Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 45

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Unter­gang

Per­sil bleibt Persil.

An sol­che Pla­ka­te ist er gewöhnt. Aber die Rekla­me­säu­le bei dem Pis­soir an der Moh­ren­brücke sieht heu­te irgend­wie anders aus. Ein über­gro­ßes wei­ßes Pla­kat. Fet­te schwar­ze Schrift. Da ste­hen schon Leu­te. Kopf­tuch­frau­en mit Ein­kaufs­ta­schen. Ein Spa­zier­stock­mann. Der Bein­am­pu­tier­te auf Krücken.

Das Geheim­nis der gro­ßen Pyra­mi­de ist entschlüsselt!
Das Ende der Welt kommt noch in die­sem Jahr!
Tuet Buße!
Bekeh­ret euch!
Auch du kannst zu den 144 000 Gerech­ten gehören!

Jakob muss mit einem Rezept noch schnell zur Apo­the­ke. Auf dem Heim­weg bleibt er wie­der an der Säu­le ste­hen. Die klei­ne Grup­pe von vor­hin hat sich zer­streut. Er liest noch ein­mal. Er hat sich nicht geirrt. Das Ende der Welt soll kom­men. Nicht irgend­wann. In die­sem Jahr noch. Pyra­mi­den­for­scher haben das her­aus­ge­fun­den. Alles Erwach­se­ne. Klu­ge Leute.

In Chi­na soll es roten Regen gege­ben haben, hat er vor ein paar Tagen im War­te­zim­mer vom Den­ti­sten gele­sen. Der Him­mel reg­ne­te Blut! So hat­te es gehei­ßen. Das Bau­ge­rüst der Kir­che in der Bahn­hof­stra­ße. Vor eini­ger Zeit war es zusam­men gekracht.

Ein­fach so. Über tau­send Tote bei dem Erd­be­ben in der Türkei.

Sind das nicht Zei­chen, dass die Sache mit dem Unter­gang stimmt? Gele­sen hat­te er auch, dass der Mond sei­ne Bahn immer enger zie­he und eines Tages sowie­so auf die Erde stür­zen wer­de. Das kön­ne man sogar in der Bibel nach­le­sen, hat­te es da gehei­ßen. Für alle wäre die Sache mit dem Mond kurz und schmerzlos.

In FOX TÖNEN­DE WOCHEN­SCHAU haben sie vor Don Camil­los Rück­kehr gezeigt, wie eine Was­ser­stoff­bom­be explo­diert. Mehr Spreng­kraft, als alle Geschüt­ze vom 2. Welt­krieg zusam­men. So kön­ne das Ende der Welt aus­se­hen, hat der Spre­cher gesagt.

*

Zu Hau­se erzählt er vom Pla­kat am Kiosk. Die Brü­der bie­gen sich vor Lachen. Die Pyra­mi­de? Ein toter Stein­klotz mit ein paar ein­ge­wickel­ten Lei­chen. Bau­ern­fän­ge­rei, fau­ler Zau­ber, winkt der älte­ste Bru­der ab. Sek­ten­schei­ße aus Ame­ri­ka. Inzwi­schen hat auch der Vater auf dem Heim­weg von der Spar­kas­se das Pla­kat gese­hen. Der kennt sich in der Bibel aus. Zorn­adern auf der Schlä­fe. Mit Sek­ten darf man ihm nicht kommen.

Ihr wis­set weder den Tag noch die Stunde.

*

Bis zum Abend­essen ist das The­ma erle­digt. Den Welt­un­ter­gang gibt es nicht mehr. Die Fami­lie hat sich um das Radio gruppiert.

In der Stu­ben­däm­me­rung das magi­sche grü­ne Auge des Appa­rats. Für die­se Pegel­an­zei­ge ist Andi zustän­dig. Patri­cia und die Juwe­len – fünf­te Fort­set­zung. Die Hel­din in Gefan­gen­schaft der Gangster.

Das haben Sie davon, Patri­cia. War­um stecken Sie Ihre Nase in unse­re Angelegenheiten?

Die eke­li­ge Stim­me vom Boss. The­ma­me­lo­die. Ansa­ge der näch­sten Fort­set­zung. Kurz noch mal die Voka­beln wie­der­ho­len. Ab ins Bett.

*

Den Welt­un­ter­gang am Pis­soir hat jemand heruntergerissen.

Nur in klei­nen Strei­fen hat sich das Ding abfet­zen las­sen. Dar­un­ter sind Kaf­fee Haag und Coca Cola zum Vor­schein gekommen.

