Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 19
Romanepisoden von Joachim Kortner
SVC und AWV
In den SVC wären Jakob und Andi schon gerne eingetreten.
Weil die so schöne Badehosen haben. Dunkelblau und vorne die Buchstaben. Mit drei Aluminiumknöpfen werden die an der Seite geschlossen. Aber sie glauben fest, dass die nur Coburger in den Verein reinlassen. Wegen dem C.
Den AWV halten sie auch für eine geschlossene Gesellschaft, denken, dass der nur für Arbeiter offen ist. Wegen dem A. Ihr Vater ist nicht auf dem Bau oder in einer Fabrik.
Das alles haben sie sich so zurecht gedacht, in dieser neuen Welt niemanden gefragt. Meinen, dass es deshalb stimmt. Bisher hatten die Brüder im Wasser immer nur solche komischen Dinger an, die ihnen beim Schwimmen von ihren dürren Hüften rutschten. Das waren zwei Mädchenschlüpfer von der Caritas.
Ihre Mutter hatte sie ihnen umgefärbt, ärgerte sich noch zwei Wochen lang über das Schwarz in ihren Handlinien. In Rosa hätten sie die Dinger nicht einmal als Unterhosen angezogen.
In der Spitalgasse hatte ihre Mutter diese Hosen auch ohne die drei Buchstaben ausfindig gemacht.
Kein Anprobieren. Hinhalten – passt. Im Wohnzimmer gleich anziehen. Ein Arschbacken darf ruhig etwas heraus schauen.
Das machen die Coburger auch so. Die Hüftschnur straff, dann braucht man keinen Schiss mehr vor dem Köpfer zu haben.
Die vom SVC und AWV schauen einen nicht mehr so verächtlich an, bilden sie sich ein. Das ladenneue Dunkelblau muss jetzt nur noch viel ins Chlorwasser und lange in die pralle Sonne. Dann ist es auch so schön ausgebleicht wie die echten Badehosen.
Jakob steht zum ersten Mal auf dem Fünfer. Auf dem Einer und Dreier trainieren die vom SVC Salto und Auerbachschraube.
Die können das, weil sie die drei Buchstaben haben.
Tausend Meter unter ihm das Stimmengewirr am Beckenrand.
Düstertrübes Flusswasser lauert dort drunten im Becken. Schon in einem Meter Tiefe lässt es dich unsichtbar werden. Wer da nicht gleich wieder hochkommt, der bleibt für immer unten.
Da tauchen sie empor, die Springer. Aus ihren dunklen Luftperlenschächten. Werfen die triefenden Mähnen nach hinten. Erklettern das Dreier wieder und wieder. Nesteln an der Hosenschnur. Stellen sich das Sprungbrett an der Stellschraube härter und weicher, lassen es beim Absprung flattern, lassen den Turm erdröhnen. Jakob hält sich am Fünfergeländer fest. Er will hinunter, will Erde oder Gras unter den Sohlen spüren.
Aber schon einmal hatte er von der Dachterrasse aus das wiehernde Gelächter erlebt, mit dem die gierige Schar der Schaulustigen einen kleinen Rückkletterer bekleckerte. Feigling, Hosenscheißer, Schisser hagelte es damals aus der Meute der Sprungturmglotzer auf den Jungen.
Mädchen stehen auch da unten, ein paar Jahre älter als Jakob.
Mit Busen und Haaren unter den Achseln. Die müssten doch anerkennen, dass er sich mit seinen elf Jahren von der Höhe einen Arschbomber zu machen traut.
Trockener und wärmer darf er die Haut jetzt nicht mehr werden lassen. Mit seinem Angststein im Magen rennt er auf der gerillten Gummimatte vor, zieht die Knie an die Brust, sieht für einen Sekundenbruchteil noch den riesigen NIVEA-Ball auf den Wellen tanzen. Zugekrampfte Augen. Er hofft, dass es ganz toll spritzt, ihm aber nicht zu sehr wehtut. Aufschlag. Das Chlorwasser schießt ihm die Nase hoch. Er taucht auf, hustet. Die da drüben klatschen Beifall, johlen. Für einen von ihnen. Der muss gerade einen guten Sprung vom Dreier gemacht haben.
