Roman „Sonn­tags­schüs­se II“ von Jonas Phil­ipps: „TSV Wei­her­fel­den – TSV Kranz (2. Spieltag)“

Sonntagsschüsse II

Das Fuß­ball­trai­ning beschränk­te sich nicht nur auf die erste Mann­schaft des TSV. Mein Sohn Timo war schon genau­so fuß­ball­ver­rückt wie sein Papa. Tag­ein tag­aus woll­te er Fuß­ball mit mir spie­len. Und die Som­mer­fe­ri­en gaben mir die Gele­gen­heit, sei­nen hohen Ansprü­chen gerecht zu wer­den. Zu mei­nem blan­ken Ent­set­zen hat­te sein Obst­ho­fe­ner Opa, Anni­kas Vater, ihn schon soweit beein­flusst, dass er immer der 1. FC Nürn­berg sein woll­te. Mir selbst war die Riva­li­tät zwi­schen den Bay­ern- und den Club-Fans egal. Ich hielt zu mei­nem FC St. Pau­li. Aber der 1. FC Nürn­berg? Es muss­te doch nicht sein, dass mein Sohn sein gan­zes Leben depri­miert durch die Welt lief. Konn­te er nicht die Gele­gen­heit beim Schopf packen und ein­fach ein Bay­ern-Erfolgs­fan werden?

Im Hof mei­ner Eltern ereig­ne­te sich ein ums ande­re Mal ein har­ter Schlag­ab­tausch zwi­schen St. Pau­li und dem 1. FCN. Auf tap­si­gen Bei­nen leg­te sich Timo den Ball zurecht. Erwar­tungs­voll stand ich zwi­schen den bei­den wack­li­gen Pla­stik­pfo­sten: „Los Timo, schieß aufs Tor!“

Timo nahm Anlauf und schoss mit aller Kraft aufs Tor. Der Ball kul­ler­te auf mich zu. Ich schlug ein unge­len­ki­ges Luft­loch, um den Ball ins Tor rol­len zu lassen.

„Papa, ich hab aufs Tor geschis­sen!“, jubel­te mein Sohnemann.

Ich muss­te lachen und nahm ihn in den Arm. Das war einer der Augen­blicke, in denen der Wunsch nach einem zwei­ten Kind immer grö­ßer wur­de. Es war ein­fach das Schön­ste auf der Welt. Als ich Anni­ka davon erzähl­te, waren wir einer Mei­nung: Ein Anbau oder ein Haus muss­te her, und dann soll­te ein zwei­tes Kind folgen.

Auf dem Trai­nings­platz des TSV war das Trai­ning ein wenig anspruchs­vol­ler. Das Niveau im „Eck­la“ war durch die Neu­zu­gän­ge unglaub­lich hoch gewor­den. Wenn man das Unglück hat­te, in der Mit­te des Vier­ecks zu ste­hen, wo man die Bäl­le abfan­gen muss­te, die sich die ande­ren fünf Spie­ler an den Außen­kan­ten des Ecks zuspiel­ten, hat­te man einen schwe­ren Stand. Karl Adler, Georg Wei­ler, aber auch erfah­re­ne Spie­ler wie Micha­el Mei­ster oder Ste­fan Schmidt glänz­ten durch ihre hohe Ballsicherheit.

Aber Georg war nicht nur bei fin­gier­ten Trep­pen­stür­zen ein Schlitz­ohr. Beim „Eck­la“ teste­te er mit spitz­bü­bi­schem Grin­sen die tech­ni­schen Fähig­kei­ten sei­ner Mit­spie­ler, indem er ihnen absicht­lich schwe­re Bäl­le zuspiel­te. Wenn dann jemand einen Feh­ler mach­te und mecker­te: „Schorsch, dafür gehst du gefäl­ligst in die Mit­te. Was soll ich denn mit so einem Ball anfan­gen?“, dann wusch der alte Hau­de­gen stets sei­ne Hän­de in Unschuld: „Ein Guter ver­ar­bei­tet den!“, war Georgs Standardantwort.

