Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 54

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

SOS

Gun­ther, dem Zuver­läs­si­gen, dem Beschei­de­nen ist es immer pein­lich, wenn der Vater jedem Besuch gleich die­se Fremd­wor­te um die Ohren haut. Sti­pen­di­um, Poly­tech­ni­kum Mün­chen. Er selbst nimmt die­se neu­en Wor­te kaum in den Mund.

Eigent­lich war er eher erschrocken vor dem gan­zen Rum­mel um ihn. Sein unschein­ba­res Gesel­len­stück wochen­lang im Schau­fen­ster auf der Moh­ren­stra­ße. Manch­mal klei­ne Grup­pen davor, die dort hin­ein deu­te­ten. Älte­re Leu­te, die ihm nach dem Got­tes­dienst auf die Schul­ter klopf­ten. Eine Ehre für alle Ober­schle­si­er soll­te das angeb­lich sein. Von so einer Schei­ße will er erst recht nichts wis­sen. Unter denen gibt es genau so vie­le Arsch­lö­cher, wie bei allen anderen.

In der The­re­si­en­stra­ße hat er sich für drei­ßig Mark eine möblier­te Bude gemie­tet. Bei der Wit­we Moos­bich­ler. Da ist er gut auf­ge­ho­ben. Wie eine Mut­ter behan­delt die ihn. Wahr­schein­lich hat sie ihren Sohn im Krieg ver­lo­ren. In ihrer Küche ein gerahm­tes Foto von einem ganz jun­gen Kerl in der schwar­zen Uni­form der Pan­zer­fah­rer. Aber er hat sich nicht zu fra­gen getraut. Von ihr hat er gleich am ersten Tag gelernt, dass die Mün­che­ner zum Ret­tich Radi sagen.

Mogst an Radi? Er hat­te hilf­los gelä­chelt. Danach war sie in ihrer Küche ver­schwun­den, kurz dar­auf mit Tel­ler samt einer selt­sa­men Ret­tich­spi­ra­le wie­der in sei­nem Kabuff auf­ge­taucht. Ihm gefiel, dass sie ihn trotz sei­ner zwan­zig duzte.

*

Mit zwei voll gepfropf­ten Schmutz­wä­sche­kof­fern. war er nach Coburg gekom­men Die­sen Wust sei­nes ersten Jung­ge­sel­len­haus­halts hat­te die Mama in Sta­pel gebü­gel­ter Hem­den, Platz spa­rend zusam­men geleg­ter Unter­ho­sen und Hand­tü­cher, exakt inein­an­der gestülp­ter Socken­paa­re ver­wan­delt. In einer hal­ben Stun­de fährt sein Zug nach München.

Den gan­zen Nach­mit­tag über läuft immer noch das Radio. Inzwi­schen kom­men die unga­ri­schen Flücht­lin­ge schon über die Gren­ze nach Öster­reich. Man­che sagen den Repor­tern, dass sie nach Ame­ri­ka aus­wan­dern wollen.

Wirst du sehn, die kom­men auch zu uns nach Coburg.

Der Andi hat sei­nen Schul­at­las geholt, mit Line­al und Maß­stab fest­ge­stellt, dass es unge­fähr sechs­hun­dert Kilo­me­ter sind. Vom Cobur­ger Flug­platz oben auf der Bran­den­steins­ebe­ne bis nach Buda­pest. Die Mama zieht die Bügel­schnur aus der Steck­do­se, schüt­telt lang­sam den Kopf. Und da hat man geglaubt, man ist hier sicher. Sie hat sich auf die durch­ge­ses­se­ne Couch gesetzt.

Fast sieht es aus, als ob sie betet. Dabei dreht sie nur in Gedan­ken ver­lo­ren an ihrem Ehering.

Jakob sieht sie heim­lich von der Sei­te her an. Ihr einst schwarz­brau­nes Haar von Sil­ber­fä­den durch­zo­gen. Er wird jeden tot­schla­gen, der ihr was antun wür­de. Einen Ham­mer wird er dem Täter ein­fach auf den Kopf schmet­tern. Und wenn dem dann sein Gehirn raus spritzt, na und. Oder mit der Axt. Ein­fach mit aller Wucht den Schä­del spal­ten. Wie oft hat er ihr schon Geld geklaut. Ihr knap­pes Haus­halts­geld. Kino, Eis beim Panciera.

