Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 59

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Schande

Bei der letzten Brechwelle kann sie nur noch ihren sauren Magensaft heraus würgen. Sie wäscht sich den Mund im Wasserstrahl, blickt in den Spiegel und erschrickt. So hatte sie damals ausgesehen, als sie nach einer Totgeburt im Krankenhaus zum ersten Mal wieder in den Spiegel sah, den ihr die Krankenschwester vorhielt. Wochenlang hatte sie mit dem Leichengift des abgestorbenen Jungen um ihr Leben gekämpft.

Der grüne Stadtomnibus hält vor dem Haus. Ihr Herrmann wird jetzt gleich den Klingelknopf mit dem Ellbogen drücken, mit zwei prall gefüllten Einkaufsnetzen vor der Wohnungstür stehen, ihr seinen Einkauf auf den Küchentisch stellen, erzählen, dass er wieder mal einen Fang gemacht hat, weil er irgendetwas um soundso viele Pfennige billiger bekommen konnte. Sie kann ihm doch jetzt nicht so einfach sagen, dass da vor einer Viertelstunde drei Männer vom Verfassungsschutz in der Wohnung waren, Rolands Zimmer durchsuchten, Beweismaterial mitnahmen und ihren Ältesten unter dem Verdacht des Landesverrats abgeholt haben. Erzählen schon. Aber auf keinen Fall jetzt.

Vielleicht am Abend. Oder noch besser morgen. Morgen ist gut.

Morgen ist Wochenende. Aber erst dann, wenn er seine Herztropfen eingenommen hat. Ein Glück, dass Jakob und Andi nicht mitbekommen haben, wie ihr ältester Bruder abgeführt wurde. Vor dem Fernseher sagt sie so beiläufig, dass Roland zusammen mit drei Journalisten weggegangen ist. Wahrscheinlich nach München. Beruflich. Er nickt stumm, will jetzt Stahlnetz sehen.

Der nächste Tag. Es läutet. Roland vor der Tür. Brüllt schon draußen im Treppenflur herum. Von Polizeistaat, Nazis, Gestapo, Knechten des Kapitalismus. Einen Dreck hätten die ihm nachweisen können. Da müssten die schon früher aufstehen.

Wohnungstüren gehen auf, Hälse recken sich über das Treppengeländer. Die Mutter weint. Entehrung. In ohnmächtiger Wut bebt der Vater, schließt die Schlafzimmertür hinter sich. Jakob sieht durch das Schlüsselloch, wie er auf der Kante des Ehebetts sitzt und den Rosenkranz betet.

Eine kommunistische Agentin soll seine Franziska sein, der Onkel mit dem Wartburg 313 ein Oberst des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Ein Foto hatten sie ihm als Beweisstück vorgelegt. Und was sagen Sie dazu? Er mit ihr am Coburger Marktplatz. Der Onkel etwas verwischt im Hintergrund. Alle mit Bratwürsten im Brötchen. Lächerlich, doch nicht seine Franziska.

Zukunftspläne hatten sie geschmiedet. Die Liebe in ihren Augen. So etwas kann man nicht spielen. Das hätte er merken müssen. Außerdem hat sie das überhaupt nicht nötig. Sie hat doch ihren Beruf im Büro.

Er schreibt ihr noch am selben Tag. Was ihm da mit dem Verfassungsschutz passiert ist, soll sie ruhig wissen. Unschuldig verdächtigt. Kreuzverhör. Protokoll. Aus der Bürolampe macht er Scheinwerfer. Das wird sie beide noch enger zusammenschweißen, unzertrennlich machen. Auch über die Grenze hinweg. Entsetzt sein wird sie. Aber zugleich auch stolz auf ihren Roland. Ihr Antwortbrief wird, wie immer mit Geliebter beginnen. Früher wäre ihm das altmodisch, ja kitschig vorgekommen.

Wochen vergehen. Der Briefkasten ohne das vertraute grüne Kuvert. Krank, Verkehrsunfall in dem roten Sportflitzer des Onkels. Oder Urlaub in diesem Holzhaus an der Ostsee. Davon hat sie ihm ja immer vorgeschwärmt. Er wirft den zweiten Brief ein.