Ich wuss­te nicht war­um, aber immer wenn Georg sei­ne Gegen­spie­ler der­art in Bre­douil­le brach­te, nann­ten ihn alle „den Knight Rider“. Natür­lich kann­te ich die Serie mit David Has­sel­hof und sei­nem Wun­der­au­to Kitt. Aber was zum Teu­fel hat­te das mit Georgs schwer zu ver­ar­bei­ten­den Zuspie­len im „Eck­la“ zu tun? Ich konn­te mir kei­nen Reim dar­auf machen. Manch­mal war Wei­her­fel­den auch nach drei Jah­ren noch ein Buch mit sie­ben Sie­geln für mich.

Ich war gera­de aus der Mit­te des „Eck­las“ her­aus­ge­kom­men, postier­te mich neben einem Hüt­chen, als ich bemerk­te, wie Georg mich aus dem Augen­win­kel anvisierte.

„Bit­te nicht, Knight Rider. Ich war doch gera­de erst in der Mitte.“

„Knight Rider?“, wie­der­hol­te Georg lachend und blick­te mich kopf­schüt­telnd an. Ich ern­te­te einen unmög­li­chen Pass, den ich unge­len­kig ins Aus stol­per­te. Ver­dammt! Ich war schon wie­der in der Mitte.

Mei­ne Mit­spie­ler kicher­ten. „Knight Rider“, wie­der­hol­ten sie lachend. Was war so lustig dar­an? Sie sag­ten das doch auch zu Georg. Die spin­nen, die Franken!

Als ich an die­sem Abend vom Trai­ning nach­hau­se fuhr, freu­te ich mich auf Anni­ka und Timo, der bestimmt schon süß und unschul­dig schlief. Plötz­lich form­te sich ein Gedan­ke in mei­nem Kopf. Ich ver­göt­ter­te Anni­ka. Wir spra­chen bereits über wei­te­ren Nach­wuchs. Trotz­dem leb­ten wir noch immer in wil­der Ehe. Ja, ich woll­te Anni­ka einen Hei­rats­an­trag machen. Aber wann? Und wie?

Wenn, dann muss­te es etwas ganz Beson­de­res sein, und aus­nahms­wei­se mal was Roman­ti­sches. Schließ­lich ent­behr­te unse­re Ken­nen­lern­ge­schich­te jeg­li­cher Roman­tik. Ich woll­te unse­ren Kin­dern wenig­stens vom Hei­rats­an­trag etwas Jugend­frei­es erzäh­len können.

Erste Ideen form­ten sich in mei­nem Kopf. Ein Meer aus Rosen. Eine lei­se Bal­la­de im tan­zen­den Schein der flackern­den Duft­ker­zen. Ja, so soll­te es sein. Und die Tat­sa­che, dass Anni­ka in zwei Wochen auf Teil­zeit­ba­sis in ihren alten Job bei der Bank zurück­kehr­te, gab mir die per­fek­te Gele­gen­heit, alles zuhau­se vor­zu­be­rei­ten. Ich war auf­ge­regt und begei­stert, als ich mein Auto in der Ein­fahrt park­te und die Tür zu unse­rer Woh­nung auf­schloss. Ich hei­ra­te Annika!

Der Gedan­ke ließ mich nicht mehr los. Bis das Wochen­en­de vor der Tür stand. In Wei­her­fel­den herrsch­te Aus­nah­me­zu­stand. Es war Ker­wa. Der Appell unse­res Trai­ners dröhn­te noch in mei­nen Ohren: „Wenn ihr euch unbe­dingt die Bir­ne weg­knal­len wollt, dann bit­te gleich am Frei­tag, damit ihr am Sonn­tag wie­der fit seid!“

Anni­ka wuss­te, was ihr blüh­te. Sie hat­te sich mit Timo nach Obst­ho­fen zu ihren Eltern ver­krü­melt. „Das Trau­er­spiel, wenn du nicht mal mehr dei­ne Schu­he ohne mei­ne Hil­fe aus­zie­hen kannst, muss ich mir nicht schon wie­der geben!“

Wir tra­fen uns in vol­ler Mann­schafts­stär­ke bei Harald Gepard. Als alt­ein­ge­ses­se­ne Fami­lie wohn­te unser Kapi­tän mit­ten im Orts­kern. In sei­nem Hof türm­ten sich die Bierkästen.