Jakob schwimmt weiter weg, traut sich mit seinem Arschbomber nicht, beim Sprungturm heraus zu klettern. Nach der kalten Dusche schlendert er in der pisswarmen Fußwaschrinne zurück.
An den SVC-Turmspringern vorbei. Der Beklatschte hat sich verletzt. Mit dem Hinterkopf die Brettkante gestreift, kriegt er aus Gesprächen im Vorbeigehen mit. Vom Bademeister schon verarztet. Ein Tropfen braune Jodtinktur rinnt dem Turmspringer über die Schulter von einer Wasserperle zur nächsten. Jakob blickt an sich herunter. Denkt, dass er jetzt nicht mehr aussieht, wie ein Flüchtlingskind. Wegen der neuen Hose. Und weil er heute gelernt hat, wie man seine triefenden Haare gleich beim Auftauchen nach hinten wirft. Da sieht man wild aus und stark.
Wie ein Wassertier. Alle von denen machen das so. Er wird das von jetzt an auch immer so machen.
Die siebzehn Grad haben ihn zu einem der unterkühlten Zitterer gemacht, die sich dem Bann des Schwimmbeckens trotzdem noch nicht entziehen können. Manche Kinder suhlen sich in der Brühe der Beckenrinne. Er hat schon mal gesehen, wie eine Mutter ihr Baby darüber abhielt und wie eine alte Drecksau von Mann seinen grünen Fladen dort hinein rotzte. Da steigt er doch lieber auf die Terrasse über den Kabinen. Blaulippig legt er sich mit dem Bauch auf den heißen Dachasphalt, bibbert sich trocken und warm, bis ihn die Kulisse der Badegeräusche an den Schlafrand heranführt. Irgendwann wird er einen Stups von einem großen Zeh bekommen, wird gefragt werden, ob er mit ins Wasser geht. Oder, ob er schon den Dingsda gesehen hat. Er wird seinen Hunger spüren und zu der ausgefransten Wehrmachtsdecke vor den Trauerweiden beim Planschbecken gehen. Unter seinem Handtuch warten ein Beutel mit Tomaten, eine abgerissene Tütenspitze mit einer Prise Salz, dicke Brotscheiben und die Feldflasche mit Pfefferminztee.
Er wird sich über seinen Vorrat hermachen. Das Gejuchze an der Rutschbahn, die durchdringenden Zurufe, Gehuste und Geplärre nach dem Wasserschlucken – das alles wird ihm ein Geräuschbrei werden, ihn dann bäuchlings wegdämmern lassen.
Sein Bruder Andi wird sich vielleicht irgendwann auf seinen Hintern setzen und ihm den Rücken mit Mamas Salatöl einreiben, das Gleiche von ihm erwarten. Beide drehen sich auf Bauch und Rücken. Nicht, um braun zu werden. Sie wollen das ladenneue Dunkelblau ihrer Hosen ausbleichen und glauben, schon einen deutlichen Unterschied feststellen zu können.
Die Augustsonne hat die Brüder müde gebraten. Sie trotten unter dem Schatten der riesigen Trauerweiden hindurch, dann auf Zehenspitzen über die Flusskiesel, auf denen die Coca ColaSonnenschirme neben den Klapptischen stehen.
Unter der kalten Dusche beim Schwimmerbecken. Die Strahlen nadeln auf ihre fiebrig heißen Schultern. Sie sehen den Bademeister zum ersten Mal im Wasser. Er macht eine Rettungsübung mit einem Mann, zieht ihn in Rückenlage mit dem Doppelgriff unter dem Kinn auf den Beckenrand zu.
Er schleppt den schweren Mann über die Beckenkante. Das blau angelaufene Gesicht. Die hastigen Wiederbelebungsversuche.