Kei­ner spricht mehr davon. Nicht ein­mal Wit­ze wer­den über den Welt­un­ter­gang geris­sen. In den Schau­kä­sten des Cobur­ger Tage­blatts und der Neu­en Pres­se kann Jakob auch nichts finden.

Kein Wort dar­über in den Nach­rich­ten des Baye­ri­schen Rundfunks.

Die Erwach­se­nen haben sich ver­ab­re­det, nichts zu sagen und zu schrei­ben. Wol­len den Kin­dern nicht unnö­tig Angst machen.

Weil man den Welt­un­ter­gang sowie­so nicht auf­hal­ten kann. An die Bom­ben­an­grif­fe denkt er, und dass er als klei­nes Kind im Luft­schutz­bun­ker gewe­sen ist. Aber das hät­te beim Welt­un­ter­gang ja auch kei­nen Sinn.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Him­mel und der Hölle.

In Reli haben sie das dran gehabt. Wei­chet von mir, ihr Ver­fluch­ten. Die­ses Gemäl­de vom Höl­len­sturz der Ver­damm­ten in einem Kunst­band beim Rie­mann am Markt. Mit sei­nem Andi hat er sich die vie­len nack­ten Wei­ber ange­schaut. Dicke Brü­ste und fet­te Bäu­che. Aber die sind schon ver­dammt. Weil sie mit Män­nern rum­ge­vö­gelt haben. Gif­ti­ge Schlan­gen zischen sie an und Ana­kon­das haben sich um sie her­um gewickelt. Dra­chen­köp­fe, Spin­nen und Skor­pio­ne. Vor Angst geschrien haben die Sün­de­rin­nen. Ein voll gefres­se­ner Mann woll­te sei­nen Geld­beu­tel nicht los­las­sen. Alle haben sie ihre gerech­te Stra­fe gekriegt.

Sogar ein Bischof mit der spit­zen Mitra war dabei. Unten im Bild das Flammenmeer.

Das war im Buch beim Rie­mann. Aber jetzt ist es Wirklichkeit.

Rum­ge­vö­gelt hat er mit vier­zehn noch nicht. Aber ande­re Sün­den tau­chen auf. Frisch und gar nicht ver­blasst sind sie. Sachen, die er bei der Beich­te ver­schwie­gen hat. Den Kaplan hat er in Reli und beim Pfar­rer mini­striert er. Die dür­fen doch so etwas nicht wis­sen. Dass er beim Brief­mar­ken­ge­schäft in der Bahn­hof­stra­ße einen gan­zen Satz Vati­kan­mar­ken geklaut hat. Acht Stück. Anno San­to MCML. Als Weih­nachts­ge­schenk. Sogar getät­schelt hat der Vater ihn dafür. Hat gedacht, dass der Jüng­ste sei­ne zwei Mark fünf­zig Monats­geld für ihn geop­fert hat.

Dann die­ser ver­fluch­te Fünf-Mark-Schein, den die Mama in der Kreuz­wehr­stra­ße gefun­den hatte.

Was klim­pert, kannst du behal­ten. Was raschelt, das kommt aufs Fundbüro.

Sie hat­te ihn mit dem grü­nen Geld­schein aufs Rat­haus geschickt. Den könn­te eine arme Krie­ger­wit­we ver­lo­ren haben.

Wenn man den behiel­te, wäre das eine him­mel­schrei­en­de Sün­de. Ob er das Geld auch abge­lie­fert hat? Auf Ehre und Gewis­sen? Genickt hat­te er damals. Und ihr bei sei­ner unver­schäm­ten Lüge sogar noch treu­her­zig in die Augen geschaut. Dabei hat­te er den Geld­schein schon längst bis auf den letz­ten Pfen­nig ver­fres­sen. An der Brat­wurst­bu­de vom Weschen­fel­der. Den Rest beim Atti­lio Pan­cie­ra für Malaga-Eis.

Und jetzt wür­den beim Jüng­sten Gericht sei­ne gan­zen Schwei­ne­rei­en her­aus kom­men. Das mit dem Kaplan, dem Pfar­rer, sogar mit dem Papa ist ihm egal. Die könn­ten ihn ruhig in der Ewig­keit mit Ver­ach­tung stra­fen. Aber wenn die Mama drü­ben in der Ewig­keit nichts mehr mit ihm zu tun haben will, wohin soll er dann gehen?

