Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 46

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Erb­sen

Ein Glas­rohr will er sich beim Opti­ker in der Moh­ren­stra­ße kau­fen. Auf die Fra­ge nach dem Ver­wen­dungs­zweck ant­wor­tet Jakob, sie müss­ten zu Hau­se Expe­ri­men­te für den Che­mie­un­ter­richt durch­füh­ren. Das sei wohl die moder­ne Schu­le von heu­te, meint der Opti­ker mit aner­ken­nen­dem Unter­ton. Zu sei­ner Zeit habe es so etwas noch nicht gege­ben. Nimmt den Glas­schnei­der, ritzt einen Meter ein und über­lässt ihm die zwei Hälf­ten kosten­los. Jun­ger Fleiß müs­se schließ­lich belohnt wer­den. Jakob dankt artig und spürt den hei­ßen Blut­schwall in den roten Ohren, als er durch das Ding­dong der Laden­tür wie­der in die Stra­ße ein­taucht. Dem Kriegs­krüp­pel ohne Bei­ne, der wie immer sei­nen ihm noch geblie­be­nen Rumpf an die Haus­wand lehnt, tritt er auf den Rand sei­ner Sitzunterlage.

Der jun­ge Mann sitzt sowie­so immer da, hat sich auf dem Geh­steig den hal­ben Qua­drat­me­ter eines eige­nen Woll­decken­rei­ches ein­ge­rich­tet und dudelt auf sei­ner Mund­har­mo­ni­ka, den Blech­tel­ler vor sich. Etwas Kup­fer und Mes­sing klim­pert von Zeit zu Zeit, wenn Müt­ter oder Omas einem Kind etwas in die Hand gedrückt haben. An sei­nen Gams­bart­hut hat er eine Unmen­ge von email­lier­ten Abzei­chen und ble­cher­nen Edel­weiß­blü­ten fest­ge­steckt. Ein Jäger, ein För­ster ohne Beine.

*

Aus­ge­sorgt hät­ten die. Eine Rie­sen­ren­te und dann noch hier auf arm machen. Unser­ei­ner hat Haus, Hof und Hei­mat verloren.

Uns gibt auch kei­ner was.

Immer wie­der hat Jakob so etwas gehört. Wenn sich die Eltern am Markt, in den Stra­ßen, nach dem Sonn­tags­got­tes­dienst oder auf Fami­li­en­fei­ern mit irgend­wel­chen Flücht­lin­gen aus­quat­schen. Allein der Roll­stuhl sei ein Ver­mö­gen wert. Die Bein­pro­the­sen müss­ten schließ­lich aus Steu­er­gel­dern bezahlt werden.

Aber die machen sich einen fei­nen Lenz.

Wer nicht arbei­tet, der soll auch nicht essen, sagt der Mann mit den nas­sen Mund­win­keln. An dem Spruch sei schon was Wah­res dran. Nicht alles sei damals schlecht gewesen.

Jakob malt sich aus, der Mund­har­mo­ni­ka­mann hor­te das Geld bün­del­wei­se unter der Matratze.

*

Er steht am Wei­her­rand im Park von Schloss Hohen­fels. Qua­ken der Frö­sche erfüllt die Luft in rhyth­mi­schen Wel­len. Das dich­te Tep­pich­ge­flecht aus leuch­tend grü­nen Was­ser­lin­sen scheint ihm fast begeh­bar zu sein. Nur die Mas­sen der Frosch­au­gen­paa­re erin­nern dar­an, dass es ein Gewäs­ser ist.

Gan­ze Tür­me von sich paa­ren­den Tie­ren hocken auf­ein­an­der, schwan­ken unter der Was­ser­flä­che, wenn eines dazu kommt oder sich aus dem Paa­rungs­pa­ket löst. Lang­sam geht Jakob den Ufer­rand ab. Ein Plat­schen, wenn sich einer mit gestreck­tem Sprung vor ihm in Sicher­heit bringt. Ein Loch im wie­sen­glei­chen Was­ser­tep­pich, das sich schnell wie­der schließt. Am gegen­über lie­gen­den Teich­rand der Rie­se. Die Dop­pel­b­la­se in bläu­li­chem Weiß aus dem Maul gequetscht. Ducken, anschlei­chen, lauern.

Er greift in die Leder­ho­sen­ta­sche, schiebt sich eine har­te Erb­se in den Mund, feuch­tet sie ein, spürt den Hauch ihres Geschmacks. Die Zun­ge schiebt sie in die Öff­nung des Glasrohrs.

Gut, dass er es mit dem klei­ne­ren Durch­mes­ser genom­men hat.

Sein Brust­korb hebt sich. Die Zun­gen­spit­ze ver­schließt das Rohr. Er presst die Luft, bis er nichts mehr hört und lässt ihre gan­ze Gewalt auf die klei­ne Erb­se los. Das präch­ti­ge Tier hat ihn im Lie­bes­tau­mel nicht sehen kön­nen, war in sein Quak­lied ver­tieft. Ihm gelingt nur noch ein Sprung in die Teichlinsen.

Doch dar­auf bleibt es lie­gen. Die Bla­se ist ver­schwun­den. Mit starr gestreck­ten Schen­keln ver­zit­tert es, neigt sich zur Sei­te, lässt den wöl­bi­gen, wei­ßen Bauch sehen. Jakob ist zufrieden.

Beim näch­sten Mal wird er das glat­te, nicht das schar­ti­ge Roh­ren­de in den Mund neh­men. Er schmeckt das Salz des Blu­tes auf der Zun­gen­spit­ze. Die Mama wird ihm zu Hau­se Geron­ne­nes aus dem Mund­win­kel wischen. Er wird irgend­et­was von auf die Zun­ge gebis­sen sagen. Wird wie­der die­se lästi­ge Sache mit den hei­ßen Ohren kriegen.

*

Erst beim Packen der Schul­ta­sche wird ihm die schlim­me rote Zahl auf der Mathe­ma­tik­schul­auf­ga­be wie­der bewusst. Mit einer hauch­dün­nen Feder ver­ächt­lich hin­ge­setzt. Dazu noch mit einem nicht ein­mal geschlos­se­nen Kreis umzin­gelt. Nach dem Abend­essen übt er die Unter­schrift der Mut­ter. Er kann sie noch nicht gut. Der Fami­li­en­na­me geht schon, aber das gro­ße H von Hed­wig kriegt er ein­fach noch nicht hin. Er will sie nicht ent­täu­schen, kennt die­sen Glanz in ihren Augen, wenn sie trau­rig ist, sich das aber nicht anmer­ken las­sen möchte.

Der Stu­di­en­rat hat­te ihm die Schul­auf­ga­be als Letz­tem gege­ben und dabei in eine ande­re Rich­tung geblickt. Schlim­mer, als wenn er ihn zusam­men­ge­brüllt hät­te. Hin­ter einem ellen­lan­gen, ver­zwei­fel­ten Lösungs­ver­such stand in schrei­en­dem Rot Blan­ker Unsinn mit drei Aus­ru­fe­zei­chen. Die­se ver­fluch­ten Scheiß­glei­chun­gen mit ecki­gen und run­den Klam­mern wol­len ein­fach nicht in sei­nen Kopf.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839