Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 27

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Der Opa

Mei­stens sitzt er auf sei­nem Stuhl mit der gefloch­te­nen Rücken­leh­ne. Die lin­ke Hand ruht auf dem Geh­stock. Rosen­kranz­per­len glei­ten ihm in geheim­nis­vol­lem Takt durch die Fin­ger der rech­ten. Laut­lo­se Gebe­te bewe­gen fast unmerk­lich den ein­ge­fal­le­nen Mund. Dabei nimmt sein bril­len­lo­ses Adler­au­ge regen Anteil an allem, was um ihn her­um geschieht. Die Jun­gen kön­nen ihm Fra­gen stel­len, ohne dass sie ihn im Gebet stö­ren. Hell­hö­rig gibt er ihnen Ant­wort, setzt danach sein Gebet fort, bleibt auch für wei­te­re Nach­fra­gen oder Erkun­di­gun­gen offen. Der dunk­le Hut – sein ein­zi­ger – sitzt ihm in einer jun­gen­haf­ten Keck­heit auf dem Schä­del. Die Cari­tas hat­te ihm einen neu­wer­ti­gen gespen­det. Jetzt noch steckt der irgend­wo unauf­ge­setzt in einem Kar­ton am Dachboden.

Der Stadt­plan von Coburg ist für ihn ein irrg­ar­ti­ges Netz von unge­le­se­nen und unaus­ge­spro­chen Namen. Nur die Rou­te nach Sankt Augu­stin ist ihm von Mari­en­an­dach­ten und Got­tes­dien­sten her ver­traut. Im Latein der Mes­se, dem Sing­sang der Lita­nei­en, dem Wohl­ge­ruch des Weih­rauchs fühlt er sich auf einer Hei­mat­in­sel. Viel­leicht gehört auch noch der Weg zur Bahn­hofs­brücke dazu, von der er ab und zu mit Jakob und Andi zusam­men in den Fluss hin­un­ter spuckt. Die­se unstill­ba­re Lei­den­schaft hat­te er auf sei­ne Enkel schon in ihrer frü­hen Kind­heit über­tra­gen, als er ihnen vor­mach­te, wie man von der hohen Oder­brücke in die Last­käh­ne mit Stein­koh­le spuckt.

Die lang­roh­ri­ge, aus vie­len Ein­zel­tei­len zusam­men­ge­steck­te und geschraub­te Jäger­pfei­fe ist für Jakob inter­es­san­ter als Papas Ziga­ret­ten­rol­ler. Er kann sie aus­ein­an­der neh­men, den herr­lich stin­ken­den Tabak­teer mit Klo­pa­pier her­vor­ho­len, die brau­ne Papier­wal­ze Brü­dern zu ihrem Ent­set­zen unter die Nase halten.

Die Jun­gen lie­ben den Opa Gustav, hal­ten ihn trotz sei­ner Rosen­kranz­e­rei für einen rich­ti­gen Mann, löchern ihn mit Fra­gen nach frü­her. Womit er sich gegen die Käl­te geschützt hat, als er bei der Reichs­bahn im eisi­gen Brem­ser­häus­chen mit­fah­ren muss­te. Und wie dann spä­ter sei­ne Dienst­uni­form als Reichs­bahn­ober­schaff­ner aus­ge­se­hen hat. Sol­che Sachen wol­len sie immer wie­der aus sei­nem Mund hören. Und er ant­wor­tet gedul­dig, erfin­det nichts dazu, lässt nichts weg.

Sei­ne immer noch geschick­ten, alters­flecki­gen Hän­de mit den gelb­li­chen, etwas gewell­ten Fin­ger­nä­geln schnit­zen herr­li­che, aber unfer­ti­ge Muster in ihre Hasel­nuss­stöcke, ermun­tern zur Voll­endung der Kunst­wer­ke. Sehen sie beim Waschen oder Umzie­hen Opas kalk­wei­ßen, wel­ken Hin­tern und noch mehr, sie kichern nicht. Grin­sen nicht einmal.

Sein Sol­da­ten­dienst bei der kai­ser­li­chen Kaval­le­rie bie­tet uner­schöpf­li­che Mög­lich­kei­ten zu lau­schen und zu fra­gen. Die Namen von hun­dert Pfer­den sei­ner Rei­ter­schwa­dron kennt er heu­te noch. In alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge. Von Astrid bis Zora. In der Ober­schu­le geben die Enkel sogar mit ihm an. Schlep­pen ungläu­bi­ge Cobur­ger Klas­sen­ka­me­ra­den mit. Er lässt sich vor­füh­ren mit Astrid bis Zora. Will doch sei­ne Enkel nicht blamieren.

Den Tod wer­de er sich noch holen, lamen­tiert sei­ne Toch­ter, wenn er zu sei­nem Bra­vour­stück antritt. Die geblüm­te Decke muss vom Tisch gezo­gen wer­den, bevor er den Cobur­gern das Tisch­küs­sen vor­füh­ren kann. Eine selt­sa­me Akro­ba­tik, bei der sich sein Ober­kör­per, auf die Hän­de gestützt, lang­sam auf die Tisch­plat­te hin­ab senkt, wäh­rend die gestreck­ten Bei­ne waa­ge­recht in der Luft zu schwe­ben schei­nen. Tan­te Hele­ne bekreu­zigt sich, wenn sie Opas Schlä­fen­adern unter dem Hut­rand her­vor­quel­len sieht. Seufzt erge­ben ihr JESUS­MA­RIA und sieht zum Him­mel auf, der in die­sen Momen­ten die Zim­mer­decke ist.

Der star­ke Klaus aus der Cal­len­ber­ger Stra­ße knickt schmäh­lich ein, als er es dem Opa nach­ma­chen will. Und das, obwohl er in der Cobur­ger Tur­ner­schaft ist.

Krem­pelt Opa sich den Woll­fla­nell des karier­ten Hemds hoch, dann fal­len ihre Blicke jedes Mal wie gebannt auf die schlaf­fe, dün­ne Haut der Unter­ar­me. Am lin­ken ver­birgt sich eine Nixe mit hin­ter dem Kopf ver­schränk­ten Armen in den Run­zeln sei­ner fünf­und­acht­zig Jah­re. Oben rich­tig nackt mit Brü­sten. Unten lei­der bloß Fisch. Rechts kreu­zen sich über einer ver­schwom­me­nen Zahl zwei krum­me Rei­ter­sä­bel in ver­blass­tem Tätowierungsblaugrün.

Immer, wenn die Jun­gen die Fal­ten sei­ner kin­der­wei­chen Unter­arm­haut straf­fen, dreht er sein Gesicht über ihren gebeug­ten Köp­fen weg. Blickt wie ein Pati­ent, wenn der Arzt ihn unter­sucht. Oder blickt er zurück? Der Mund ist nach unten gebo­gen. Auch so kann er lächeln.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839