Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 47

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Audie Murphy

Das Thermometer des Mansardenzimmers im vierten Stock zeigt 32 Grad. Bevor er ins Freibad darf, muss er noch zusammen mit seiner Mutter die anthrazitgrauen und metallisch blauen Schmeißfliegen aus dem Dachzimmer jagen. Die klebrigen Fliegenfänger an der Decke schaffen es nicht mehr, sind schon mit Strampelnden und Toten übersät. Die Fensterfront wird geöffnet. Treibjagd mit Tüchern. Dasselbe noch einmal. Fenster zu.

Diese Stille jetzt.

Jakob hat sich ein Handtuch in die Wolldecke gerollt. Das Bündel soll sich gut auf den Gepäckträger klemmen lassen. Um halb zwei will er bei seiner Clique sein. Hinten beim Plantschbecken neben den riesigen Trauerweiden haben sie immer ihr Lager. Da sonnen sich auch immer gute Weiber. Allein hätte er sich nicht getraut, die anzusprechen.

Die Mutter bittet ihn, noch da zubleiben. Sie muss sich erst um Fräulein Rathke kümmern. Der geht es mal wieder nicht gut – die alte Herzgeschichte. Wahrscheinlich ist vorher noch rasch etwas aus der Apotheke zu holen. Den Doktor Trapp habe sie schon über das Telefon vom Herrn Pelikan angerufen. Jetzt müsse man halt warten. Der sollte doch jeden Moment da sein.

Jakob schaut aus dem Fenster auf die Raststraße hinunter.

Mit dem Blechtöpfchen schöpft er Wasser aus dem Kücheneimer, lässt es tropfenweise auf die Dachziegeln rinnen, beobachtet, wie die gespeicherte Hitze die Wasserflecken zusammenschrumpfen lässt.

Der hellgrüne DKW mit dem kleinen Arztschild im Heckfenster hat vor der Pferdemetzgerei gehalten. Doktor Trapp mit dem schwarzen Arztköfferchen. Schon oft hat Jakob ihn so kommen sehen. Regelmäßig muss er dann ein Medikament für Fräulein Julie Rathke besorgen. Immer dasselbe. Ein braunes Fläschchen, irgendetwas mit Weißdorn.

Obwohl die Mohrenapotheke viel näher ist, nimmt er den weiteren Weg bis zum Markt. Die uralten Gewölbe in der Hofapotheke und das verblichene Gemälde an der Außenmauer hatten ihm schon gefallen, als er vor sechs Jahren als Neunjähriger in die Stadt gekommen war.

Der Doktor ist jetzt oben im obersten Stock angekommen. Jakob hört, wie er seine Mutter draußen im Gang begrüßt.

Das Warten scheint ihm eine Ewigkeit zu sein. Jetzt wird sich die Clique im Bad schon längst um die Weiberdecken herum gruppiert haben. Garantiert sind alle schon mindestens zwei Mal im Wasser gewesen, haben mit ihren Sprüngen vom Dreier angegeben, sich danach mit Speiseöl gegenseitig die Buckel eingeschmiert.

Draußen im Flur lautere Geräusche. Dinge, die an die Wände stoßen. Dieses Mal muss es doch etwas Ernsteres sein. Sanitäter werden mit der Krankenbahre gekommen sein, um Frau Rathke ins Landkrankenhaus zu bringen.

Die Mutter öffnet die Zimmertür einen Spalt breit. Er solle jetzt noch warten. Sie käme gleich. Bald verstummen die Geräusche.

Nur noch gedämpfte Stimmen aus Fräulein Rathkes Stube.

Der Nachmittag im Bad ist sowieso schon verschissen. Wenn er jetzt seine Decke als Nachzügler bei den Trauerweiden ausbreiten wollte, wäre der Ring um das Weiberlager schon geschlossen gewesen. Sich auf Gnade und Barmherzigkeit in irgendeine Lücke legen zu dürfen – da verzichtet er lieber ganz. Jeden Moment muss die Mutter hereinkommen, ihm das neue Weißdornrezept mit der unleserlichen Unterschrift vom Trapp samt Geldschein in die Hand drücken. Er wird sich auf seinen Schleifer schwingen und zur Apotheke strampeln.

Dringend muss er jetzt pinkeln. Zuerst spielt er noch mit dem Gedanken, in eine leere Blumenvase zu schiffen. Das Zeug könnte er in die leicht erreichbare Dachrinne kippen.

Fräulein Rathke musste jetzt schon im Landkrankenhaus sein.

Da stört er keinen, wenn er durch den Flur zum Gemeinschaftsklo geht. Durch das Schlüsselloch erkennt er, dass die Lampe im Flur angeknipst ist. Er presst die Klinke fest an die Tür, bevor er sie herunter drückt.

Fräulein Rathke liegt im offenen Sarg vor ihm. Die Glühbirne der Deckenlampe im Gang wirft einen gelblichen Schimmer auf ihr Gesicht. In der Türecke beim Lichtschalter der Sargdeckel.

