Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 34

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Der Egon

Die Cal­len­ber­ger Stra­ße haben sie auf­ge­ris­sen. Das alte Pfla­ster aus klei­nen Wür­fel­stei­nen soll einer Asphalt­decke Platz machen. In regel­mä­ßi­gen Abstän­den lie­gen die Hau­fen der her­aus­ge­ris­se­nen Basalt­wür­fel am Straßenrand.

Die Cli­que steht, lehnt, hockt und pala­vert. Jakob ist heu­te beson­ders gut auf­ge­legt. Er hat sei­ne Haus­auf­ga­ben schon geschrie­ben und außer­dem ist heu­te sein drei­zehn­ter Geburts­tag. Die Neu­manns Hel­ga will auch auf die Stra­ße her­un­ter kom­men. Das hat sie ihm erst vor ein paar Minu­ten aus dem Fen­ster zuge­ru­fen. Da kommt sie auch schon quer über die Rast­stra­ße. Er streicht sich durchs Haar und stellt sich auf den gemau­er­ten Zaun­sockel. Am lieb­sten wäre es ihm, wenn Ande­re ihr von sei­nem Geburts­tag erzäh­len wür­den. Aber der star­ke Klaus hat sich sei­ne Schutz­ble­che und Fel­gen mit sil­ber­ner Ofen­rohr­bron­ze ange­pin­selt. Das ist interessanter.

Der Egon kommt die Stra­ße ent­lang. Er hat einen trip­pe­li­gen Gang, stam­melt wir­res Zeug, wenn man ihn fragt oder höh­nisch mit gespiel­ter Höf­lich­keit von der siche­ren Stra­ßen­sei­te her grüßt. Alle nen­nen ihn nur Egon von der Post, weil er irgend­wo gegen­über dem Post­amt wohnt. So um die drei­ßig muss er sein.

Der Egon ist nicht ganz dicht. Das wis­sen sie alle. Weich in der Bir­ne, bescheu­ert, behäm­mert und bekloppt sei er. Eine Schrau­be locker, nicht alle Tas­sen im Schrank habe er. Stark und über­le­gen füh­len sie sich dabei, wenn sie so etwas sagen. Auch dann, wenn Erwach­se­ne vor­bei­ge­hen, trau­en sie sich, so über ihn zu spre­chen. Noch nie hat ihnen einer das Maul verboten.

Im Gegen­teil, eher grin­sen die, wenn sie gera­de mit ihren Ein­kaufs­net­zen oder Akten­ta­schen vor­bei kom­men. Ein Rent­ner am Stock hat­te sie sogar ein­mal bestärkt. So was wie den da habe man frü­her vergast.

Einer, der schon acht­zehn ist, hat­te ihnen mal erzählt, der Egon habe vor ein paar Jah­ren in einem Holz­haus von einem Schre­ber­gar­ten vor der Stadt gewohnt. Mit einem klei­nen Ofen drin und einem Ofen­rohr mit Regen­dach. Eine alte Frau, angeb­lich sei­ne Mut­ter, sol­le ihn da heim­lich mit Essen ver­sorgt haben.

Und nur, weil er Unmen­gen von trocke­nem Buchen­holz ver­heizt hat­te, hät­ten die Nazis ihn nicht ent­deckt. Weil das nicht raucht. Sonst wäre der garan­tiert weg­ge­räumt wor­den. Aber das hat einer aus dem Schleif­weg erzählt. Und denen kann man ja sowie­so nicht trauen.

Der Egon kommt näher. Der star­ke Klaus macht sich wie­der mal über sei­ne schief geneig­te Kopf­hal­tung lustig. Die Neu­manns Hel­ga meint, sie soll­ten ihn doch in Ruhe las­sen. Jakob löst sich aus der Grup­pe und fragt den Egon, was es denn heu­te Gutes bei ihm zu Mit­tag gege­ben habe. Die Jun­gen kichern. Der Egon von der Post sagt nichts, hält wie immer sei­nen Kopf schräg nach oben.

Jakob wie­der­holt die gespiel­te Fra­ge dro­hen­der, schielt dabei Aner­ken­nung suchend zu sei­ner Grup­pe. In die­sem eit­len Moment holt der Egon aus, knallt ihm eine Ohr­fei­ge rein und geht mit raschen Schritt­chen weiter.

Der Brenn­schmerz.

Das sin­gen­de Ohr.

Die Schan­de, von so einem Voll­idio­ten über­haupt berührt wor­den zu sein.

Das wie­hern­de Geläch­ter hin­ter ihm.

Und das alles an sei­nem Geburts­tag – Hass und Wut schäu­men hoch.

Er greift sich einen der klei­nen Pfla­ster­stei­ne, holt aus und schleu­dert dem Egon die­sen schwe­ren Wür­fel mit äußer­ster Kraft hin­ter­her. Der Stein ver­fehlt den schräg geneig­ten Kopf um eine Hand­breit, lässt den Sand des neu­en Stra­ßen­kies­betts auf­sprit­zen, kol­lert wei­ter, bis ihn ein auf­ge­stell­ter Gull­i­deckel abpral­len lässt. Der Egon von der Post hat den Todes­hauch um sei­nen schie­fen Kopf nicht gespürt und trip­pelt dahin.

Jakob wen­det sich wie­der der Cli­que zu. Die Neu­manns Hel­ga ist weg­ge­gan­gen. Der star­ke Klaus sagt, dass der bei­na­he in die ewi­gen Jagd­grün­de ein­ge­gan­gen wäre und dass es dabei kei­nen Fal­schen getrof­fen hätte.

Wie weit er denn bei den Bun­des­ju­gend­wett­kämp­fen wirft, will der star­ke Klaus noch wis­sen. Sei­ne acht­und­fünf­zig Meter will er ihm nicht glauben.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839