Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 61

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Hall­ef­fekt

Im Quel­le­ka­ta­log haben Jakob und Andi ihren Traum gefun­den. Ein Ton­band­ge­rät. Damit könn­ten sie end­lich ihre Gitar­ren­mu­sik auf­neh­men. Ste­reo, drei Geschwin­dig­kei­ten und einen Halleffekt.

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Die Klas­sen­ka­me­ra­den räkeln sich auf ihren Decken im Hin­den­burg­bad, machen Köp­fer und Arsch­bom­ben ins dunk­le Chlor­was­ser, Hand­stand-Über­schlag und Flick­f­lack vor den Weibern.

Die Brü­der ste­hen bei der Schrott­ver­wer­tung im Kano­nen­weg vor dem Stahl­schnei­der, schie­ben ihre Gabeln in die Metall­brocken und Schnit­zel. Einsfünf­und­sech­zig die Stunde.

Am Anfang woll­ten sie es noch den erfah­re­nen Schrott­ar­bei­tern zei­gen. Ihre sech­zehn-sieb­zehn Jah­re alten Mus­keln haben sie sich an Reck und Barren,an Rin­gen, Klet­ter­stan­gen und beim Schwim­men geholt. Das Lang­sam­lang­sam der älte­ren Arbei­ter schie­ben sie auf deren Faul­heit und Schwäche.

Zwei Tage Schrott­ar­beit in der August­son­ne. Sie haben es gelernt. Hier kommt es nicht dar­auf an, wie vie­le Eisen­tei­le du mit der Gabel auf den Anhän­ger bringst. Auch, wie braun du bist, inter­es­siert hier kein Schwein. Hier sind alle braun. Der Rost macht alle gleich. Das Büro­fen­ster ist ein Auge. Auf dem Scheiß­haus muss es schnell gehen. Für das Schei­ßen wer­det ihr hier nicht bezahlt. Mickey­maus und Prinz Eisen­herz zum Arsch­ab­wi­schen. Den Rost unter den Nägeln kriegst du ein­fach nicht weg. Zwei Wochen haben sie durch­ge­hal­ten. Mit Schrott­schweiß ver­schmiert ste­hen sie vor dem Lohn­bü­ro. Der Hall­ef­fekt ist noch nicht erreicht. Andi schraf­fiert am Ton­band­ge­rät im Kata­log, wie viel ihnen davon schon gehört.

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Sie wären ja schön blöd, so zu malo­chen, hat ihnen einer gesagt.

Zie­ge­lei Esbach, da gibt es einen klu­gen Job. Sie müss­ten nur schau­en, dass sie in die Ton­gru­be kom­men. Den gan­zen Tag an der fri­schen Luft. Ab und zu kom­me die Schmal­spur­bahn mit ein paar Wagons ange­die­selt. Das Bela­den besor­ge sowie­so der Bag­ger. Hin und wie­der müs­se man die dün­ne Kalk­schicht in der Lehm­wand her­aus pickeln. Manch­mal die Schie­ne frei schau­feln und Zie­gel­re­ste unter locke­re Glei­se stop­fen. Anson­sten könn­ten sie den lie­ben Gott einen guten Mann sein lassen.

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Es ist genau so, wie der gesagt hat. Sie sind mit dem Fahr­rad hin­aus gefah­ren. Anmel­dung im Büro. Auf den Schwel­len der Schmal­spur­schie­ne hin­über zur Lehm­gru­be. In der Baracke die Pickel schul­tern. Bald ste­hen sie an der Lehm­wand, die der Bag­ger in das Acker­land geschrägt hat. Zwi­schen ver­schie­de­nen Braun­tö­nen nur hand­breit die grau­gel­be Kalk­schicht. Sie heben die Pickel, wol­len ihr zu Lei­be rücken, ihr den Gar­aus machen.

Der Bag­ger­füh­rer auf dem schla­fen­den Rie­sen winkt ab. Sie set­zen sich an einen Grund­was­ser­tüm­pel. Vor ihren Lehm­klümp­chen schrecken Libel­len auf, tau­chen Frö­sche ab.

Ein grau­er Kit­tel erscheint oben am Gru­ben­rand. Die Zug­ma­schi­ne sei ver­reckt. Sie wür­den im Werk auf dem Trocken­bo­den gebraucht.

Pickel ablie­fern. Rück­marsch ins Zie­gel­werk. Ein wei­ßer Kit­tel war­tet schon auf sie, weist sie ein. Es geht um frisch gepress­te Dach­zie­gel mit Lüf­tungs­lö­chern. Das sei alles ganz einfach.

Sagt der wei­ße Kit­tel. Im ersten Stock am Mate­ri­al­lift war­ten, die Din­ger auf gum­mi­be­reif­te Kar­ren legen, im Dach­bo­den durch die Pen­del­tür schie­ben, auf den Gerü­sten zum Trock­nen able­gen. Fro­hes Schaf­fen. Der wei­ße Kit­tel ver­schwin­det hin­ter einer Bürotür.