Adresse und Absender in Druckschrift. Keine Antwort.

Die Eltern schweigen ihn an, übersehen ihn. Ein grauer Schleier legt sich über die Familie. Die jüngeren Brüder fliehen nach der Schule zu ihren Freundinnen. Abends taucht der Fernseher das Wohnzimmer in fahles Licht. Heinz Rühmann, irgendwelche Serien. Gespräche kommen nicht auf. In Rolands Zimmer dreht sich die Jazztrompete von Harry James auf dem Plattenteller.

Der Hausmeister aus dem hellhörigen Erdgeschoss poltert von unten an die Zimmerdecke. Die Eltern legen ihre Zahnprothesen in die Wassergläser, verziehen sich ins Schlafzimmer. Noch einmal sagt die Mutter etwas von Schande. Und womit sie das verdient hat.

Ein handgeschriebener Zettel auf der Schwelle zum Elternschlafzimmer.

Nun seid ihr mich los. Drei Ausrufezeichen. Ein unbenutztes Bett. Er hat sich davongemacht. Im Papierkorb ein Meer von grünen und weißen Papierschnitzeln. Der Duft von schwülem Parfüm steigt daraus hervor. Am Türhaken noch das Sakko mit dem Reisepass in der Brusttasche. Darin ein gefaltetes Papierstück. Amtlich mit Stempel. Zur eventuellen Klärung weiterer Fragen habe er sich am Wohnort zur Verfügung zu halten. Kenntnis genommen. Seine Kugelschreiberunterschrift mit ausladenden Anfangsbuchstaben des Vor- und Familienamens.

Ein Foto mit dem blonden Lockspitzel in diesem flachen Cabrio ist seiner Zerreißwut entgangen und liegt im Pass wie ein Heiligenbildchen im Gesangbuch. Sie kann jetzt verstehen, dass ihr Ältester in diese Falle getappt ist. Wie die Audrey Hepburn. Bloß in Blond. Bei dem Gedanken, dieses Mädchen einmal den Damen ihres wöchentlichen Lesekreises als die Braut meines Ältesten vorzustellen, wird sie rot. Steckt das Foto angewidert zurück. Sie weiß, dass er wiederkommen wird. Den Pass hat er absichtlich im Jackett gelassen. Scheingrund, hier wieder auftauchen zu können. Kostenlos bekocht und bewaschen. Die Bequemlichkeit wird er zu schätzen wissen.

Er ist wieder einmal da. Wie erwartet zu später Stunde. Papiere vergessen und so. Dass man ihn so spät nicht mehr in die Nacht hinaus jagt, weiß er. Und dass seine Mama ihm jetzt noch ein paar belegte Brote macht, weiß er auch.

Immer wieder hat sie sich gefragt, wie er so werden konnte, wie er ist. Die drei Jüngeren sind doch genauso erzogen worden.

Eine schwere Geburt ist er gewesen. Noch jetzt trägt er die beiden Vertiefungen der Geburtszange an den Schläfen. Oder ist es der Volkssturm, zu dem sie ihn mit Karabiner, Panzerfaust und Handgranate eingezogen hatten. Mit vierzehn.

Sein Bett ist immer noch bezogen. Er bleibt. Die angebliche Wohnung in München soll erst Ende des Monats frei werden.

Da hat er übrigens interessante Leute kennen gelernt. Die von der Deutschen Reichs Partei. Vor den Brüdern schwadroniert er jetzt über die Herstellung der Grenzen von neunzehnhundertfünfunddreißig. Dafür kämpfe die DRP. Jakob will sehen, wie so ein Mitgliedsausweis aussieht. Der ist noch in Bearbeitung.

Und die Partei wird ihm dann auch in München beruflich weiterhelfen. Seine Mutter holt ihn auf die Erde zurück, hält ihm das Schreiben vom Verfassungsschutz unter die Nase.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839