Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 23

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Latein

Jakob geht dem Brief­mar­ken­be­sit­zer aus dem Weg.

Er hat die gestoh­le­ne Hit­ler­mar­ke ver­nich­tet, sei­ne kleb­ri­gen Fin­ger sogar mit ATA sau­ber geschrubbt. Den Geruch des Dieb­stahls konn­te er nicht aus sei­nem Gedächt­nis vertreiben.

Was wür­de da alles über ihn her­ein­bre­chen, wenn sei­ne Tat trotz allem doch noch her­aus käme? Wür­den die ihn dann vom Erne­sti­num schmei­ßen? Viel­leicht wür­den die Cobur­ger ihn sogar in das Lager in der Luther­schu­le zurück­schicken. Oder sogar in die­ses fer­ne Drahns­dorf, wo die Rus­sen waren.

Bei der näch­sten Beich­te ver­schweigt er dem Kaplan die Brief­mar­ken­sün­de und hat damit schon wie­der eine Sün­de begangen.

Von der Kom­mu­ni­on­bank kann er jetzt auch nicht wegbleiben.

Im Geist hört er schon die for­schen­de Droh­stim­me des Vaters, ob er denn eine Tod­sün­de began­gen habe. Immer blickt er durch das Holz­git­ter des Trep­pen­ge­län­ders nach unten. Wenn die Büro­tür des Juni­or­chefs sperr­an­gel­weit offen steht, war­tet er. Mög­lichst nicht in ein Gespräch ver­wickelt werden.

*

Das neue Schul­jahr ist erst zwei Tage alt. Die Bücher sind noch nicht ein­ge­bun­den. Das Frei­bad hat noch geöff­net. Sil­ber­ne Här­chen des Alt­wei­ber­som­mers schwe­ben über den Gär­ten, durch Stra­ßen und Gas­sen. Und das Erne­sti­num hat Jakob in ein von Haus­auf­ga­ben frei­es Wochen­en­de ent­las­sen. Im Hof hat er sein Rad auf Sat­tel und Lenk­stan­ge gestellt, mit Pril­was­ser und einer aus­ge­dien­ten Unter­ho­se den Staub der letz­ten Woche weg­ge­spült. Er rich­tet sich auf und betrach­tet die schau­mi­ge Bahn des Spül­was­sers und den Hof­gul­li, der alles wegschluckt.

Das eiser­ne Hof­tor hat­te gera­de geschep­pert. Der jun­ge Haus­herr kommt von der Stra­ße her­ein. Jakob tut, als habe er ihn nicht bemerkt, löscht den Öldurst der Kugel­la­ger am Nip­pel des Hin­ter­rads, gönnt jedem ein­zel­nen Ket­ten­glied einen Trop­fen, täuscht mit dün­nem Pfeif­ton ein unbe­fan­ge­nes Beneh­men vor.

Erst auf das Flei­ßig­flei­ßig dreht er sich um, grüßt artig.

Ob er etwas Beson­de­res sehen will, fragt ihn der Haus­be­sit­zer und zieht sein Schlüs­sel­bund aus der Jackettasche.

Das ist sie, die zwei­te Prü­fung sei­ner Ehr­lich­keit. Jetzt will er nicht noch ein­mal so kläg­lich ver­sa­gen, wie bei der Hit­ler­brief­mar­ke. Er nickt dem Haus­herrn zu, wischt sich die öli­gen Hän­de an der Leder­ho­se ab. Heu­te wird er nichts mit­ge­hen lassen.

Auch wenn die Gele­gen­heit noch so gün­stig sein sollte.

Herrn Peli­kans Schlüs­sel dreht sich im Schloss der Garagentür.

