Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 22

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Coca Cola

Am näch­sten Tag steht schon früh eine War­te­schlan­ge vor der Frei­bad­kas­se. Jakob deu­tet auf die schwar­ze Tafel mit der Krei­de­bot­schaft Was­ser 21° Luft 30°. Im Stil­len sind sie allem dank­bar, was sie von dem blau ange­lau­fe­nen Gesicht des Ertrun­ke­nen ablenkt. Dem o‑beinigen Stra­ßen­keh­rer vor dem Bad, dem Ami im Kha­ki­hemd direkt hin­ter ihnen, dem Duft des Nuss­öls vom specki­gen Rücken der Frau vor ihnen, dem fer­nen Tatüta­ta eines Feu­er­lösch­zugs. Die Decke wird wie­der auf dem kno­chen­har­ten Boden über das glei­che gemar­ter­te Gras aus­ge­rollt. Mäd­chen sind in der Nähe. Des­halb zie­hen sie die Unter­ho­sen nicht unter dem Wickel­röck­chen ihrer Hand­tü­cher aus, gehen lie­ber zur Sicher­heit in die Kabinen.

Die Trenn­wän­de über­sät mit Bohr­lö­chern, eini­ge schon wie­der mit Sil­ber­pa­pier und Kau­gum­mi zuge­stopft. Man bückt sich, um Füße von Span­nern aus­fin­dig zu machen, wen­det den Löchern lie­ber die Hüf­te zu. Die Mas­se der Bohr­lö­cher, heißt es, soll von einem gewis­sen Har­ry stam­men. Der wür­de sei­nen Drill­boh­rer nur dann ein­set­zen, wenn wenig Bade­be­trieb war. Da könn­te er sein Hand­werk ohne Risi­ko aus­üben. Von Zel­le zu Zel­le ein Mickey­maus­heft unten hin­durch schie­ben, das ver­rä­te­ri­sche Bohr­mehl auf­fan­gen und besei­ti­gen. Danach soll er immer auf einem der Gar­ten­stüh­le sit­zen, von dort aus Kabi­nen aus­su­chen, in denen sich Frau­en oder Mäd­chen gera­de umziehen.

Gese­hen haben Jakob und Andi die­sen Har­ry noch nie. Andi stellt sich ihn klein, mick­rig und blass vor. Jakob mustert oft erwach­se­ne Män­ner, ob sie der Har­ry sein könn­ten. Aber viel­leicht ist das alles bloß ein blö­des Gequatsche.

Er geht erst ein­mal nach vor­ne zum Schwim­mer­becken, will nach Spu­ren von gestern suchen, hofft, kei­ne zu fin­den. Unter ihren Duschen von gestern ste­hen heu­te Kin­der, las­sen sich die Bade­müt­zen voll lau­fen, besprit­zen trocke­ne Vor­bei­ge­her und krei­schen vor Ver­gnü­gen. Die Tür des Pum­pen­häus­chens steht wie­der weit offen, lässt jeden in die Ein­ge­wei­de aus dicken schwar­zen Was­ser­roh­ren und run­den Druck­mes­sern hin­ein­se­hen. Heu­te mei­det Jakob das belieb­te Gehen in der frisch ein­ge­las­se­nen Fuß­wasch­rin­ne. Der Ertrun­ke­ne ist durch sie hin­durch an den Becken­rand gezo­gen wor­den. Das Becken­was­ser scheint heu­te noch dunk­ler zu sein. War­um hat der Bade­mei­ster das Was­ser nicht abge­las­sen? Der Tod muss doch noch unsicht­bar im Becken sein. Zwar spritzt es unter den Sprung­turm­bom­ben, klatscht bei den fla­chen Start­sprün­gen, über­spült die Trenn­bal­ken zum Becken der Nicht­schwim­mer und schwappt mit ein­la­den­den Wel­len an den Rand, aber Jakob kann es heu­te nicht locken.

