Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 31

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Hinten und vorne

Der Anblick der abgehackten, mähnigen Hufe im Hinterhofschuppen des Pferdemetzgers hat sein Mitleid mit den umgebrachten Tieren aufgewühlt, zugleich auch die Verachtung der langschürzigen Pferdemetzger verstärkt.

Diese Scheußlichkeit war im hinteren, düsterverbotenen Teil der Metzgerei geschehen.

An der Frontseite ist alles anders. Über eine Außentreppe kann man in einen kleinen Vorraum gelangen. Zwei Türen führen in zwei verschiedene Welten. Drückt man den Messinggriff der braun gebeizten Tür, dann steht man in der Gastwirtschaft. Holzverkleidete Wände, gescheuerte Tische und die gebleichten, rissigen Holzdielen des Fußbodens umfangen den Besucher mit unwiderstehlicher Behaglichkeit. Die runden, sonnengelben Butzenscheiben vergolden hier drinnen jeden noch so grauen Wolkentag.

In die Wirtschaft hinein trauen sich die Kinder aber nur zu zweit oder dritt. Limonade, knallrotes Himbeer und kühlgrünes Waldmeister gibt es da. Und den mahnenden Finger, die leeren Flaschen ja wieder zu bringen. Richtig Fahrt nimmt die Wirtschaft erst dann auf, wenn das warme Licht der Geborgenheit durch die Scheiben auf die Straße hinaus schimmert und die Kinder nicht mehr ins Freie dürfen. An Nachmittagen döst dort höchstens mal der einsame Glatzenmann, den Kopf an der Garderobe in vergessene Jacken gebettet und erschreckt die Limonadenkinder mit seinem unerwarteten, lauten Sägeschnarchton.

*

Die andere Tür, immer wieder mit weißer Ölfarbe übermalt, hat eine herab hängende Klinke. Sie führt in den Metzgerladen. In der Glasvitrine liegen hier die dunkelroten, nur von dünnen Fettsträhnen und Flachsen durchzogenen Fleischbrocken, hängen an hohen Aluminiumhaken die Reihen der geräucherten Salami und frisch gekochten Knoblauchwürste. Sie weigern sich zuzugeben, dass sie vor kurzer Zeit noch Springreiter über den Parcours getragen, sich in die Geschirre von Brauerei- und Speditionswagen gestemmt, oder sich in der Landwirtschaft vor Pflug, Egge und schreckenbeinigen Heuwendern abgerackert hatten.

Das freundliche Lächeln der rotwangigen Metzgersfrau, ihre täglich weiße Ladenschürze, eine Mund wässernde Duftlegierung aus Knoblauch, Pfeffer und Rauch lassen Jakob guten Gewissens die Pferderouladen seiner Mutter verputzen, herzhaft in heiß gemachte Pferdeknoblauchwurst beißen und zugleich sein Pferdemitleid pflegen.

An einem glutheißen Junitag hält der schwarze Mercedes mit den gekreuzten Palmzweigen vor der Einfahrt, durch die sonst todgeweihte Ackergäule, Zug- und Reitpferde gekarrt werden.

Die barfüßige Straßenbande wartet gierig, aber in gemessenem Abstand, verhakt die Arme in den Eisenstäben eines Zauns, tuschelt Vermutungen. Hausfrauen haben sich Sofakissen unter die Ellenbogen gelegt. Die Doppeltür zum hinteren Hauseingang wird entriegelt. Ein Schildmützenmann zieht die Flügel des großen Hoftors nach innen auf, steigt in den Palmenzweigmercedes und stößt zurück in den Hof. Die Barfußkinder folgen bis an den Lattenzaun der Metzgerei. Vier Schildmützenmänner tragen den braunen Sargkasten mit den Messinggriffen aus der Tür, lassen ihn auf der Halteschiene einrasten. Der zwölfjährige Artur, sein älterer Bruder Ralf und die Metzgersfrau stehen mit verquollenen Augen in der aufgestoßenen Tür des Hintereingangs. Sie hält sich den Rand ihrer weißen Ladenschürze vor den Mund. Die Türen des Leichenwagens klappen. In einer Dieselwolke fährt er an. Das Ventilationsrad auf dem Wagendach beginnt sich zu drehen. Die Raststraßenkinder schauen wieder in den Hof. Er ist leer. Sie hätten dem Artur und dem Ralf auch nichts sagen können. Der starke Klaus meint, dass die sich beeilen müssen. Bei der Hitze.