Was soll es denn da drin­nen Groß­ar­ti­ges zu sehen geben? Etwa den hell­blau­en Volks­wa­gen, den der Haus­herr jeden Sams­tag mit schau­mi­gem Schwamm wäscht, able­dert und mit den ver­schie­den­sten Mit­teln auf Hoch­glanz wie­nert? Den kennt er doch schon. Aber bevor sich die bei­den Flü­gel der höl­zer­nen Gara­gen­tür auf­tun, soll er noch Blin­de­kuh machen, sich zum Draht­zaun umdre­hen und sich erst auf Befehl die Über­ra­schung anse­hen. Er hört, wie eine Auto­tür sanft geschlos­sen wird. Danach der Anlas­ser. Ein lei­ses Sum­men. Ben­zin­aro­ma. Umdre­hen! Ein schwarz glän­zen­der, chrom­blit­zen­der Auto­rie­se. Flü­stern aus den ver­chrom­ten Lamel­len der Motor­hau­be, weiß­wan­di­ge Rei­fen von ele­gant geschwun­ge­nen Rad­kä­sten über­dacht. Dar­über das Ersatz­rad mit lackier­tem Gummimantel.

Aus dem her­un­ter gekur­bel­ten Fen­ster das fei­ste Strahl­ge­sicht des Haus­be­sit­zers mit sau­ber gezo­ge­nem Schei­tel und dicker Hornbrille.

Dass der Wagen einen Kom­pres­sor habe, kommt es jetzt unge­fragt aus dem Fah­rer­fen­ster, nach­dem der Flü­ster­mo­tor abge­stellt wor­den ist. Ver­le­gen geht er um das Luxus­au­to herum.

Auf dem Küh­ler der gro­ße, sil­ber­ne Buch­sta­be H, dem eine Kro­ne aus den Buch­sta­ben HORCH auf­ge­setzt ist.

Einer Krie­ger­wit­we habe er den Wagen sehr­sehr gün­stig abge­kauft. Ohne Füh­rer­schein habe die damit sowie­so nichts anfan­gen kön­nen. Außer­dem könn­te er sich eine Frau am Steu­er eines HORCH nicht vor­stel­len. Die Auto­mar­ke spricht er so bei­läu­fig aus, als ob es eine Selbst­ver­ständ­lich­keit ist, sie zu kennen.

Jakob wun­dert sich, dass der rei­che Haus­herr so zu ihm spricht.

Zu ihm, dem Jun­gen aus dem Hin­ter­haus, der nicht ein­mal weiß, was ein Kom­pres­sor ist. Der bloß ein Fahr­rad besitzt und sich das auch noch mit dem Bru­der tei­len muss.

Der HORCH-Besit­zer kur­belt das Fen­ster hoch. Breit klafft die schwe­re Tür nach vor­ne auf, gibt den Blick frei. Wul­sti­ge Leder­pol­ster, mit edlem Holz getä­fel­te Arma­tu­ren. Jakob hält, ehe er es sich ver­sieht, einen schrei­end roten Drei­ecks­wim­pel in der Hand. Zwei Wor­te mit gol­de­nen Fäden ein­ge­stickt. Eine wein­ro­te Kor­del umfasst das Fähn­chen. Er darf es an der Fah­nen­stan­ge befe­sti­gen. Als dann die drei Kara­bi­ner­ha­ken ein­ra­sten, gibt es gön­ner­haf­tes Hän­de­klat­schen. Die bei­den gestick­ten Wor­te CAR­PE DIEM liest er mit fal­scher Beto­nung, hält sie für die Auf­for­de­rung, lang­sam zu fah­ren. Weiß nicht ein­mal, dass die Fah­ne an einem Auto Stan­der heißt, hört Herrn Peli­kans amü­sier­tes Lachen und muss sich dazu das trö­sten­de Schul­ter­klop­fen gefal­len las­sen. Das sei Latein und hei­ße NUT­ZE DEN TAG.

Ihm tut es jetzt über­haupt nicht mehr Leid, dem Mann die Hit­ler­brief­mar­ke gestoh­len zu haben. Der HORCH springt an, fährt wis­pernd in die Garage.

Jakob schwingt sich auf sein geöl­tes Rad.

Die Ket­te knirscht nicht mehr.

Alles ist leicht.

Er fährt freihändig.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839