Eine stei­le Metall­trep­pe. Jakob drückt die Klin­ke. Ein nie erleb­ter Hit­ze­schwall springt sie an, schließt ihnen den Mund. Tie­fe Ris­se in den Bal­ken, Lat­ten und Boden­bret­tern. Lehm­staub hat hier allem sei­ne Far­be genom­men. Die August­son­ne tastet sich an einer mil­chi­gen Staub­säu­le durch die auf­ge­stell­te Dachluke.

Eine Frau steht bar­fuß auf dem Bret­ter­bo­den und kehrt rie­si­ge Wol­ken hoch. Der schweiß­nas­se Unter­rock klebt an ihr. Sie lallt ihnen Unver­ständ­li­ches ent­ge­gen, spricht mit den Hän­den, hebt den Rock­rand über wel­li­ge Schen­kel, wagt ein paar Tanz­schrit­te, lacht die Brü­der zahn­lückig an.

Auf dem Mate­ri­al­lift schau­keln die ersten Lüf­tungs­zie­gel nach oben. Frisch gepresst und gelocht, glän­zen wie Speck. Acht Stück pro Kar­ren. Im Lauf­schritt hin zum Bret­ter­steg über einen schwin­del­tie­fen Gra­ben. Holz­re­ste, Bier­fla­schen, Glassplitter.

Der Kar­ren stößt die Pen­del­tür auf. Ein Ofen­schlund zieht Jakob in sich hin­ein. In Sekun­den klebt jedes Klei­dungs­stück an ihm.

Er hebt sei­ne Press­lin­ge auf die Roste. Da hin­ten an der Mau­er das dunk­le, ver­git­ter­te Rie­sen­loch. Aus den Brenn­öfen wird die­se Höl­len­luft, der Flam­men­a­tem her­auf gebla­sen, will unbe­dingt in sei­ne Lun­gen und Augen drin­gen, sie aus­dör­ren. Rückweg.

Unter den Turn­schu­hen wallt der Ton­staub zu farb­lo­sen Mehl­wol­ken hoch. Im Ver­gleich zum Höl­len­schlund umfä­chelt ihn die Brut­hit­ze des Vor­raums wie Früh­lings­hauch. Der Bru­der hastet mit vol­ler Kar­re, stößt die Pen­del­tür auf, kommt kurz dar­auf wie mit Was­ser über­gos­sen zurück. Sie zer­ren sich ihr klatsch­nas­ses Zeug vom Leib, hän­gen alles über einen Quer­bal­ken. Ab jetzt in Unter­ho­se und bar­fuß. Im Lauf­schritt schie­ben sie ihre Kar­ren, trie­fen, wischen den Brenn­schweiß aus den Augen. Immer öfter schau­kelt der Lift unge­leert hin­un­ter in das Him­mel­reich der Kühle.

Im Tür­spalt ein qua­dra­ti­scher Kopf. Das Schief­maul bellt sie an.

Wenn sie es nicht schaf­fen, kön­nen sie ja gleich ihre Papie­re holen. Die Ober­schü­ler hät­ten sowie­so kei­nen Mumm in den Kno­chen und nur Schei­ße im Kopf.

Ohn­mäch­ti­ger Hass, fin­ste­re Rache­plä­ne kochen in Jakob. Eine Stun­de vor Betriebs­schluss bleibt der Lift ste­hen. Kei­ner kommt her­auf und sagt ihnen, was zu tun ist. Die Taub­stum­me ist auch nicht mehr da. Sie schie­ben ihre Kar­ren unter die hoch­ge­stell­te Dach­lu­ke, sit­zen auf den Wagen­kan­ten und küh­len sich im Strahl der August­son­ne. Die Werks­si­re­ne. Kla­mot­ten und Schu­he sind durch getrock­net. Abstieg ins Para­dies der Fri­sche. Die Hal­len sind leer. Die Bän­der schwei­gen. Ihre Fahr­rä­der unter dem Well­blech­dach füh­len sich kühl an. Schweiß­rän­der an Hemd und Hose wie Lan­des­gren­zen im Atlas.

*

Für den zwei­ten Tag Höl­le hat Jakob Mamas Bade­ther­mo­me­ter mit dem roten Strei­fen und der grü­nen Ska­la dabei. Kei­nen Mumm in den Kno­chen und sowie­so bloß Schei­ße im Kopf, hat das Qua­drat­ge­sicht, die­se Arsch­gei­ge über sie gesagt. Der wird sich noch wun­dern. Andi, dem Beson­ne­nen, sagt er nichts von sei­nem Plan. Er will davon nicht abge­bracht wer­den. Und sei­en die Beden­ken auch noch so ver­nünf­tig. Er will wie­der im Frei­en arbeiten.

Die Taub­stum­me ist vor ihnen da, kehrt schon wie­der Wolken.