Hochkant. Ihr Silberhaar mit den strengen Brennscherenlocken ist ihr straff aus dem Gesicht nach hinten gekämmt worden. Die schneeweißen, kunstseidenen Spitzen ragen über den Sargrand hinaus. Mit ihrem wachsglatten Gesicht scheint sie Jakob eine Unendlichkeit entfernt zu sein.

Er drückt die Wohnzimmertür geräuschlos zu, setzt sich in den Sessel mit der gebrochenen Sprungfeder. Türen – Männerstimmen – Holzgepolter. Geräusche hallen aus dem Treppenhaus.

Männer geben sich gegenseitig Trageanweisungen.

Die Mama kommt ins Wohnzimmer. Sie blicken sich ratlos an.

Auf die Tropfen habe Fräulein Rathke immer so Sodbrennen gekriegt. Da habe sie das Zeug ein paar Tage abgesetzt. Bis auf das Rheuma im linken Arm sei es ihr richtig gut gegangen.

Na dann fahr jetzt in dein Bad. Ist ja auch noch verflucht heiß.

Sie werde sich jetzt erstmal ein Fußbad mit Pril in der kleinen Zinkwanne machen.

Er nimmt sein Badebündel, legt es aber dann doch im Hinterhof auf eine Holzkiste. Ziellos kurvt er in der diesigen Nachmittagshitze umher, versucht die ausgeflossenen, breiigen Teerstellen im Asphalt mit dem Vorderrad zu treffen, hält sich dann an der Blechüberdachung vom Kinoschaukasten der Central-Lichtspiele fest, überfliegt die sonnengegilbten, kolorierten Fotos der Voranzeige und des laufenden Programms.

Für die eine Mark und zehn Pfennige wäre er ins Schwimmbad gekommen und hätte sich da sogar noch eine Pepsi leisten können. Doch dann hört er sich an der Kinokasse einmal zweites Parkett sagen. Keine Kartenabreißerin nimmt ihn mehr in Empfang. Der Film mitten in der Handlung. Das kleine Kino so gut wie leer.

Sein freundlicher Audie Murphy dieses Mal der Anführer eines Siedlertrecks. Brandpfeile zischen auf die Planwagen zu. Er klappt seinen Parkettsitz herunter. Die Siedler schießen durch die Speichen, Zugpferde wiehern, bäumen sich auf. Audie gerät dann sogar noch in den Verdacht, ein Verräter zu sein. Die Siedler wollen ihn lynchen, aber der Indianerhäuptling selbst hilft ihm dabei, seine Unschuld zu beweisen.

Als er nach einer Stunde aus dem Kino kommt, umfängt ihn nicht die gewohnte Dunkelheit. Das gleißende Tageslicht des späten Julinachmittags dringt in seine Augen wie ein ätzender Stoff. Unter dem Schaukasten sein Fahrrad.

Er spürt die Lenkergriffe aus Hartgummi, sieht die klobige Lampe mit dem Schalter für Weit- und Nahlicht vor sich, hört das Schleifgeräusch der Kette am verbogenen Kettenschutz.

Seltsam blass dämmert in ihm das Fräulein Julie Rathke wieder ins Gedächtnis hoch.

Er hat Hunger auf Rama – Brote und gepfefferten Tomatensalat mit Zwiebeln. Das Bild von der Frau im offenen Sarg will sich aber beim Pedaletreten noch nicht einstellen. Wie gewohnt stößt er das Hoftor mit dem Vorderreifen auf und lässt sein Rad in den ausgeleierten Maschendrahtzaun gleiten. Die Treppen bis zur Mansarde im vierten Stock nimmt er wie immer im Doppelstufenschritt. Seine Mutter steht in Fräulein Rathkes Wohnstübchen. Die Fenster mit den Tüllgardinen hat sie weit geöffnet.

Das macht man so – wegen der Seele. Damit die frei fliegen kann.

Er geht in das Zimmer der Gestorbenen.

Er stellt sich vor die steingutene Waschschüssel, die auf einer Kommode mit weißer Marmorplatte steht, schaut in den angelehnten Spiegel mit den vielen blinden Randflecken. In den Borsten ihrer Haarbürste kräuseln sich Silberfäden. Das Fläsch- 1chen mit den Herztropfen aus der Hofapotheke. Im Bücherregal der Guckkasten, den Fräulein Rathke ihnen einmal ausgeliehen hatte. Damit konnte man ein bräunliches Doppelfoto durch zwei Linsen betrachten. In einem Kästchen aus Edelholz hatte sie einen ganzen Stapel dieser räumlichen Bilder, den Dresdener Zwinger, das Deutsche Eck, Brandenburger Tor, Schloss Sanssouci.

Seine Mutter gießt das seifenflockige Waschwasser von Fräulein Rathkes Morgentoilette ins Klo, lüftet das Bett, stellt die Hausschuhe darunter und beginnt mit dem Staubwischen.

Ein Freigeist sei sie gewesen. Habe nur an irgendein höheres Wesen geglaubt. Aber eine Seele von Mensch. Der Herrgott wäre ungerecht, wenn die nicht in den Himmel käme.

Den Männern von der Pietät hab ich gesagt, sie sollten ihr die Hände zum Beten falten.

Dabei funkelt sie spitzbübisch aus den Augen.

Den Audie Murphy braucht er nicht mehr.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839