Zet­tels Refle­xio­nen: „Wen inter­es­siert das eigentlich?“

Peter Zettel
Peter Zettel

Die Geschich­te lehrt uns, dass die Geschich­te den Men­schen nichts lehrt. Die­sen Spruch liest man gera­de oft. Es stimmt. Abso­lut. Lei­der nicht so, wie die mei­sten Men­schen ihn ver­ste­hen. Es gibt näm­lich zwei Sicht­wei­sen, die auch noch bei­de stim­men. Ein­mal lehrt uns die Geschich­te, was in bestimm­ten Situa­tio­nen bes­ser ist, nicht zu tun.

So etwa, wie ich als Kind gelernt habe, dass ich bes­ser nicht auf eine hei­ße Herd­plat­te fas­sen darf, will ich mir nicht die Fin­ger ver­bren­nen. Oder dass Motor­rä­der sehr schwer sind und umfal­len kön­nen, wenn man sie in die fal­sche Rich­tung bewegt und ein klei­ner Knirps sie nicht hal­ten kann. Ich war damals sie­ben oder acht Jah­re alt. Das habe ich kapiert. Im Lau­fe mei­nes immer­hin 70 Jah­re dau­ern­den Lebens habe ich jedoch auch gelernt, dass der Aus­gang von Fuß­ball­spie­len nur mit einer gewis­sen Wahr­schein­lich­keit vor­aus­zu­sa­gen sind. Oder auch Wahlen.

Wären sie tat­säch­lich vor­aus­sag­bar, wür­de kein Mensch sich Fuß­ball­spie­le im Fern­se­hen oder in echt anschau­en. Abso­lut nicht vor­her­sag­bar, nur nähe­rungs­wei­se. Oder was in den Talk­shows so bespro­chen wird. Wie heißt es doch so rich­tig: Erstens kommt es anders und zwei­tens als man denkt. Und genau des­we­gen ist es oft auch sinn­los zu glau­ben, man könn­te aus der Geschich­te ler­nen, es also genügt, sie nur eins zu eins mit leich­ter Ände­rung zu kopieren.

War­um das so ist? Weil alles Leben­di­ge sich nicht an die Geschich­te hält, son­dern ein kom­ple­xes System ist, das nach ganz ande­ren Regeln funk­tio­niert, als die mei­sten den­ken. Oder haben Sie schon jemals abso­lut iden­tisch reagiert? Ich glau­be kaum! Und genau des­we­gen ist das Ver­hal­ten eines Men­schen, der Kli­ma­wan­del oder die Ent­wick­lung eines Virus nicht vor­her­sag­bar, nur näherungsweise.

Mit ande­ren Wor­ten: Alles was ein oder meh­re­re spe­zia­li­sier­te Exper­ten lösen kön­nen, ist kom­pli­ziert. Und alles was nicht ein­mal Top-Exper­ten garan­tie­ren oder vor­her­sa­gen kön­nen, ist kom­plex. Also: Die Natur, die Men­schen, der Kli­ma­wan­del und auch Viren. Aktu­ell Putin, die Ame­ri­ka­ni­sche Regie­rung, die Ukrai­ni­sche Regie­rung, die betrof­fe­nen Men­schen – wir kön­nen nicht sicher wis­sen, wie sie reagie­ren werden.

Das bedeu­tet, inter­es­sie­re ich mich für Men­schen, also kom­ple­xe Wesen, muss ich wis­sen, was die auszeichnet:

Nicht­li­nea­ri­tät: Klei­ne Stö­run­gen des Systems oder mini­ma­le Unter­schie­de in den Anfangs­be­din­gun­gen füh­ren oft zu sehr unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen (Schmet­ter­lings­ef­fekt, Pha­sen­über­gän­ge). Die Wirk­zu­sam­men­hän­ge der System­kom­po­nen­ten sind im All­ge­mei­nen nichtlinear.

Emer­genz: Emer­genz bezeich­net die Mög­lich­keit der Her­aus­bil­dung von neu­en Eigen­schaf­ten oder Struk­tu­ren eines Systems infol­ge des Zusam­men­spiels sei­ner Elemente.