Auf dem Rück­weg zur Decke glaubt er, den Har­ry aus­fin­dig gemacht zu haben. Das muss er sein. Har­ry, der Drill­boh­rer, sitzt auf einem Klapp­stuhl vor den Umklei­de­ka­bi­nen. Hat sie voll im Blick. Es stimm­te also doch, dass er hin­ter dem Namen Har­ry immer einen älte­ren Mann ver­mu­tet hat­te. Der hat am Hin­ter­kopf eine lich­te Stel­le. Muss sie mit ande­ren Haa­ren über­käm­men. Der trägt eine ele­gan­te Bade­ho­se mit einem gefloch­te­nen Gür­tel. Auf dem lee­ren Stuhl neben ihm die zusam­men gedreh­te Hand­tuchrol­le. Das kann nur der ein­ge­wickel­te Drill­boh­rer sein.

An sei­nem Tisch sitzt ein Mäd­chen, so um die sech­zehn. Ihr hat er auch eine Cola mit Stroh­halm spen­diert. Der wird bloß dar­auf war­ten, dass sie sich umzieht, wird schau­en, in wel­cher Kabi­ne ihre Füße unten auf­tau­chen, schnell auf­ste­hen und in der Nach­bar­ka­bi­ne durch die Löcher span­nen. Jakob spürt, wie flach und eng ihm der Atem wird. Allein gegen einen Erwach­se­nen. Er braucht die Ande­ren von der Decke.

Die dösen vor sich hin oder schmö­kern in Jörn Far­rows U‑Bootabenteuern. Als er im Keu­chen den Namen Har­ry her­aus stößt und sogar behaup­tet, ihn gera­de jetzt ent­tarnt zu haben, da wer­den alle hellwach.

Ist er doch ein mäch­ti­ger Mann, die­ser Har­ry. Ohne Gesicht, doch wagt der sich, Löcher ins Bad zu boh­ren, was sich kei­ner von ihnen getraut hätte.

Jeden Ein­zel­nen von ihnen hat­te er mit sei­nen beschis­se­nen Löchern schon gezwun­gen, sich in der Kabi­ne auf Bohr­loch­hö­he zu bücken und selbst auf nack­tes Fleisch zu span­nen. Pim­mel und Säcke hat­ten sie gese­hen, vom kal­ten Was­ser zwer­gig und schrum­pe­lig. Bäu­che von Mäd­chen und Frau­en, noch flach und kahl, ande­re auf­re­gend gewölbt und mit wil­den Wol­ken von dunk­lem Gekräusel.

Dafür schä­men sie sich vor sich selbst. Dafür has­sen sie ihn, den Unbe­kann­ten, der einen Namen hat. Zu Viert ren­nen sie nach vor­ne, stak­sen dann harm­los tuend zwi­schen den Gar­ten­stüh­len über die Fluss­kie­sel­flä­che. Jakob ist froh, dass der Har­ry noch da sitzt. Jetzt kann er ihnen nicht mehr ent­kom­men. Auch das Mäd­chen sitzt noch am Tisch. Rat­los gehen sie erst ein­mal an den Kiosk, kau­fen sich für fünf Pfen­ni­ge eine Stan­ge Prickel-Pit und ein Beu­tel­chen Fri­geo-Brau­se­pul­ver, behal­ten dabei den Har­ry fest im Blick. Andi zieht eine ganz enge Beob­ach­tungs­run­de. Er kommt zum Kiosk zurück und pru­stet, dass bei dem Har­ry ein Ei her­aus­hängt. Jakob zieht sei­nen Kreis beson­ders eng, beson­ders lang­sam, setzt sich auf die Kie­sel­stei­ne. Gibt vor, sich etwas ein­ge­tre­ten zu haben und es her­aus­zie­hen zu müs­sen. Er täuscht sich nicht. Er hat das Ei gese­hen. Es war aus Har­rys Gür­tel­ba­de­ho­se her­aus gequetscht, glänz­te, hat­te blaue Adern und Kräu­sel­haa­re. Der Har­ry und das ange­lock­te Mäd­chen haben nur noch zwei Zen­ti­me­ter Cola. Jetzt sagt er etwas zu ihr. Sie scheint sein Ei noch nicht bemerkt zu haben. Sonst hät­te sie sich schon längst geekelt. Sich geniert, mit so einem zu sit­zen, bei dem ein­fach so ein Ei her­aus­hängt. Wäre natür­lich längst auf­ge­stan­den und weggegangen.

