Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 29

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Das Kalt­blut

Ein schwe­rer Wagen der Möbel­spe­di­ti­on auf der Raststraße.

Die bei­den vor­ge­spann­ten hell­brau­nen Kalt­blü­ter ste­hen mit kan­tig ange­setz­tem Hin­ter­huf­ei­sen. An ihren fein gehä­kel­ten, roten Ohren­schüt­zern mühen sich Flie­gen und Mücken um Ein­lass. Gera­de sind die bei­den Kraft­rie­sen getränkt wor­den, las­sen mil­chi­ge Gei­fer­fä­den auf das Pfla­ster rinnen.

Bei Pfer­den braucht man auf Kin­der nicht lan­ge zu war­ten. Die rau­en Mäh­nen, wür­zi­ger Pfer­de­ge­ruch, der mäch­ti­ge Schweif und star­ke, behaar­te Hufe geben immer Grund zum Stau­nen und vor­sich­ti­gem Anta­sten. Von Hafer gesät­tigt, ver­schmä­hen sie trotz­dem nicht die Sta­chel­bee­ren, hal­bier­ten Äpfel oder die Kasta­ni­en, die ihnen auf fla­cher Kin­der­hand unter die samt­wei­chen Mäu­ler gehal­ten werden.

*

Die blon­de Neu­manns Hel­ga schaut aus dem Fen­ster im ersten Stock des Eck­hau­ses auf das Gespann der Möbel­spe­di­ti­on. Aus irgend­ei­nem Grund darf sie heu­te nicht auf die Stra­ße kommen.

Bei ris­kan­ten Jun­gen­spie­len macht sie sonst mit. Die Jun­gen brin­gen ihr zwar eine heim­li­che Ver­eh­rung ent­ge­gen, die aber nie als Ran­ma­chen gedeu­tet wer­den kann. Sie ist zwei Jah­re älter als Jakob. Hat schon einen Busen und Haa­re unter den Ach­seln. Die Jun­gen rech­nen es ihr hoch an, dass sie sich mit grü- nem Gemü­se, wie sie es sind, über­haupt abgibt. Wenn sie, wie heu­te, ein­mal nicht mit dabei ist, dann hän­gen sich bald Lust­lo­sig­keit und Lan­ge­wei­le wie Mehl­tau auf die Spiel­stim­mung der Stra­ßen­jun­gen. So will man sie wenig­stens oben am Fen­ster hal­ten. Die Hin­ter­tü­ren des lee­ren Möbel­wa­gens sind aufgeklappt.

Anlauf neh­men und in einem Sprung auf die Lade­flä­che kom­men – natür­lich ohne Hände.

Die Jun­gen­blicke gehen hoch zur Neu­manns Hel­ga. Sie ist noch da.

Jakob, als Jüng­ster der Cli­que und bei Hel­ga prak­tisch chan­cen­los, will es zwin­gen. Sein Sprung­fuß rutscht ab, das Schien­bein knallt auf die stäh­ler­ne Lade­kan­te. Nur das Bewusst­sein, dass die Neu­manns Hel­ga noch her­un­ter schaut, hin­dert ihn dar­an, gleich in plär­ri­ges Lamen­tie­ren aus­zu­bre­chen. Ungläu­big sieht er den wei­ßen Knor­pel, dann erst füllt sich die Wun­de lang­sam mit dun­kel­ro­tem Blut. Als er hoch blickt, ist die Neu­manns Hel­ga schon nicht mehr am Fen­ster. Bestimmt wird sie jetzt gleich auf der Stra­ße erschei­nen und sei­ne Hel­den­wun­de betrachten.

Sie kommt nicht. Nur die Gesich­ter der Stra­ßen­cli­que beu­gen sich über ihn. Trot­zig steht er auf, hinkt mit durch­ge­streck­tem Bein nach Hause.