„Kommt mal rüber, Jungs“, rief plötz­lich Haralds Nach­bar. Er war ein alter, gebeug­ter Mann mit run­ze­li­ger Haut. Doch die Schnaps­fla­sche hielt er mit eiser­nem Griff fest. „Ich hab da was Gutes für euch!“

„Tut’s nicht!“, riet Harald augenrollend.

Aber ich war schon zu betrun­ken, um die War­nung ernst­zu­neh­men. „Ver­mut­lich willst du nur den gan­zen guten Schnaps für dich selbst haben.“

„Wenn du meinst …“

Neu­gie­rig schnapp­te ich mir als Erster die Fla­sche. Ich reck­te mei­ne Nase über die Öff­nung und schnup­per­te mit geschlos­se­nen Augen. Bis mich plötz­lich eine Gän­se­haut kräf­tig durch­schüt­tel­te. Was war denn das für ein Teu­fels­zeug? Die­ser ste­chen­de Geruch war kein gutes Zeichen.

„Komm, Mar­co. Jetzt musst du’s auch durchziehen!“

„Habt ihr gedacht, ich knei­fe?“ Und schon setz­te ich an. Und nahm einen kräf­ti­gen Schluck.

Der Fusel brann­te wie Feu­er! Zuerst jag­te eine zwei­te Gän­se­haut­wel­le über mei­nen Kör­per. Ich schüt­tel­te mich. Dann schos­sen mir die Trä­nen in die Augen. Der Hals kratz­te, fühl­te sich an wie zer­fres­sen. Und der Nach­ge­schmack des Gesöffs krab­bel­te von mei­nem Magen zurück in den Rachen hinauf.

Ver­zwei­felt wir­bel­te ich her­um. Such­te kräch­zend nach einer Ret­tung. Da fiel mein Blick auf die Gieß­kan­ne. Der Weg war nicht weit. Ich konn­te es schaffen.

Pru­stend hech­te­te ich zur Gieß­kan­ne. Gott sei Dank! Sie ist mit Was­ser gefüllt! Hek­tisch riss ich das Gefäß in die Höhe. Was­ser schwapp­te auf mein T‑Shirt. Aber das war mir in dem Moment egal. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen stemm­te ich die Gieß­kan­ne höher und setz­te an.

„Nicht!“, rief mir Harald noch zu. Er gesti­ku­lier­te sogar wild mit den Armen. Doch mich konn­te nichts und nie­mand mehr stop­pen. Mit kräf­ti­gen Schlucken kipp­te ich die herr­lich küh­le Flüs­sig­keit in mei­nen Hals. „Da ist Dün­ger drin!“

Was machen die nur mit mir? Und so würg­te ich schon wieder …

Der Rest des Abends fühl­te sich an, wie hin­ter einem sanf­ten Nebel­schlei­er ver­bor­gen. Alles spiel­te sich in Zeit­lu­pe ab. Die Stim­men hör­te ich nur noch lei­se. Mit schwe­ren Augen nipp­te ich an mei­nem Bier und mur­mel­te die Ker­was­lie­der mit, die mei­ne Mann­schafs­kol­le­gen neben mir grölten.

„Gehen wir mal zur Bar?“, frag­te Niklas.

„Klar. Ich muss nur noch schnell bei der Bank vor­bei“, ant­wor­te­te Max.

„Ich komm auch mit“, lall­te ich.

Also stie­fel­ten wir zu sechst in Rich­tung Bar. Max brauch­te eine gefühl­te Ewig­keit, bis er die Bank­kar­te end­lich in den Schlitz brach­te, damit sich die auto­ma­ti­sche Schie­be­tür öffnete.