Schnell hat sich eine Ringmauer aus flüsternden Zuschauern aufgebaut.
Andi und Jakob wollen nicht in der ersten Reihe stehen, verfolgen den Kampf durch die Sehlücken, die ihnen die Beine der Erwachsenen lassen. Ihre Duschhähne haben sie nicht mehr zugedreht. Der Bademeister kniet einen Augenblick verzweifelt neben dem Mann, ruft etwas von abhauen und hier gäbe es nichts zu glotzen. Die Ringmauer weicht einen Meter zurück, bleibt aber. Unter den Schultern gepackt zieht er den Mann hinüber ins Pumpenhäuschen, wo die Kinder bisher immer die dicken, schwarz lackierten Wasserrohre und großen Armaturen bestaunt hatten. Schlaff pendeln die Unterarme des Mannes hin und her.
Er schleift mit den Fersen auf den rauen Steinplatten.
Wenn der Hornhaut gehabt hat, dann hat er jetzt keine mehr, kichert ein Dickbauchmann mit Gummibadekappe. Keiner will es gehört haben.
Die Ringmauer gibt dem Bademeister einen Durchlass frei. Einer von der Wasserwacht kommt, schließt das Pumpenhäuschen von innen. Die Ringmauer zerbröckelt. Die Duschen laufen.
Drüben bei den Nichtschwimmern reiten die Kinder auf den rot- weiß gestreiften Abtrennungsbalken, bespritzen sich, hechten nach dem Nivea-Ball.
Im Schwimmerbecken zieht das Nilpferd, der alte Mann mit einer unter dem Kinn geknoteten Stoffbademütze, seine täglichen tausend Meter durch das Becken, braucht jetzt keinem mehr auszuweichen.
Heute will für Kopfsprung, Antauchen und Arschbombe keine Laune mehr aufkommen. Einsilbig liegen sie auf der Decke, wollen sich dann aber doch Gewissheit verschaffen. Sie besteigen die Dachterrasse. Der Bademeister hat dem Sprungturm Trauerkleidung verordnet. An allen Brettern hängen Sperrschilder. Das Nilpferd schwimmt allein. Die Duschen sind abgedreht.
Jakob fühlt, wie ihn Veste und Jugendheim von beiden Seiten drohend anschauen. Auf der Straße unten wälzt sich der Strom der Heimgeher stadteinwärts. Indern gleich gebräunt, auch mit erbarmungswürdigen Sonnenbränden in tiefem Rosa, manche mit weiß gesalbten Schultern.
Der schwarze Wagen mit den Palmzweigen kommt ihnen aus der Stadt entgegen. Hastig und stumm steigen sie von der Dachterrasse herab, gehen an ihren Liegeplatz, wickeln Unterhosen und Feldflasche in die Decke.
Draußen klebt sich der aufgeweichte Teer an ihre barfüßigen Sohlen und schmatzt beim Gehen, klumpt mit Sand und Straßenstaub, zwingt sie zum Abwetzen der Fersenkante am Rinnstein. Auf der Höhe des Schwanenteichs werden sie von der PIETÄT eingeholt. Die Männer haben ihre Fenster herunter gekurbelt, sitzen in weißen Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln steif in ihren Sitzen.
Die Brüder haben gehofft, dem Leichenwagen doch noch entkommen zu können, wollten sich nicht mehr von dem dunklen Hauch streifen lassen. Aber der geschäftige Lärm der Straße nimmt sie gnädig auf.
Der Mutter wollen sie nichts von dem Mann mit dem blauen Gesicht erzählen. Im Krieg hatten sie schon einmal einen toten Mann gesehen. Der hatte borstige Haare in den Nasenlöchern.
Sah aus, wie angelehnt. Damals hatten sie zu Hause auch nichts erzählt. Weil sie dachten, dass Kinder keine Toten sehen dürfen.
Die Mama wird ihnen die schwarzen Teerflecken an den Sohlen mit Margarine aufweichen und abwischen.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E‑Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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