Jetzt mit dem Ei, da hat er eine Schwä­che gezeigt, ist für die Jun­gen angreif­bar gewor­den. Die gan­ze Zeit haben sie kei­nen Plan gehabt, was zu tun ist. Jetzt treibt sie der blan­ke Instinkt.

Sie wer­den ihn ver­trei­ben. Nicht, dass sie sich dar­über bera­ten haben. Sie fan­gen ein­fach an, sich Fluss­kie­sel zu zuwer­fen, sie ein­hän­dig in der Luft zu fan­gen. Die Wurf­bah­nen kom­men dem Tisch von Har­ry immer näher. Mit Won­ne sehen sie sein abwei­sen­des, belä­stig­tes Gesicht. Die Kie­sel flie­gen über den Tisch.

Sei­ne deut­li­chen Lau­te und Wor­te des Pro­tests über­hö­ren sie, schau­spie­lern kind­lich unbe­fan­ge­nes Spiel. Mit Sie­ges­ge­wiss­heit regi­strie­ren sie den gespiel­ten Blick auf die Armbanduhr.

Der Har­ry nimmt sein Hand­tuch mit dem ein­ge­wickel­ten Drill­boh­rer, macht eine lin­ki­sche Ver­beu­gung und geht zu den Umklei­de­ka­bi­nen hin­über. Jakob war­tet, bis er die­se San­da­len­fü­ße mit dem Hüh­ner­au­gen­pfla­ster auf dem Holz­rost der Umklei­de­ka­bi­ne erkennt. Links und rechts vom Har­ry lee­re Kabi­nen. Das Mäd­chen macht noch kei­ne Anstal­ten zum Auf­ste­hen, scheint die Jun­gen wohl als Ret­ter zu schät­zen, wirft ihnen sogar kichernd einen Kie­sel zu, der auf ihrem Tisch gelan­det war. Eine Freun­din kommt, setzt sich zu ihr. Der Har­ry ist aus der Kabi­ne her­aus­ge­kom­men, hat sich eine schnee­wei­ße Turn­ho­se ange­zo­gen und die blei­chen Bei­ne geölt. Als er die bei­den Mäd­chen am Tisch sieht, stutzt er und ver­zieht sich in Rich­tung der Dach­ter­ras­se. Das Tuch mit dem getarn­ten Boh­rer hält er immer noch in der Hand.

Sie haben ihn besiegt. Und das Mäd­chen haben sie auch geret­tet. Ab und zu geht einer von ihnen nach vor­ne zu den Gar­ten­stüh­len und ver­ge­wis­sert sich, ob der Har­ry doch noch auf Wei­ber lau­ert. Aber der scheint die Nase voll zu haben.

Jakob fühlt sich stark. Er ist es doch gewe­sen, der den Har­ry ent­larvt hat. Er beschließt, nie wie­der durch die­se Scheiß-Span­ner­lö­cher zu schauen.

Alle vier sind jetzt reif für das Schwimm­becken. In wil­der, über­mü­ti­ger Schlacht peit­schen sie das dunk­le Was­ser zu wei­ßem Gischt, zie­hen danach ruhig ihre Bah­nen. Der Ertrun­ke­ne mit dem blau­en Gesicht kann sie nicht mehr schrecken.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839