„Alter, bis wir drin sind, bin ich schon verdurstet!“

Wir tra­ten in die Bank und sahen uns um. Ein jun­ger Kerl namens Udo Rit­ter lehn­te in Bier­sauf­esel-T-Shirt und San­da­len am Geld­au­to­ma­ten, hat­te den Kopf auf dem Tasten­feld abge­legt und schlief in die­ser unbe­que­men Posi­ti­on. Max muss­te sein Gesicht mehr­fach zur Sei­te schie­ben, um den PIN ein­zu­ge­ben. Zwei Mädels stan­den kichernd in der ande­ren Ecke und amü­sier­ten sich prächtig.

Max brauch­te schon wie­der ewig. Ich betrach­te­te mein Spie­gel­bild in der Fen­ster­schei­be. Wow, siehst du mit­ge­nom­men aus! Die dunk­len Rin­ge um die gla­si­gen Augen stan­den mir gar nicht gut. Und mit dem total zer­zau­sten Haar sah ich aus wie ein gerupf­tes Huhn. „Ich glaub, ich muss mal wie­der zum Fri­seur“, mur­mel­te ich zu mir selbst.

„War­te, das haben wir gleich“, ant­wor­te­te eines der Mädels, ohne dass ich sie gefragt hat­te. Sie eil­te aus der Bank, lief über die Stra­ße und kehr­te drei Minu­ten spä­ter zurück. Max war immer noch nicht fertig.

„Mach schon, wir wol­len an die Bar!“

„Gleich! Hetzt mich nicht!“

„Setz dich mal“, sag­te eine lieb­li­che Stim­me. Zier­li­che Fin­ger drück­ten mich sanft in Rich­tung Heiz­kör­per, wo ich mich seuf­zend setzte.

Ein plötz­li­ches Brum­men erfüll­te den klei­nen Raum. Ich woll­te auf­ste­hen. Aber ich war zu müde. Immer wie­der began­nen die Mädels zu kichern. Und Niklas stimm­te selbst­ge­dich­te­te Ker­was­lie­der an:

„Der Mar­co, der Tan­ner is a Ham­bur­ger Preuß,
hol­ler­i­rei­dio, hollerireidio!
Aber beim Bier macht er wie a Fran­ke weit auf sei­ne Schleus!
hol­ler­i­rei-dir­i­rei-dio!“

Wer fuhr­werk­te da eigent­lich stän­dig an mei­nem Kopf herum?

„Dem Mar­co, dem Tan­ner, dem schneid mer die Hoor,
hol­ler­i­rei­dio, hollerireidio!
Viel­leicht trifft er dann a mol wid­der ins Tor!
hol­ler­i­rei-dir­i­rei-dio!“

Die Bedeu­tung des Gesangs wur­de mir erst klar, als sie mir mit dem elek­tri­schen Rasie­rer unsanft über die Augen­brau­en schrubbten.

„Hey, ihr spinnt doch!“

„Mar­co, sieht echt heiß aus!“, lach­ten mei­ne Minuskumpels.

„Wenn die Bank­mit­ar­bei­ter am Mon­tag das Über­wa­chungs­vi­deo anschau­en, wer­den wir zu Legenden!“

Max war end­lich fer­tig. Also trot­te­ten wir zur Bar. Fünf haa­ri­ge betrun­ke­ne Fuß­bal­ler. Und ein noch betrun­ke­ne­res Anhäng­sel, das aus­sah wie ein frisch gescher­tes Schaf ohne Augen­brau­en. Wir bestell­ten uns einen Whis­key Cola. Was soll­te ich auch noch ande­res machen, als mei­nen Frust run­ter­zu­spü­len? Aber als ich an mei­nem Getränk nipp­te, kratz­te mein Hals schon wie­der. „Ver­flixt! Das gan­ze Glas ist ja vol­ler Haare!“

„Komm mit“, rief Niklas und zerr­te mich hin­ter sich her. „Ich hab ne Idee!“

Wie ein treu­doo­fes Hünd­chen an der Lei­ne führ­ten sie mich am Ärmel mei­nes T‑Shirts zur Tankstelle.

