zun­gen. Mikro­fon­bün­del auf dem Rat­haus­bal­kon. Der Radio Zeit­ner mon­tiert sei­ne Laut­spre­cher. Sprech­pro­ben ein­sein­seins. Durch das Stadt­zen­trum fla­nie­ren die ersten Stu­den­ten, tra­gen ihre pfla­ster­ver­kleb­ten und mull­bin­den­de­ko­rier­ten Fecht­wun­den zur Schau. Müt­zen, Käpp­chen, Cou­leur­bän­der, Bün­del von Bier­zip­feln heben sie von den Sterb­li­chen ab. Coburg­mäd­chen, sonst graue Mäu­se und mit einem Bein noch in der Kind­heit, erblü­hen unter Rouge, Lip­pen­stift und wip­pen­dem Pet­ti­coat zu begeh­rens­wer­ten Schönheiten.

Kun­di­ge Mut­ter­hän­de haben duf­ti­ge Som­mer­fähn­chen und damen­haf­te Kostü­me geschneidert.

*

Seit den letz­ten drei Jah­ren ist das die Zeit, in der sich Jakob und Andi auf die Räder schwin­gen. Für ein paar Tage wird das nicht mehr ihre Stadt sein. Am Ufer­strei­fen des Neu­en­sees wer­den sie ihr Zwei­mann­zelt auf­schla­gen, Hau­ben­tau­cher und Rohr­dom­meln beob­ach­ten. Im wei­chen, mod­ri­gen Schilf­was­ser wol­len sie schwim­men und den Was­ser­ki­lo­me­ter des Sees bezwin­gen. Am Ende sich erschöpft in die Erlen­wur­zeln des Ufers klam­mern. Sie wer­den erst wie­der in ihre Stadt zurück kom­men, wenn die Müt­zen aus dem Stadt­bild ver­schwun­den sind. Wenn das Was­ser des Hahn­flus­ses aus dem Tank­last­zug der Stra­ßen­rei­ni­gung die Kot­ze und Bier­pis­se weg gespült hat.

*

Die Brü­der haben ihre Räder an den Guss­ei­sen­zaun des Zie­gel­stein­hau­ses im Kano­nen­weg gelehnt. Ihre Sat­tel­ta­schen prall gepackt, das Zelt geschnürt, die Woll­decken gerollt. Vor dem Pfingst­kon­gress wol­len sie flie­hen. Andi treibt den jün­ge­ren Bru­der zur Eile an, spöt­telt von Braut und Schwie­ger­mut­ter. Jakob will sich nur noch schnell von sei­nem Mäd­chen ver­ab­schie­den, muss ihr sagen, dass er nicht dem rei­chen Onkel vor­ge­führt wer­den möch­te. Der Tür­öff­ner schnarrt. Heu­te scheint die Mut­ter gar nicht da zu sein. Denn sonst erwar­tet sie ihn immer zum Emp­fang im Tür­rah­men. Er tritt ein in die offe­ne Woh­nung, ruft ihren Namen, war­tet. Die Klin­ke zum Wohn­zim­mer. Zusam­men gekrümmt liegt sein Mäd­chen auf dem Tep­pich. Ihre Schul­tern wer­den vom Schluch­zen geschüt­telt. Er beugt sich hin­un­ter. Ein gefal­te­ter Brief, ein Umschlag.

Es sei wie­der ein­mal Zeit für ein heim­li­ches Tref­fen. Das Lie­bes­nest in dem ver­schwie­ge­nen Hotel habe er schon bereitet.

Bald fünf­zehn Jah­re alt wer­de das Unter­pfand ihrer gemein­sa­men Lie­be. Auf den Fotos wir­ke sie ja wie eine jun­ge Dame.

Ein ganz beson­de­res Geschenk habe er für sie aus­ge­sucht. Wie doch die Zeit ver­ge­he und wie dank­bar er ihr sei, dass sie so viel Ver­ständ­nis für sei­ne gesell­schaft­li­che Stel­lung habe. Und das sol­le auch ihr Scha­de nicht sein.

Das Kat­zen­mäd­chen blickt ihn mit trä­nen­ver­quol­le­nen Augen an. Den Hel­den­va­ter mit dem ein­ge­mei­ßel­ten Namen hat sie gera­de ein zwei­tes Mal ver­lo­ren. Ihren Ver­tei­di­ger von Ber­lin ohne Grab und Foto. Es gibt ihn nicht. Sie ekelt sich davor, die­sen rei­chen Feig­ling mit dem dicken Pla­tin­sie­gel­ring an sei­ne Stel­le rücken zu lassen.

Die Tür­glocke schrillt. Er lehnt sich aus dem Fen­ster. Der Bru­der mit unge­dul­di­gen Gesten, Vor­wurf im Gesicht.

Gleich muss die Mut­ter von ihrem Schä­fer­stünd­chen kommen.

Er will der Frau nicht ins Gesicht blicken müs­sen. Ohne Trost oder Bei­stand lässt er sie zurück, nimmt die Kokos­läu­fer­stu­fen im Dop­pel­schritt. Der Bru­der pumpt sich gera­de noch etwas Luft in den Hin­ter­rei­fen. War­um das so lan­ge gedau­ert hat und ob der Mil­lio­närs­macker wohl schon da ist, will er wis­sen. Jakob schwingt sich in den Sat­tel. Bei der ersten Rast wird er es dem Bru­der erzählen.

Ein Taxi fährt vor. Hin­ter der Schei­be winkt ihm eine Hand, lä- chelt ein Frau­en­ge­sicht. Er will es nicht gese­hen haben. Flucht.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839