Wech­sel­wir­kung (Inter­ak­ti­on): Die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen den Tei­len des Systems sind lokal, ihre Aus­wir­kun­gen in der Regel global.

Selbst­re­gu­la­ti­on: Dadurch kön­nen sie die Fähig­keit zur inne­ren Har­mo­ni­sie­rung ent­wickeln. Sie sind also in der Lage, auf­grund der Infor­ma­tio­nen und derer Ver­ar­bei­tung das inne­re Gleich­ge­wicht und Balan­ce zu verstärken.

Offe­nes System: Sie ste­hen im Kon­takt mit ihrer Umge­bung und befin­den sich fern vom ther­mo­dy­na­mi­schen Gleich­ge­wicht. Das bedeu­tet, dass sie von einem per­ma­nen­ten Durch­fluss von Ener­gie bezie­hungs­wei­se Mate­rie abhängen.

Pfa­de: Kom­ple­xe Syste­me zei­gen Pfad­ab­hän­gig­keit: Ihr zeit­li­ches Ver­hal­ten ist nicht nur vom aktu­el­len Zustand, son­dern auch von der Vor­ge­schich­te des Systems abhängig.

Attrak­to­ren: Das System strebt von sei­nen Anfangs­be­din­gun­gen bestimm­te Zustän­de oder Zustands­ab­fol­gen an, wobei die­se Zustands­ab­fol­gen auch chao­tisch sein können.

In kom­ple­xen Syste­men gibt es, anders als bei kom­pli­zier­ten, kei­ne Wenn-Dann-Bedin­gun­gen son­dern „nur“ Zusam­men­hän­ge und Beziehung.

Will ich mir also ernst­haft Gedan­ken über Krie­ge, Kli­ma­wan­del, Viren oder auch nur über mei­ne Mit­men­schen wie mich selbst machen, soll­te ich nie ver­ges­sen, dass das kom­ple­xe Syste­me sind, die eben nicht wie eine Wasch­ma­schi­ne oder ein Herd tun, was man will. Fängt doch schon bei ganz ein­fa­chen Din­gen an. Am Wochen­en­de besu­chen wir zwei unse­rer Enkel, 9 und 7 Jah­re alt. Sie wer­den garan­tiert anders sein als das letz­te Mal. Es dau­ert immer einen Moment, dann weiß ich, wie sie drauf sind.

Aber im Vor­aus wis­sen, wie er sich aktu­ell ver­hal­ten wird? Kei­ne Chan­ce, er reagiert eben kom­plex. Wie alles Leben­di­ge. Wenn man sich die­ses Ein­ge­hen auf den ande­ren erspa­ren will ist es natür­lich ein­fa­cher, ihm ein Eti­kett auf­zu­kle­ben, dann weiß man, wie man sich ver­hal­ten muss. Nur funk­tio­niert das sel­ten, eigent­lich nie. Nur was funk­tio­niert, das ist, dass man sich dann gewal­tig wun­dert, dass der ande­re sich nicht so ver­hält, wie man eben dach­te. Oder es macht einen blind dafür zu sehen, was mit dem ande­ren wirk­lich los ist.

Aber wen inter­es­siert das eigent­lich? Wenn ich mir Nach­rich­ten anschaue oder in den Social­Me­dia-Platt­for­men lese, dann beschleicht mich oft das Gefühl, das das nie­man­den so wirk­lich inter­es­siert. Und das ist die eigent­li­che Kata­stro­phe mit mög­li­cher­wei­se gra­vie­ren­den Auswirkungen.


Peter Zet­tel

ist pen­sio­nier­ter Anwalt. Seit fünf Jah­ren ist er begei­ster­ter Motor­rad­fah­rer – sein per­sön­li­cher Weg der Selbst­er­kennt­nis. Er inter­es­siert sich für das, was die Welt bewegt und schreibt dar­über in sei­nem Blog zet​tel​.biz.

Alle bis­her im Wie­sent­bo­ten erschie­nen „Zet­tels Refle­xio­nen