„Ihr Dep­pen! Was wol­len wir denn hier?“, stam­mel­te ich verdattert.

Da warf Niklas eine Mün­ze ein. Und das Getö­se begann. Die­ser Mist­kerl rück­te mir doch tat­säch­lich mit dem Staub­sauger auf die Pel­le, den sonst die Auto­fah­rer ver­wen­de­ten, um ihr Auto zu säubern.

„Du bist echt nicht ganz dicht, Niklas!“

„Etwas dank­ba­rer könn­test du schon sein, Mar­co. Immer­hin hab ich grad mei­nen letz­ten Euro aus­ge­ge­ben, um dich zu enthaaren.“

Ich grunz­te nur miss­bil­li­gend. Mei­ne Zun­ge wur­de immer schwerer.

„Dann müs­sen wir noch­mal zur Bank“, grin­ste Niklas.

„Ich geh da nicht mehr rein“, rief ich und ver­such­te, mei­ne Augen­brau­en hoch­zu­zie­hen. Aber ich hat­te ja kei­ne mehr.

Hin­ter mir klim­per­te es. „Nach­schub für den Weg zurück ins Dorf!“, ver­kün­de­te Max. Ich nahm einen tie­fen Schluck. Dann wur­de mei­ne Welt schwarz.

Als ich am näch­sten Mor­gen die ver­kleb­ten Augen öff­ne­te, ver­setz­te mir das uner­war­te­te Licht einen blitz­ar­ti­gen Stich hin­ter der Stirn. Stöh­nend rap­pel­te ich mich auf. Mein Mund schmeck­te nach Gül­le. Die Kla­mot­ten stan­ken nach abge­stan­de­nem Bier und Schnaps. Der blo­ße Geruch brach­te die­se ver­damm­te Gän­se­haut zurück. Mein gan­zer Kör­per prickelte.

Ich schüt­tel­te mich und sah mich um. Ich lag auf einer Couch. In einem peni­bel auf­ge­räum­ten Wohn­zim­mer. Trä­ge blick­te ich zur ande­ren Sei­te. Und starr­te in die neu­gie­ri­gen Augen eines rie­si­gen Dober­manns. Die blo­ße Kraft des Mus­kel­bergs war fas­zi­nie­rend. Und die gebleck­ten mes­ser­schar­fen Zäh­ne mehr als beein­druckend. Ich schluck­te. Und leg­te mich in Zeit­lu­pe zurück auf die Couch. Mist, was mach ich jetzt? Wie soll ich hier raus kommen?

In mei­ner Ver­zweif­lung schüt­tel­te ich den letz­ten Rest Stolz ab und taste­te nach mei­nem Han­dy. „Wo bin ich und wem gehört die­ser Hund?“, schick­te ich an Niklas und Harald.

„???“, ant­wor­te­te der eine.

„Im Him­mel!“, der andere.

Auf wack­li­gen Knien tap­ste ich am Dober­mann vor­bei, schlich durch den Flur und ver­ließ das frem­de Haus. Die Son­nen­strah­len blen­de­ten mei­ne schmer­zen­den Augen. Ich blin­zel­te durch die Gegend. Ich war in Wei­her­fel­den. So viel war sicher. Aber wo ich genäch­tigt hat­te, wuss­te ich nicht. Es war mir auch egal. Mein Mund fühl­te sich trocke­ner an als die Wüste Saha­ra. Der Schä­del brumm­te. Ich mach­te, dass ich nach­hau­se kam, leg­te mich dort ins Bett und ergab mich mei­nem gren­zen­lo­sen Elend.

Am Sonn­tag war ich aus­ge­schla­fen und fühl­te mich wie­der top­fit. Anni­ka kehr­te gera­de mit Timo nach Wei­her­fel­den zurück.