Er muss etwas tun. Den Brü­dern kann er nicht mehr mit sei­nem Welt­un­ter­gang kom­men. Die haben sich dar­über schon krumm gelacht. Einen Frem­den muss er fra­gen. Einen, der über­haupt nicht weiß, dass er Jakob Kott­ke heißt. Den alten Bier­deckel­samm­ler wird er fra­gen, der in die­ser Schrott­fir­ma im Kano­nen­weg arbei­tet. Der lässt sich jeden Frei­tag in der Gast­wirt­schaft beim Pfer­de­metz­ger mit Sturm’s Bier voll lau­fen, tor­kelt dann nach Hau­se in Rich­tung Schleif­weg. Der hat hin­ter Jakob sogar schon ein­mal Bei­fall geklatscht, als er frei­hän­dig durch die Rast­stra­ße fuhr. Der ist okay, der wird ihn ver­ste­hen, wird ihn nicht auslachen.

Ob er das Pla­kat vom Welt­un­ter­gang auch gele­sen hat. Der Bier­deckel­samm­ler scheint ihn nicht ver­stan­den zu haben. Sagt, er sei in sei­nem Alter im Hand­stand auf dem Len­ker gefahren.

Jakob fragt noch ein­mal. Auf der Wirts­haus­trep­pe dreht sich der Bier­deckel­samm­ler zu ihm um.

Im Him­mel gibt’s kein Bier. Drum trin­ken wir es hier.

Die Erwach­se­nen stecken wirk­lich alle unter einer Decke. Er muss allei­ne etwas tun, muss sei­ne schwar­zen Flecken aus­ra­die­ren, bevor er aus­ra­diert wird.

*

Papas Hei­lig­tum, das Brief­mar­ken­al­bum mit dem Ein­band aus nach­ge­mach­tem Kro­ko­dil­le­der. Er sam­melt nur den Vati­kan. Jakob sucht sein schein­hei­li­ges Weih­nachts­ge­schenk. Die acht geklau­ten Brief­mar­ken Poste Vati­ca­ne. Er holt sie aus der Zel­lo­ph­an­zei­le, grup­piert ande­re Mar­ken etwas locke­rer. Im Brief­marken­la­den an der Bahn­hof­stra­ße blät­tert er zum Schein irgend ein Album durch, lässt sein Die­bes­gut aus der ver­schwitz­ten Hand hin­ein gleiten.

*

Der Schal­ter­raum der Spar­kas­se. Rechts hin­ter einer Glas­wand über sei­nen Schreib­tisch gebeugt der Vater. Ein Schal­ter ist frei gewor­den. Die blaue Spar­büch­se will er lee­ren las­sen. Ein biss­chen Kup­fer und Mes­sing pras­selt auf den Bank­tre­sen. Das zahlt er ein. Der grü­ne Fünf-Mark-Schein. Immer noch vom roten Gum­mi zum festen Röhr­chen geschnürt. Den hat ihm der Opa am Geburts­tag heim­lich zuge­steckt. Den nimmt er mit. Der Vater hat nicht auf­ge­schaut. Auf dem Markt­platz die Rauch­schwa­den der Buden.

Er geht vorbei.

Er hat ein Ziel.

Er hat einen Plan.

Die graue Eisen­brücke mit den vie­len Nie­ten. Von hier oben beob­ach­ten sie immer den Eis­vo­gel. Den blau­en Dia­man­ten, der mit schril­lem Srih pfeil­schnell über dem Stadt­fluss schwirrt. Er holt das Geldröll­chen aus der Hosen­ta­sche, streift den Gum­mi ab. Das schö­ne grü­ne Fünf-Mark-Mäd­chen mit den locki­gen Haa­ren. Er reißt es in Strei­fen, lässt sie ein­zeln über das Gelän­der fal­len. Der Wind treibt sie vor sich her, bis sie auf dem trä­gen Was­ser auf­set­zen und unter der Bahn­hofs­brücke ver­schwin­den. Als er auf der ande­ren Sei­te über das Gelän­der blickt, schau­keln die letz­ten Fet­zen unter der Brücke durch.

Das Gefühl, etwas ein­ma­lig Wich­ti­ges getan zu haben, durch­strömt ihn. Rein fühlt er sich, frei und leicht. Er hat vor nichts mehr Angst. Nicht ein­mal vor dem Mond, der ihm heu­te am blau­en Him­mel beson­ders groß und nah erscheint.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839