*

In den näch­sten Tagen zeigt er unauf­ge­for­dert sein lädier­tes Bein. Gaze unter­leg­tes Heft­pfla­ster und hand­tel­ler­gro­ßer Blut­erguss. An Rad fah­ren und Schwim­men ist eine Wei­le nicht zu den­ken. Die Cli­que ist mit den Rädern weiß er auch nicht wohin gefah­ren. So In Hin­ter­hof, Hof und Stra­ße hängt er her­um. Blicke zum lee­ren Fen­ster der Neu­manns Hel­ga. Sie hät­te ihn ja viel­leicht durch den Vor­hang sehen, ihr Fen­ster auf­ma­chen und nach sei­nem Bein fra­gen kön­nen. Er wür­de dann so etwas wie Geht schon sagen, dabei schmerz­voll den Mund nach unten zie­hen, ihr erklä­ren, dass er auf dem ver­fluch­ten Sand aus­ge­rutscht ist. Sonst wäre er ja garan­tiert hoch gekom­men auf die­sen Scheiß­wa­gen. Kei­ne Gar­di­ne bewegt sich da oben und das Fen­ster geht schon gleich gar nicht auf.

Ein Pfer­de­trans­por­ter hält vor der Metz­ge­rei, stößt rück­wärts in den Hof. Zwei Gesel­len kom­men in boden­lan­gen Gum­mi­schür­zen aus dem Wurst­kel­ler, zer­ren das Tier aus dem Laderaum.

Sie kno­ten es mit dem Half­ter­seil ganz kurz an einen Ast der Hof­ka­sta­nie, stei­gen in ihre Werk­statt hin­ab. Es ist eines der Gespann­pfer­de, die er noch vor ein paar Tagen gefüt­tert hat. Schon damals war ihm die­se etwas ver­scho­be­ne wei­ße Rau­te auf der Stirn auf­ge­fal­len. Gleich um die Ecke in der Cal­len­ber­ger Stra­ße wuchern immer so vie­le Löwen­zahn­pflan­zen durch die Zaun­lat­ten eines ver­wil­der­ten Gar­tens. Die will er rup­fen und sei­nem Pferd brin­gen. Kurz dar­auf kommt er mit zwei Hän­den voll Lö- wen­zahn zurück. Die Metz­ger­ge­sel­len haben das Tier so kurz ange­bun­den, dass es nichts nut­zen wird, wenn er sein Fut­ter nur über den Zaun wirft. Er muss in die­sen ver­bo­te­nen Hof klet­tern, muss das Pferd aus sei­ner Hand fres­sen las­sen. Lau­ter unsin­ni­ges Zeug redet er dem rie­si­gen Brau­nen mit beru­hi­gen­der Stim­me zu, streckt ihm eine Hand vol­ler mil­chi­ger Stän­gel­schläu­che, gezack­ter Blät­ter und son­nen­gel­ber Blü­ten entgegen.

Aus dem Kel­ler­ab­gang drin­gen Män­ner­stim­men hoch. Kopf­los lässt er das Fut­ter fal­len, über­klet­tert den Holz­zaun und duckt sich dahin­ter. Die Pfer­de­metz­ger gehen über den Hof auf das Kalt­blut zu, bin­den es los und füh­ren es in das dunk­le Loch, das sich hin­ter der quiet­schen­den Roll­tür des Schup­pens auftut.

*

Vom vier­ten Stock des Hin­ter­hau­ses die weit tra­gen­de Stim­me sei­ner Mut­ter. Wenn er einen Hun­dert-Mark-Schein hät­te – er wür­de den Gum­mi­schür­zen­män­nern das star­ke Pferd abkau­fen, es auf die­se lee­re Kop­pel beim Cal­len­berg füh­ren. Da könn­te es sich von sei­nem ver­knack­sten Knö­chel wie­der erho­len. Jeden Tag wür­de er es dort besu­chen. Bis es nicht mehr hinkt. Und dann auf sei­nem brei­ten Rücken ohne Sat­tel reiten.

Sich an der lan­gen, schwar­zen Mäh­ne fest­hal­ten. Es brauch­te auch nicht zu tra­ben oder gar zu galop­pie­ren, müss­te ja den Knö­chel scho­nen. Ab und zu soll­te es mit ihm schon ein­mal über das Pfla­ster in Coburg gehen, weil es sich so gut anhört, wenn die Huf­ei­sen auf den Stein treten.

Mit sei­nen Wün­schen ist er die vier Trep­pen hoch gestiegen.

