Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 52

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Knast

Der Stop­ka sucht Män­ner­stim­men. Der will den Gre­go­ria­ni­schen Cho­ral in Sankt Augu­stin ein­füh­ren. Es soll genau so klin­gen, wie im Klo­ster Mün­ster­schwarz­ach. Andi und Jakob üben ger­ne in der lee­ren Kir­che. Das hallt so schön. Und der Atem steigt in der Käl­te aus dem Mund wie Zigarettenrauch.

Der Stop­ka hat gesagt, dass die Sachen bis Weih­nach­ten sit­zen müs­sen. Zuerst übt er mit ihnen Puer natus est und Ade­ste fide­les. Dann gehen sie alle acht hin­über in die Wär­me­stu­be. Dort bul­lert noch der gro­ße Eisenofen.

Er will mit ihnen im Land­ge­richts­ge­fäng­nis für die Häft­lin­ge sin­gen. Natür­lich nicht in Latein. Das wür­den die sowie­so nicht ver­ste­hen. Ein­fa­che Lie­der. Wo die sich an ihre Kin­der­zeit erin­nern. Stil­le Nacht, hei­li­ge Nacht hat sich der Stop­ka als Schluss­lied auf­ge­ho­ben. Dabei hät­ten sei­ner­zeit sogar die Sol­da­ten in Sta­lin­grad geweint. Mit dem Gefäng­nis­di­rek­tor hat er alles bespro­chen. Ein Pastor wird eine klei­ne Andacht mit Pre­digt hal­ten und sie wer­den drei­vier Lie­der singen.

*

Es ist drei­vier­tel fünf. Auf dem Weg hier­her haben sie schon vie­le elek­tri­sche Christ­bäu­me in den Woh­nun­gen gese­hen. Jetzt ste­hen sie vor dem düste­ren Gefäng­nis­klotz. Aus dem undurch­sich­ti­gen Glas der Knast­fen­ster kal­ter Schein der Zellenbirnen.

Der Stop­ka steht ganz oben auf der Gefäng­nis­trep­pe, hat gera­de den Klin­gel­knopf gedrückt. Ein kur­zes Gespräch in den Tür­spalt hin­ein. Er winkt alle hoch. Ein Wär­ter sperrt hin­ter ihnen ab, sperrt den Vor­raum auf. Eine Stein­trep­pe. Die Gefäng­nis­ka­pel­le. Von der Empo­re wer­den sie in den kah­len Raum hin­un­ter sin­gen. Schrit­te schlur­fen. Gemur­mel. Ein­zug von denen da unten in Zwei­er­rei­hen. Ver­tei­lung auf die Sitz­bän­ke. Arbeits­klei­dung, man­che in Zivil. Kei­ner wen­det den Blick zu ihnen hoch.

Ein knö­chel­lan­ger Talar. Ein wei­ßer Kra­gen. Das Kreuz an der Ket­te. Der Pastor spricht von unserm Herrn Jesus. Und dass wir jetzt alle beten, wie er uns zu beten gelehrt. Das Kind in der Krip­pe habe alle aus der Knecht­schaft der Sün­de geführt. Und, wer ohne Sün­de ist, der wer­fe den ersten Stein.

Der Stop­ka hat den Blick des Pastors auf­ge­fan­gen. Zu Beth­le­hem gebo­ren ist uns ein Kin­de­lein. Ein Zwi­schen­ge­bet. Oh, du fröh­li­che. Es ist ein Ros ent­sprun­gen. Der Pastor erteilt den Segen und geht. Der Stop­ka war­tet noch, bis er hört, wie die Kapel­len­tür zuschnappt. Stil­le Nacht. Bevor sie sich die Keh­len vor Rüh­rung zuschnü­ren las­sen, stim­men die Män­ner da unten mit ein. Andäch­tig grö­len, brum­men und sum­men die Gefan­ge­nen. Drei Mal die erste Strophe.

Die Bank­rei­hen lee­ren sich. Ein Mann bleibt sit­zen, hat den Kopf in bei­de Hän­de gestützt. Hell­blon­des Haar, glatt nach hin­ten gekämmt, wuchert über den Jacken­kra­gen. Sie trau­en sich noch nicht, von der Empo­re her­un­ter zu stei­gen. Eine grü­ne Uni­form­jacke zupft den Blon­den am Ärmel. Mit gesenk­tem Blick geht er dem Aus­gang zu.

Der Jan­kow­ski. Jakob erkennt ihn sofort. Inzwi­schen ein Mann gewor­den, aber er ist der Jan­kow­ski. Der Fahr­rad­dieb, das Ekel, der Arbeits­scheue. Von die­sem Fies­ling hat­te er vor drei Jah­ren den Kniet­ritt in die Eier bekom­men. Ohne Vor­war­nung. Nach­dem der dunk­le, unbe­schreib­li­che Schmerz ver­klun­gen war, hat­te er die­sem Dreck­sack mit vol­ler Wucht in die Fres­se geschla­gen. Und das, obwohl er erst drei­zehn war.

Die knar­ri­gen Stu­fen. Andi fragt den Bru­der ins Ohr, ob er den Jan­kow­ski auch ent­deckt hat. Im kah­len Gang sieht er noch, wie der Wär­ter hin­ter dem Jan­kow­ski abschließt. Wenn Jakob könn­te, wür­de er den Jan­kow­ski jetzt ein­fach raus las­sen. Aber den Tritt in die Eier, den wird er ihm nie verzeihen.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den. Von Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839