Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 21

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Deut­sches Reich

Schon im Kin­der­got­tes­dienst muss er dar­an den­ken, wie es sein wür­de, wenn er den Klin­gel­knopf im blank geputz­ten Mes­sing­schild drückt, nach dem Schnarr­ge­räusch die schwe­re Tür öff­net und dann über den roten Kokos­läu­fer bis hin zur Woh­nungs­tür des Fabrik­be­sit­zers geht. Vor­her will er nur noch schnell sein Gesang­buch in die Woh­nung hoch tra­gen und sich die wind­zer­zau­sten Haa­re kämmen.

Der Juni­or­chef scheint ihn schon im Hin­ter­haus erwar­tet zu haben. Sei­ne Büro­tür geht gera­de in dem Moment auf, als Jakob an ihr vor­bei­kommt. Auf einem schwe­ren Dreh­stuhl lässt er ihn Platz neh­men. Meh­re­re gro­ße, in schwar­zes Leder gebun­de­ne Alben lie­gen vor ihm auf dem grü­nen Samt der Schreib­tisch­un­ter­la­ge. DEUT­SCHES REICH, EURO­PA und ÜBER­SEE ist mit gol­de­nen Buch­sta­ben ins Leder geprägt.

Das Tele­fon schrillt neben den Leder­al­ben. Der Juni­or­chef greift zum Hörer. Sei­ne Stim­me nimmt gleich einen piep­si­gen, manch­mal flö­ten­den Ton an. Dann hebt er den gan­zen Appa­rat über Jakobs Kopf, trägt ihn mit der gefloch­te­nen Schnur in ein Neben­zim­mer, flö­tet und piepst dort hin­ter geschlos­se­ner Tür wei­ter. Jakob will war­ten, bis Herr Peli­kan wie­der da ist, greift sich dann doch DEUT­SCHES REICH.

Uner­reich­ba­re Kost­bar­kei­ten in kom­plet­ten Sät­zen. Man­che noch auf beson­ders sorg­fäl­tig gestem­pel­ten Brief­um­schlä­gen. Ande­re in zusam­men hän­gen­den, noch nicht her­aus getrenn­ten Blöcken. Die aller­mei­sten mit dem Kopf vom Adolf Hit­ler in allen Grö­ßen und Far­ben. Alles hin­ter glas­kla­rem Cellophan.

Beim Umblät­tern stößt er auf eine lee­re Sei­te. Nur eine klei­ne rote Hit­ler­mar­ke liegt geknickt im Falz. Er wehrt sich nur kurz gegen sei­ne Hab­gier, lässt das win­zi­ge rote Recht­eck in der Hand ver­schwin­den, beschwich­tigt sein Gewis­sen mit den Gedan­ken, dass der so vie­le und er so weni­ge hat. Dass der geknick­te Hit­ler sowie­so nichts mehr Wert ist. Schnell wech­selt er noch die Mar­ke von der rech­ten in die lin­ke Hand. Viel­leicht wird der Juni­or­chef sich von ihm mit einem Hän­de­druck ver­ab­schie­den wol­len. Das Gepiep­se und Geflö­te aus dem Neben­zim­mer ist ver­stummt. Der Brief­mar­ken­be­sit­zer kommt wie­der her­ein, sagt noch, dass man als Geschäfts­mann nicht ein­mal am Sonn­tag sei­ne Ruhe habe und for­dert mit einem freund­lich gelä- chel­ten Na? zu einem Brief­mar­ken­lob heraus.

Jakob hört sei­ner eige­nen Stim­me zu, wie sie in Erwach­se­nen­ma­nier Wun­der­bar! sagt. Der post­fri­sche Hit­ler­kopf hat sich inzwi­schen mit dem Schweiß sei­ner die­bi­schen Hand ver­klebt. Bei der Ver­ab­schie­dung mit der rech­ten ist er froh über sei­ne Vor­aus­sicht. Aber wie ger­ne wür­de er den Hit­ler jetzt wie­der los wer­den. Zu spät wird ihm klar, dass er ihn nicht ein­mal in sein klei­nes Album stecken kann. Zu leicht hät­te der Besit­zer das ver­rä­te­ri­sche Vier­eck dort wie­der auf­stö­bern kön­nen. Viel­leicht war das mit den Alben eine Fal­le, in die er getappt war. Eine Prü­fung, wie ehr­lich er ist. Und er hat die Prü­fung nicht bestan­den, hat Freund­lich­keit mit Dieb­stahl ver­gol­ten. Sei­nen Haus­wirt zu besteh­len, das ist schon etwas Ande­res, als ein paar Äpfel mit­ge­hen zu las­sen oder sich eine Hand­voll Erd­bee­ren zu klauen.

Auch sei­nen Eltern braucht er mit einer Brief­mar­ke vom Hit­ler gar nicht erst zu kom­men. Wenn der Schnauz­bart nicht gewe­sen wäre – so hat­te es ihm sei­ne Mut­ter ein­mal gesagt – dann könn­te er heu­te in Oppeln von der Oder­brücke in den brei­ten Strom spucken und die Fluss­damp­fer unter sich vor­bei­fah­ren sehen. Mit der Zusi­che­rung, sich irgend­wann auch ein­mal EURO­PA und ÜBER­SEE anse­hen zu dür­fen, wird er verabschiedet.

Auf den Holz­trep­pen zum vier­ten Stock kommt ihm die Idee, den roten Hit­ler bei der ver­spro­che­nen Besich­ti­gung von ÜBER­SEE unauf­fäl­lig in ein Album glei­ten zu las­sen, ver­wirft aber den Gedan­ken als zwei­te mög­li­che Falle.

Ohne über­haupt noch ein­mal einen Blick auf die Mar­ke zu wer­fen, rollt er sie zwi­schen schwit­zi­gen Fin­gern zusam­men, wirft sie ins Gemein­schafts­klo auf dem Trep­pen­flur, zieht an der Ket­te und war­tet, bis sich das Spül­was­ser beru­higt hat. Jetzt könn­te ihm kei­ner mehr etwas nach­wei­sen. Zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger spürt er nur noch den Hit­ler­leim. Es ekelt ihn vor sich selbst. Noch mehr, als wenn ihm ein Blatt Klo­pa­pier ein­ge­ris­sen wäre.

Er kommt in die Küche. Denkt, dass man ihm den Dieb­stahl anse­hen müss­te. Die Mama macht gera­de die Sonn­tags­klö­ße. Beim Kar­tof­fel­rei­ben hat sie sich ihre Knö­chel am Reib­ei­sen blu­tig geris­sen. Mit einem Strei­fen Leu­ko­plast kann er sie schnell ver­arz­ten. Er ist wie­der ein guter Jun­ge, denkt er.

Es klopft und zugleich wird die Tür geöff­net. Der haar­öli­ge Kopf des Brief­mar­ken­be­sit­zers schaut her­ein. Jakob weiß, dass er jetzt bald ein trocke­nes Gefühl im Mund haben wird. Das ist immer so bei ihm, wenn er ganz gro­ße Angst hat. Ihre Kloß­teig­hand will sie dem Gast nicht zumu­ten, hält dem Haus­herrn nur den rech­ten Ellen­bo­gen zur Begrü­ßung hin und bit­tet ihn her­ein. Er wehrt ab, legt nur etwas auf den Tisch und ver­schwin­det so schnell, wie er gekom­men ist. Jakob linst durch den Spalt der Küchen­tür ins Wohnzimmer.

Sein Gesang­buch mit dem Rot­schnitt. Fast schlecht wird ihm vor Erleichterung.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839