*

Einen Tag später drückt sich Jakob am Sterbehaus vorbei.

Der ziegelgepflasterte Hinterhof leer und still. Als ob es dieses widerstrebende Schlagen der Hufeisen über die Ladeklappe, dieses verzweifelte Wiehern in Todesahnung, diese Schläge auf die Hinterhandsehnen nie gegeben hätte. An den Gardinen bewegt sich nichts. Im Ladenfenster hängt eine herausgerissene Seite eines Schreibhefts mit ungelenker Aufschrift WEGEN TRAUERFALL GESCHLOSSEN.

Kein Kunde rüttelt an der Tür. Der Tod hat sich herumgesprochen, noch bevor Coburger Tageblatt und Neue Presse ihn trauerrandig anzeigen können. Jakob kann sich nicht gegen eine aberwitzige Vorstellung wehren, die in seiner Fantasie auftaucht. Er sieht das Bild nicht etwa im Traum. Nur die Augen schließen muss er dabei.

Blut besudelt und nackt liegt der Pferdemetzger im Sarg, von seiner Gummischürze spärlich bedeckt. Nur den Gürtel mit Schlachtmesser und Wetzstein umgeschnallt. Das hatte er jetzt davon. Hätte er dem Kaltblüter nicht die Hufe abgehackt, dann brauchte er jetzt nicht so im Sarg zu liegen.

Und wenn er vor Weihnachten nicht immer mit Kreide auf die schwarze Tafel einen Tannenzweig mit Glaskugel und Lametta gemalt und dazu FRISCHES FOHLENFLEISCH ZUM FEST geschrieben hätte, dann hätte er überhaupt nicht sterben müssen.

*

Von Beileidsbekundungen am Grab solle man höflichst Abstand nehmen. Und dass die Beerdigung um elf Uhr ist. Ab zehn stehen die Straßenkinder auf der Lauer. Jakob will sehen, wie einer 1aussieht, dem der Vater gestorben ist.

Als Erster hat es der starke Klaus entdeckt. Stumm deutet er die Raststraße hinunter. Das Taxi rollt aus. Alle hätten gerne die Tränen bei der Metzgersfrau gesehen, aber die hat leider einen Hut mit Schleier auf. Ihre Söhne tragen schwarze Anzüge mit scharfen Bügelfalten, schlagen den Blick nieder. Das Trauertaxi biegt in die Callenberger Straße ein. Jetzt weicht die Last des Schweigenmüssens. Zufrieden und gelöst bleiben sie barfüßig, mit grindigen Knien und Ellenbogen in der Straße zurück. Bald darauf treiben sie in zwei Mannschaften den kleinen Vollgummiball die Straße hinauf und herunter, bis ihnen die Schultern und Handgelenke schmerzen.

*

Der Tag danach. Die Fahrräder der Lehrlinge, die dreihundertfünfziger Horex Regina und die NSU-Max der Metzgergesellen stehen wieder im Hinterhof. Das Papier vom Trauerfall hängt nicht mehr im Ladenfenster. Schon wagen sich die ersten Pferdefleischkundinnen in den Laden. Die Witwe trägt ihre weiße Ladenschürze über einem schwarzen Kleid. Das Leben müsse halt weitergehen. Und dass es auch in dem Ludwig sein Sinn wäre. Die Kundinnen nicken mit schräg geneigten Köpfen. Mit seinem Einkaufszettel steht Jakob unter lauter Frauen. Rouladen für sechs Personen soll er bringen, sie wüsste schon, wie viel.

Halt so, wie sonst. Noch sind drei Frauen vor ihm. Noch kann er es sich überlegen, ob er auch Beileid sagt, wie die Frauen. Und ob er auch ihr Handgelenk nehmen muss. Wegen der Fleischfinger. Als er dran ist, macht sie es ihm leicht. Noch bevor er etwas von seinen Rouladen sagen kann, reicht sie ihm das Endstück einer Knoblauchwurst über die Theke. Sonst beißt er ja immer gleich im Laden mit Heißhunger in die geschenkten Wurstreste hinein. Heute spürt er, dass dieses Knacken nicht passt. Er nimmt es auf die Straße hinaus. Beißt erst hinein, als er um die Ecke ist. Das Wurststück will ihm nicht schmecken. Er wirft es dem Pluto über den Zaun. Der freut sich. Schnappt es aus der Luft.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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