Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 26
Romanepisoden von Joachim Kortner
Steno
Er hat sich im Wohnzimmer an den Ausziehtisch gesetzt, muss Steno üben. Wie eine Geheimschrift kommt ihm das vor, wenn er die Bögen, Haken, Strichverstärkungen und Kürzel in die Zeilen setzt.
Hinter der Tür zum zweiten Dachzimmer Tante Helenes wehleidige Stimme. Ab und zu blubbert ihr der Opa einsilbige Antworten dazwischen.
Einen Stock tiefer das dumpfe Getöse der Singers und Pfaffs.
Puppenkleider aus rutschiger Kunstseide werden da unten im großen Nähsaal zusammengerattert.
Er schiebt das Stenoheft beiseite, steht auf, hält sich ein Ohr zu, lauscht an der Tür. Tante Helenes Stimme, jetzt mit giftigem Stachel im Ton. Seine Mutter sei eine Hexe, eine Brandskröte, verfluchte. Eine falsche Schlange. Den einzigen Bruder habe sie ihr gestohlen. Das werde sie eines Tages büßen müssen. Noch sei nicht aller Tage Abend. Dazwischen immer wieder Opas Stimme. Irgendetwas von versündigen. Die Tante verfällt aus selbstmitleidigem Gejammer in grelles, drohendes Gekeife. Jetzt braucht er nicht mehr an der Tür zu lauschen, kann alles vom Tisch aus verfolgen. Immer wieder dieselben Gehässigkeiten über die Mama.
Aber jeden Morgen in die Frühmesse nach Sankt Augustin watscheln, an der Kommunionbank die Zunge herausstrecken. Wegen dem lockigen Kaplan. Ach, was hat der für schöne Hände! Opas Stimme ist verstummt. Jakob bannt das Zungengift auf seinen Block, verdickt ganz bewusst die Umlaute von Kröte, büßen, müssen.
Die Mama wird staunen. Und alles auch noch wortwörtlich.
Er wird ihr zeigen, dass er zu ihr hält.
Dass er alles Gemeine und Hinterhältige entlarvt.
Dass er sie schützt.
Der Opa hat nichts Gemeines, nichts Hinterhältiges gesagt. Mamas mühselige Schritte auf der Holztreppe. Er geht ihr entgegen, nimmt ihr die prallen Netze ab.
*
Auf dem Judenberg war eine Zweizimmerwohnung frei geworden. Die Hexe, die Brandskröte, verfluchte, die falsche Schlange hatte sich umgehört und die Adresse ausfindig gemacht. Eines der kleinen Ziegelsteinhäuser. Sogar mit Gartennutzung. Alle vier Brüder ziehen und schieben den Wagen mit der großen Ladefläche. Schepperige Teile von zwei Bettgestellen, eiserne Spiralfederroste, Matratzenstapel, verschnürte Pappkoffer und Kartons. Das straffe Stahlfedergeflecht der Bettenroste vibriert misstönig auf dem Kopfsteinpflaster. Mit allen Kräften den steilen Berg hinauf. Jakob hat eigentlich vorgehabt, sich einen bequemen Nachmittag zu machen. Einfach bloß so auf der Straße herum fahren, will sich in seiner neuen Frisur zeigen. Mit Maiglöckchenhaaröl nach hinten gelackt. Natürlich ohne Scheitel. Hoffentlich begegnet er beim Handwagenziehen nicht irgendwelchen Coburger Klassenkameraden. Garantiert würden die ihn am nächsten Tag nerven, ihn womöglich noch fragen, ob er denn den Weg zum Schrottplatz nicht kennt oder irgend so einen Mist.
Das Haus brauchen sie nicht zu suchen. Opa und Tante stehen am Lattenzaun. Die müssen mit dem Stadtbus voraus gefahren sein. Tante Helene gerührt. Sagt etwas von guten Jungs, Hilfsbereitschaft und wenn ich euch nicht hätte.
Der Opa hält einen Hammer in der Hand.
Die Gardinen hängen schon.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E‑Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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