Bar­fuß im Unter­rock. Kaum ste­hen sie halb­nackt im Lehm­staub, schau­kelt der Mate­ri­al­lift zu ihnen hin­auf. Bei der ersten Fuh­re soll das Ther­mo­me­ter mit in die Höl­le gehen. Er legt es in das Trock­nungs­ge­rüst. Es soll sein Zeu­ge sein. Bei der näch­sten Fuh­re hält er die Ska­la unter die Decken­fun­zel. Sechs­und­fünf­zig Grad. Am Steg zischt er dem Bru­der die­se Zahl zu. Als der dann die Pen­del­tür schweiß­glän­zend von innen wie­der auf­stößt, ist Jakob gera­de dabei, sei­nen Plan aus­zu­füh­ren. Zwei der Quer­bret­ter des Stegs hat er schon mit Leich­tig­keit aus den gedörr­ten Bal­ken geris­sen, sie an die Mau­er gelehnt und mit einem Fer­sen­tritt zer­split­tern las­sen. Gemein­sam heben sie die lee­re Trans­port­kar­re des Bru­ders über die gefähr­li­che Stel­le. Die Bret­ter­tei­le klap­pern in den Abgrund. Sei­ne bela­de­ne Kar­re lässt Jakob unter den fas­sungs­lo­sen Augen des Bru­ders in die Tie­fe kra­chen. Der Mate­ri­al­lift kehrt voll zu dem Qua­drat­ge­sicht nach unten zurück. Schon gei­fert sei­ne Stim­me durch den Türspalt.

Noch bevor er mit gehäs­si­gen Sprü­chen über Mumm in den Kno­chen, Schei­ße im Kopf und Papie­re holen anfan­gen kann, brüllt Jakob ihn an. Er sol­le sich die lebens­ge­fähr­li­che Saue­rei hier oben gefäl­ligst per­sön­lich anse­hen. Das Qua­drat­ge­sicht begut­ach­tet den Steg und schüt­telt den Kopf. Wer denn für so eine Schwei­ne­rei hier die Ver­ant­wor­tung trägt, will Jakob noch wis­sen. Ach­sel­zucken. Auf dem Rücken des grau­en Kit­tels ist ein gro­ßer Schweiß­fleck zu sehen. Sie soll­ten erst ein­mal mit­kom­men, knurrt er. Die Taub­stum­me kehrt Staubwolken.

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Drau­ßen auf dem Hof. Som­mer­him­mel mit wei­ßen Wol­ken­ber­gen. Ein Wind­hauch lässt klei­ne Wir­bel aus rotem Zie­gel­staub über den Platz tan­zen. Sie sol­len sich beim Lade­mei­ster melden.

Der ver­passt ihnen die Lade­gum­mis. Dau­men und Fin­ger unter einen Dop­pel­schlitz stecken. Der Zie­ge­l­eila­ster steht mit Anhän­ger an den manns­ho­hen Sta­peln der Dach­pfan­nen. Zwei alte Hasen auf der Lade­flä­che, die Brü­der unten. Im Takt hat das zu gehen. Zwei­tau­send­fünf­hun­dert Stück. Noch heu­te muss die Schei­ße an die Bau­stel­len raus.

Zwei Stück grei­fen – über­ge­ben. Zwei Stück grei­fen – über­ge­ben. Zwei Stück grei­fen – über­ge­ben. Längs­rei­he ist voll. Einer auf der Lade­flä­che streut Stroh dar­über. Hal­be Minu­te anlehnen.

Anfangs zählt Jakob noch sei­ne Stück­zahl mit. Bald gibt er es auf. Das will kein Ende neh­men. Nur noch mecha­nisch. Grei­fen – über­ge­ben. Sehn­sucht nach der Stroh­streu­pau­se. Und weiter.

Der lee­re Anhän­ger. Das Glei­che von vorn. Grei­fen – über­ge­ben. Grei­fen – über­ge­ben. Stroh­schicht. Die Hand­grif­fe sitzen.

Die alten Knacker da oben – wie hal­ten die das bloß durch? Sich nur nichts anmer­ken las­sen. Drei Rei­hen noch.

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Respekt, sagt einer der alten Hasen. Der ande­re klopft den Brü­dern zwei Over­stolz aus der Packung. Ein star­kes Kraut ohne Fil­ter. Sie paf­fen mit. Hocken, von Zie­gel­staub ver­schmiert, auf dicken Beton­röh­ren, schwei­gen sich an, sehen dem Last­zug hin­ter­her. Fix und fer­tig. Aber stolz. Heu­te sind sie ein biss­chen so etwas wie Arbei­ter geworden.

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Den Bestell­schein für ihren Hall­ef­fekt hat Andi schon aus­ge­füllt. Noch zwei Wochen Malo­che und dann ab in den Brief­ka­sten. Die Mut­ter kann sich nicht erklä­ren, wo ihr Bade­ther­mo­me­ter hin gekom­men sein könnte.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839