So, mit dem Ham­mer oder mit der Axt könn­te er sei­ne gan­ze Schein­hei­lig­keit und Geld­klaue­rei wie­der gut­ma­chen, wuchert ihm sei­ne Fantasie.

Andi lauscht sich die lei­se­sten Geräu­sche aus dem Laut­spre­cher her­aus. Jetzt ist er auf­ge­regt, winkt alle her­bei, legt den Zei­ge­fin­ger an den Mund. Aus dem Rau­schen, Pfei­fen, Quiet­schen und Knar­ren von atmo­sphä­ri­schen Stö­run­gen und Stör­sen­dern hat sein Ohr etwas her­aus gefil­tert. Er dreht am Laut­stär­ke­reg­ler. Da zwängt sich wie­der eine Män­ner­stim­me durch alle Neben­ge­räu­sche, redet in Deutsch. Der typi­sche unga­ri­sche Akzent, den sie schon von der Mari­ka Rökk ken­nen. Die Stim­me ruft alle Völ­ker der Welt auf, nennt sich Frei­heits­sen­der Ungarn, ruft SOS, schreit nach Hil­fe. Rich­ti­ge Hil­fe brau­chen sie vom Aus­land, Waf­fen und Sol­da­ten. Jakobs Mund formt, wie in Kin­der­ta­gen, sei­ne wei­ner­li­che Achtlippe.

Gun­ther kommt auf Zehen­spit­zen zum Radio, damit die Die­len nicht so knar­ren. Die Mama sitzt immer noch auf der durch­ge­ses­se­nen Couch. Noch klei­ner als sonst, zusam­men­ge­sun­ken, hat sich mit der Schür­ze heim­lich die Augen gewischt. Mit dem Sen­der­su­cher steu­ert Andi mil­li­me­ter­wei­se den schwan­ken­den Emp­fang aus. Die Stim­me dringt jetzt wie­der klar durch.

…Frau­en, Müt­ter, Töch­ter sind bedroht…ungarische Freiheitsglocken…reicht uns eure brü­der­li­che Hand…rettet uns…Gott mit euch und uns.

Schüs­se Peit­schen. Rau­schen. Andi kann den Sen­der nicht mehr auf­spü­ren. In fünf­zehn Minu­ten geht Gun­thers Zug. Umarmen.

Jakob schnappt sich einen der Kof­fer, pol­tert damit die Trep­pe hin­un­ter. Im Hin­ter­hof das Hand­wä­gel­chen. Gun­ther schmeißt sei­nen dazu, will dem jüng­sten Bru­der beim Zie­hen hel­fen. Der winkt ab. Der darf doch nicht mit­krie­gen, dass er heult. Er schmeckt sein Trä­nen­salz, schnaubt sich die grü­nen Rotz­fla­den aus den Nasen­lö­chern. Tut so, als ob er Schnup­fen hät­te. Beim kur­zen Umdre­hen eine Erlö­sung. Der Gun­ther heult auch. Und der ist über zwan­zig. Noch die hal­be Kreuz­wehr­stra­ße lang wer­den sie von ihrem Wim­mern geschüt­telt. Dann gehen sie mit ver­quol­le­nen Augen hin­ter­ein­an­der her und sind dem Rat­tern der Hand­wa­gen­rä­der dank­bar, dass sie nichts zu sagen brau­chen. Zum Bahn­steig will der Gun­ther allein gehen.

*

Die Mama kur­belt die Brot­schnei­de­ma­schi­ne. Schnit­ten mit der Cer­ve­lat­wurst vom Pfer­de­metz­ger gegen­über. Am Radio klebt immer noch der Andi, will nicht glau­ben, dass es vor­bei ist mit den Ungarn. Den Atlas und sein Line­al soll er vom Tisch räu­men. Jetzt ist Abend­brot­zeit. Jeden Augen­blick muss der Papa vom Dienst kom­men. Der Tee zieht schon.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Episoden
Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839