„Mami, wie sieht Papi denn aus?“

Anni­kas Blick wan­der­te von ihrem Sohn zu mir. Dann erstarr­te sie. Ihr Mund stand drei Sekun­den offen, ehe sie wie­der spre­chen konn­te. „Ja, Mar­co, wie siehst du denn aus?“

„Ich hab einen ambi­tio­nier­ten Fri­seur getroffen.“

„Du und dei­ne Kum­pels, ihr seid die letz­ten Dep­pen! Euch kann man kei­ne Sekun­de aus den Augen lassen!“

Ich war heil­froh, als ich end­lich zum Fuß­ball­platz konn­te. Es war der zwei­te Spiel­tag. Zum pre­sti­ge­träch­ti­gen Ker­wa­spiel hat­ten wir einen Auf­stei­ger aus der A‑Klasse zu Gast: den TSV Kranz. Er hat­te sein erstes Spiel Unent­schie­den gespielt. Anson­sten wuss­ten wir nicht viel über die­sen Geg­ner. Aber wir strotz­ten nur so vor Selbstbewusstsein.

Am Treff­punkt fie­len uns zunächst bei­na­he die Augen aus dem Kopf. Der Young­ster Kevin Mai tauch­te mit einer ras­si­gen Schön­heit vor dem Sport­heim auf, die gut und ger­ne fünf Jah­re älter war als er. Eng umschlun­gen tur­tel­ten sie küs­send, flü­sternd und kichernd an der Seitenlinie.

Trai­ner Karl run­zel­te besorgt die Stirn. Die jun­ge Frau hat­te wal­len­des dunk­les Haar, vol­le Lip­pen, fas­zi­nie­ren­de tief­schwar­ze Augen und eine Figur, mit der sie jeden Wet-T-Shirt-Con­test für sich ent­schei­den konn­te. Wie soll­te man sich da noch auf sein Fuß­ball­spiel kon­zen­trie­ren? Wir alle waren wie vom Blitz getrof­fen. Wie zum Teu­fel angel­te sich ein jun­ger Bur­sche wie Ral­do eine sol­che Granate?

„Auf geht’s, Jungs. Es ist Zeit. Umzie­hen und auf­wär­men!“, kom­men­tier­te Spiel­lei­ter Wil­li kopfschüttelnd.

Kevin gab sei­ner Gelieb­ten noch einen lan­gen, inni­gen Zun­gen­kuss und ver­ab­schie­de­te sich mit einem letz­ten Klaps auf den knacki­gen Po gebüh­rend von ihr.

„Hier hast du mei­ne Num­mer“, hauch­te sie und steck­te ihm ein klei­nes Zet­tel­chen zu.

Auf dem Weg in die Umklei­de­ka­bi­ne warf Kevin den Zet­tel acht­los in den Müll­ei­mer. Fas­sungs­los starr­ten wir ihn an. Was war nur in ihn gefah­ren? Jeder Ein­zel­ne von uns hät­te sich am lieb­sten kopf­über in den Müll­ei­mer gehech­tet, um die Tele­fon­num­mer aus dem Abfall zu zie­hen. Allein die Tat­sa­che, dass es so erbärm­lich war, hielt uns von die­ser schwanz­ge­steu­er­ten Reak­ti­on ab.

„Ist ja gut, Jungs. Jetzt reißt euch mal wie­der am Rie­men“, schimpf­te Karl, der unse­re ver­träum­ten Blicke sah. „Der Auf­stieg ist gei­ler als jeder Orgasmus!“

„Das glaub ich nicht“, flü­ster­te Kevin lei­se, so dass es nur die neben ihm sit­zen­den Mann­schafts­kol­le­gen hören konn­ten. Und sie glaub­ten ihm.