Gedan­ken­los schlingt er sei­ne Mar­ga­ri­ne­bro­te mit Röden­ta­ler Käse in sich hin­ein. Die Abend­brot­ge­sprä­che von Eltern und Brü­dern über­plät­schern ihn. Das dunk­le Loch hin­ter der quiet- schen­den Roll­tür. Es lässt ihn nicht mehr los. Mit einem Mal weiß er, dass er einen Feh­ler gemacht hat. Er macht sich Vor­wür­fe, dass er mit dem Fut­ter­su­chen unnö­tig Zeit ver­tan hat.

Los­bin­den hät­te er es sol­len, den Rie­gel vom Zaun­tor nach links schie­ben und ab durch die Mit­te. Kein Schwein hät­te was gemerkt. Und dann die Cal­len­ber­ger Stra­ße ent­lang durch die Unter­füh­rung bis zur Wald­wie­se. Danach irgend­wo beim Schloss Hohen­fels ver­stecken. Die hät­ten viel­leicht geglotzt, die Lang­schür­zen­män­ner, die blöden.

*

Im wir­ren Traum sieht er sich in einer ganz kur­zen Schür­ze zur Schu­le gehen. Die glei­che Far­be wie die der Metzgergesellen.

Sei­ne Klas­sen­ka­me­ra­den lachen ihn aus. Schür­zen wären was für Wei­ber, joh­len sie. Auch sein Kalt­blut spricht zu ihm. Es redet in der Pfer­despra­che. Sie klingt so, wie die Men­schen­spra­che, nur etwas lang­sa­mer. Es sagt, dass es ihm auf der Wei­de sehr gefal­le. Dar­auf ver­spricht er ihm, mor­gen wie­der zu kommen.

*

Er hat den Traum kurz vor dem Auf­wa­chen geträumt. Wie eine Ver­pflich­tung lastet er. Min­de­stens einen Blick hin­ter die ver­bo­te­ne Roll­tür muss er wagen.

Vom Fen­ster sieht er, wie ein Lang­schür­zen­mann einen Bier­ka­sten zur Brot­zeit in die Metz­ger­werk­statt trägt. Jetzt oder nie.

Er fegt die Haus­trep­pen hin­un­ter, steigt über den Zaun. Schon steht er keu­chend an der Roll­tür. Nur müh­sam kann er sie einen Spalt auf­drücken. Durch ein Ast­loch über­zeugt er sich, dass nie­mand auf das Quiet­schen der Eisen­rol­len hin auf den Hof hin­aus­ge­kom­men ist. Erst lang­sam kann sein Tages­licht­au­ge die Ein­zel­hei­ten des Schup­pens aus­ma­chen. An den Wän­den vie­le kur­ze Sei­le, ein spit­zes Kum­met an einem Haken, im hin­ter­sten Eck eine aus­ran­gier­te Bade­wan­ne. Eine Tür irgend­wo­hin. Die­se Klin­ke muss er noch auf­drücken. Das kann nur der Ein­gang zum Stall sein. Dahin hat­ten sie ihn also gebracht, sei­nen Kalt- blü­ter. Er fährt zusam­men. Schon wie­der ist ein Pfer­de­trans­por­ter vor­ge­fah­ren. Ent­war­nung. Deut­lich hört er, wie der Last­wa­gen pras­selnd eine Koh­le­la­dung auf den Bür­ger­steig abkippt.

Sein Blick fällt auf die alte Bade­wan­ne. Ihm stockt der Atem.

Bis zur Hälf­te ist sie mit abge­hack­ten Pfer­de­hu­fen gefüllt.

Oben drauf lie­gen kreuz und quer vier blut­ver­schmier­te Hufe mit Huf­ei­sen und zot­te­li­gen Fuß­mäh­nen. Wenn ihn jetzt einer der Metz­ger­ge­sel­len erwi­schen wür­de, ihm wäre alles egal. Ihr Dreck­schwei­ne oder so was wür­de er schreien.

Und dann um sich schla­gen und tre­ten. Voll rot­zen, wenn sie ihn fest­hal­ten wollten.

Nichts. Er ist allein mit den Hufen. Schließ­lich macht er sich davon, nach­dem er geprüft hat, ob die Luft rein ist.

In der Sack­gas­se hin­ten beim Holz­la­ger muss man nur den Maschen­draht des Obst­gar­tens etwas wei­ten und schon hat man die gel­ben und roten Sta­chel­bee­ren in der Hand.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839