Bay­reu­ther Phy­si­ker ver­rücken die Welt und zei­gen: Münch­hau­sen lügt immer

Die Erzäh­lung des Baron von Münch­hau­sen, er habe sich an den Haa­ren aus dem Sumpf gezo­gen, lässt sich mit bekann­ten Natur­ge­set­zen rasch als Lügen­mär­chen ent­lar­ven. Eine neue, umfas­sen­de­re Wider­le­gung ist Mat­thi­as Schmidt und Sophie Her­mann von der Uni­ver­si­tät Bay­reuth in „Com­mu­ni­ca­ti­ons Phy­sics“ gelun­gen. Erst­mals haben sie das Noe­ther-Theo­rem auf die Sta­ti­sti­sche Mecha­nik ange­wen­det. Dabei haben sie das phy­si­ka­li­sche System der Welt mathe­ma­tisch aus den Angeln geho­ben und an belie­bi­ge ande­re Orte ver­setzt. Wie sich her­aus­stell­te, blei­ben grund­le­gen­de phy­si­ka­li­sche Regeln gül­tig, wo immer sich die Welt befin­det. Münch­hau­sen ist in jeder „ver­rück­ten“ Welt ein Lügenbaron.

Das nach der deut­schen Mathe­ma­ti­ke­rin Emmy Noe­ther (1882–1935) benann­te Theo­rem bil­det einen Grund­pfei­ler der Phy­sik. Es ermög­licht eine kla­re und ele­gan­te Beschrei­bung phy­si­ka­li­scher Syste­me, von der klas­si­schen Mecha­nik bis zur Hoch­en­er­gie­phy­sik. Bis­her wur­de das Noe­ther-Theo­rem in der Phy­sik auf die Zeit­ent­wick­lung von Syste­men ange­wen­det, in denen die raum­zeit­li­chen Posi­tio­nen von Objek­ten sowie ihre Kräf­te und Bewe­gun­gen ein­deu­tig bestimm­bar sind. Doch wenn die Objek­te sehr klein sind, wie bei­spiels­wei­se Mole­kü­le, Edel­gas­ato­me oder auch grö­ße­re soge­nann­te kol­lo­ida­le Teil­chen, kön­nen sie sta­ti­stisch auf der Basis von Wahr­schein­lich­kei­ten tref­fen­der beschrie­ben wer­den. Die sta­ti­sti­sche Mecha­nik ist eine eta­blier­te phy­si­ka­li­sche Dis­zi­plin, die genau sol­che Beschrei­bun­gen unge­ord­ne­ter Wel­ten ent­wickelt. Mir ihren Ver­fah­ren kann man berech­nen, wie sich aus dem Zusam­men­spiel von win­zi­gen Teil­chen, ihren Kräf­ten und Bewe­gun­gen grö­ße­re Struk­tu­ren und Pro­zes­se erge­ben, die für das mensch­li­che Auge sicht­bar sind.

Prof. Dr. Mat­thi­as Schmidt, Inha­ber des Lehr­stuhls für Theo­re­ti­sche Phy­sik II an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, und Sophie Her­mann M.Sc., Dok­to­ran­din und wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin, haben nun erst­mals das Noe­ther-Theo­rem auf Fra­gen der sta­ti­sti­schen Mecha­nik über­tra­gen. Dafür bedurf­te es eines soge­nann­ten Funk­tio­nals, das als Schar­nier zwi­schen der ein­deu­tig deter­mi­nier­ten Welt des Noe­ther-Theo­rems und der unge­ord­ne­ten, sta­ti­stisch beschreib­ba­ren Welt der Teil­chen fun­giert. Als Grund­la­ge eines sol­chen Schar­niers wähl­ten die Bay­reu­ther Phy­si­ker einen hoch­di­men­sio­na­len Raum, der prin­zi­pi­ell das gesam­te phy­si­ka­li­sche System der Welt ent­hält – mit allen Teil­chen sowie allen ihren raum­zeit­li­chen Posi­tio­nen, Kräf­ten und Bewegungen.

Nun kann das Funk­tio­nal die Anwend­bar­keit des Noe­ther-Theo­rems aber nur ermög­li­chen, wenn eine ent­schei­den­de Bedin­gung erfüllt ist: Es muss so defi­niert sein, dass das phy­si­ka­li­sche System der Welt sei­ne räum­li­che Posi­ti­on dar­in ändern kann – indem es gedreht oder ver­scho­ben wird. Genau dies ist den Bay­reu­ther Phy­si­kern gelun­gen: Durch mathe­ma­ti­sche Ope­ra­tio­nen haben sie die exi­stie­ren­de Welt in dem Raum, der die Brücke von dem Noe­ther-Theo­rem zur sta­ti­sti­schen Mecha­nik bil­det, auf unter­schied­li­che Wei­sen neu plat­ziert. Die Welt wur­de buch­stäb­lich ver-rückt. „Von dem grie­chi­schen Mathe­ma­ti­ker Archi­me­des ist der Aus­spruch über­lie­fert, dass er die Welt aus den Angeln heben kön­ne, wenn man ihm einen festen Punkt gebe. Mit den Instru­men­ten der Mathe­ma­tik und der theo­re­ti­schen Phy­sik ist uns dies gelun­gen – zwar ohne einen unver­rück­ba­ren Fix­punkt, aber mit einem Funk­tio­nal, das die unter­schied­lich­sten Hypo­the­sen zur räum­li­chen Posi­ti­on der Welt erlaubt. Auf die­ser Basis lässt sich berech­nen, ob und wie sich die Welt ändert, wenn man sie räum­lich ver­schiebt“, sagt Sophie Hermann.

Durch Anwen­dun­gen des Noe­ther-Theo­rems auf Fra­gen der sta­ti­sti­schen Mecha­nik sind die Bay­reu­ther Phy­si­ker zu neu­en Erkennt­nis­sen und kon­kre­ten Aus­sa­gen gelangt, die für unse­re real exi­stie­ren­de Welt gel­ten. Eini­ge die­ser Aus­sa­gen betref­fen die Kräf­te, die im phy­si­ka­li­schen System der Welt wir­ken. Und genau an die­sem Punkt lässt sich auch die Behaup­tung des Barons von Münch­hau­sen wider­le­gen, er habe sich selbst an den Haa­ren – und gleich­zei­tig das zwi­schen sei­nen Bei­nen ein­ge­klemm­te Pferd – aus dem Sumpf her­aus­ge­zo­gen. Die­ses Kunst­stück ist nicht nur in der rea­len Welt, son­dern auch in jeder hypo­the­tisch ver­scho­be­nen Welt unmöglich.

„In unse­rer Stu­die haben wir das Noe­ther-Theo­rem und die sta­ti­sti­sche Mecha­nik in einer Wei­se kom­bi­niert, wie dies in der Phy­sik zuvor noch nicht gelun­gen ist. Inso­fern stel­len unse­re For­schungs­er­geb­nis­se auch einen Bei­trag zu einer „Ein­heit der Phy­sik“ dar. In den Sozia­len Medi­en löst die Ver­öf­fent­li­chung in Com­mu­nic­tions Phy­sics zur­zeit leb­haf­te Reak­tio­nen aus. Schließ­lich hat die Theo­re­ti­sche Phy­sik, wenn sie zu neu­en Ein­sich­ten über unse­re Welt vor­dringt, eine star­ke Fas­zi­na­ti­ons­kraft“, sagt Mat­thi­as Schmidt.