„Unser heu­ti­ger Geg­ner ist eine Unbe­kann­te. Sie sind letz­tes Jahr auf­ge­stie­gen. Wir alle wis­sen, dass Auf­stei­gen kein Selbst­läu­fer ist. Wir wis­sen nicht viel über den Geg­ner, aber das macht nichts. Wir spie­len zuhau­se, und wir wol­len dem Geg­ner unser Spiel rein­drücken. Die sol­len sich nach uns rich­ten! Gespielt wird mit der glei­chen Auf­stel­lung wie ver­gan­ge­ne Woche. Ich möch­te schnel­le Kom­bi­na­tio­nen sehen. Setzt die Flü­gel ein. Dort sind wir bären­stark auf­ge­stellt. Kon­zen­triert euch beim Tor­ab­schluss. Und kei­ne leicht­fer­ti­gen Bäl­le in der Abwehr. Wenn ihr euch nicht sicher seid, dann spielt das Ding lang auf die Außen. Nicht unkon­trol­liert nach vor­ne klop­fen, son­dern schon ver­su­chen, die schnel­len Flü­gel­spie­ler ein­zu­set­zen. Hier in Wei­her­fel­den haben wir kein ein­fa­ches Publi­kum. Lasst sie uns begei­stern und ihnen zei­gen, aus wel­chem Holz wir geschnitzt sind!“

Und das taten wir. Von der ersten Minu­te an demon­tier­ten wir unse­ren über­for­der­ten Geg­ner. Ral­do war sei­ne lei­den­schaft­li­che Lie­bes­nacht nicht anzu­mer­ken. Er wir­bel­te auf dem lin­ken Flü­gel wie ein Irr­wisch. Karl Adler war von der Defen­si­ve des TSV Kranz nicht zu hal­ten. Er erziel­te drei Tref­fer. Ich selbst räum­te in gewohnt zuver­läs­si­ger Manier im Mit­tel­feld ab, so dass unse­re Abwehr­rei­he nur wenig zu tun bekam. Am Ende bezwan­gen wir den Auf­stei­ger mit einem ful­mi­nan­ten 6–0. Was für ein Heimauftakt!

„Ich hab es euch immer gesagt, aber kei­ner hört ja auf mich“, erklär­te der Regis­seur, als er nach dem Abpfiff auf dem Weg in den Wirt­schafts­raum des Sport­heims war. „Der Karl Adler ist ein groß­ar­ti­ger Trai­ner! Ein Glücks­griff für den gan­zen Ver­ein. Gute Spie­ler sind eben auch immer gute Trai­ner. Kein Wun­der, bei sei­nem Sach­ver­stand! Er wird die­se Mann­schaft noch weit brin­gen. Das hab ich euch von Anfang an gesagt!“


Sonn­tags­schüs­se II – Das Bierdeckel-Dilemma

Sonntagsschüsse II – Das Bierdeckel-Dilemma

Sonn­tags­schüs­se II – Das Bierdeckel-Dilemma

Nun beginnt also die zwei­te Rei­se des jun­gen Fuß­bal­lers Mar­co Tan­ner über die zuwei­len holp­ri­gen Fuß­ball­plät­ze der Frän­ki­schen Schweiz. Die Leser erwar­ten uri­ge Hand­wer­ker, ein wahn­wit­zi­ger Hei­rats­an­trag, ein ver­häng­nis­vol­ler Bier­deckel, ein fol­gen­schwe­rer Anruf, legen­dä­re Neu­zu­gän­ge und vie­les mehr. Wird dem TSV Wei­her­fel­den der ersehn­te Auf­stieg gelin­gen? Die 332 wit­zi­gen Sei­ten wer­den es beant­wor­ten. Alle Sonn­tags­schüs­se

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Über den Autor

Jonas Phil­ipps lebt mit sei­ner Frau und sei­nen bei­den Söh­nen im Land­kreis Bam­berg. Er schreibt unter­halt­sa­me Roma­ne über Sport und Musik. Aus vie­len Ideen und zahl­rei­chen Gedan­ken zu sei­ner Ver­gan­gen­heit als Ama­teur­kicker und Band­mit­glied ent­ste­hen wit­zi­ge Roma­ne, die Lese­spaß garan­tie­ren. Home­page: www​.jonas​-phil​ipps​.de