Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 17

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Einladung

Aufnahmeprüfung und Probezeit geschafft. Endlich auf dem Ernestinum. Warum diese Schule so heißt, wissen Jakob und Andi nicht. Auf jeden Fall ist es eine Oberschule. Sie tragen die blaue Schülermütze. Eine ganz besondere Schule ist das. Da geht der Hausmeister von Klassenzimmer zu Klassenzimmer und sammelt das Schulgeld ein. Der kommt mit einem Holzkasten und macht den Deckel auf. Man muss vortreten, seine fünf Mark hineinlegen. Man kriegt ein Kreuz in seiner Liste und kann sich setzen. In der Pause gibt es kostenloses Essen. Genau so, wie früher in der Rückertschule. Hier auf der Oberschule heißt das Quäkerspeisung. Jakobs ältester Bruder ist schon in der Abiturklasse.

Der hat ihm gesagt, dass die Quäker eine amerikanische Sekte sind. Die hätten das Essen für die deutschen Kinder gespendet.

Aber der Vater sagt, dass das nicht stimmen kann. Denn von einer Sekte könne nichts Gutes kommen. Das würde man ja am besten bei den Jehovas Zeugen sehen, wenn die mit dem Wachtturm an der Straßenecke stehen oder einem die Bude einrennen, um brave Christen zu bekehren. Den Brüdern ist es egal. Hauptsache, das Quäkerzeug schmeckt.

*

Der Hansi ist der Klassenkleinste in der 1a. Fast einen Kopf kleiner als Jakob. Jakob ist froh, dass niemand den Hansi verspottet. Weil er nicht weiß, ob er mutig genug wäre, den Hansi zu verteidigen. Wenn er mal sehen will, wie ein Bienenhaus von innen ausschaut, dann kann Jakob den Hansi heute Nachmittag besuchen. Sein Vater sei Imker und werde heute Honig schleudern.

*

Er astet mit dem Damenrad die Seidmannsdorfer Straße hinauf.

Den Klingelknopf braucht er gar nicht erst zu drücken. Der Hansi wartet schon am Zaun einer weißen Villa. Den Hansi kann er nicht in die Dachwohnung der Raststraße einladen. Es gibt Kakao mit Zwetschgenkuchen. Und an den Wänden hängen große Bilder in verschnörkelten Goldrahmen. Das sei alles handgemalt, sagt der Hansi, als er Jakobs Staunblick bemerkt.

Hansis Mutter sitzt mit am Tisch und nickt. Als er die Kuchengabel vom glänzenden Tischtuch nimmt, ist er froh, dass die Mama ihm noch einmal die Fingernägel kontrolliert hat. Ein Berg aus Schlagsahne in einer Schüssel mit goldenem Rand.

Tassen, Untertassen und Kuchenteller – auch alle mit goldenem Rand. Hansis Mutter ist freundlich und rund. Sie sagt, dass der Hansi heute Geburtstag hat. Froh ist sie, dass der Hansi so schnell einen neuen Freund gefunden hat. Jakob gratuliert ihm über den Tisch hinweg und schämt sich, ohne Geschenk gekommen zu sein. Aus einer Karaffe gießt sie beiden Jungen einen winzigen Schuss von rotem Sirup in den Kakao, rührt um, lächelt und geht. Der Hansi trinkt einen Schluck, sagt hm und dass dies Mamis Spezialität sei. Ein Hauch von Himbeere vermengt sich mit dem Schokoladengeschmack. Jakob sagt zum Hansi auch hm. Die Mutter lässt ihr Gesicht im Türrahmen blicken und sagt, sie könnten jetzt kommen. Der Vati sei so weit.

*

Der Mann im Bienenhaus reicht Jakob nur den Ellenbogen. Er trägt einen breitkrempigen Strohhut. Sein Gesicht ist vom Imkernetz verhüllt. Im Holzrahmen goldgelbe Waben voll von dunklem Honig. Auf seinem Handrücken eine Biene in gekrümmtem Stich. Er lässt es geschehen. Der Hansi spannt den Holzrahmen in einen Apparat mit einer Kurbel. Drehen darf der Jakob. Als goldener Sirup fließt der Honig vom Ausflussrohr durch ein feinmaschiges Sieb. Der Vati hält einen Löffel darunter, lässt Jakob kosten. Der sagt hm. Die Bienenvölker haben sich beruhigt, sind nur noch wie ein sanfter, tiefer Orgelton zu vernehmen. Der Vati kann das Bienennetz mit dem Strohhut wieder abnehmen. Hansis Imker-Vati ist der Oberstudiendirektor des Ernestinums.

Der gleiche grauköpfige Mann mit dem Linealscheitel, der am ersten Schultag in die 1a gekommen ist. Ohne anzuklopfen. Einfach im Türrahmen gestanden. Der Studienassessor hatte mit ihnen gerade die vier Fälle aus der Volksschule wiederholt, ihnen die lateinischen Wörter dazu beigebracht, dann aber mitten im Satz 1a aufstehen gebellt. Seine Sextaner wolle er sich anschauen, sie auf dem altehrwürdigen Ernestinum begrüßen. Dann hatte er sich vor die 1a hingestellt, mit seinem Hornbrillenblick jeden angeschaut. Keine Bank hatte dabei geknarrt.

Den Herrn Oberstudiendirektor hatte er noch nicht einmal mit einem Händedruck begrüßt. Ihm nur zwei Mal den Ellenbogen auf und ab gehoben. Ohne Geschenk war er gekommen, hatte sich nur durch gefressen. Mit seinem eigenen Honig hatte der Oberstudiendirektor ihn gefüttert. Und er konnte bloß ein hm herausbringen. Wenn die gewusst hätten, dass er im vierten Stock in Untermiete wohnt, mit Schimmel an den schrägen Wänden, er wäre bestimmt nicht eingeladen worden.

Was der Vater denn von Beruf sei. In Oberschlesien Bankdirektor, hört er seine Stimme lügen. Die Anerkennungsmiene verführt ihn noch zu der Ergänzung, die Mutter sei einmal Chefsekretärin gewesen. Trotz der Lügen fühlt es sich gut an, nicht arm und unbedeutend zu sein.

*

Das geliehene Rad zittert und klappert bei der rasenden Abfahrt.

Der Fahrtwind tobt in seinen Ohren, die Augen hat er zu Schlitzen gepresst. Die Seidmannsdorfer Straße müsste ewig dauern.

Dann brauchte er nicht mehr darüber nachzudenken, in welche ausweglose Lage er sich heute hinein fabuliert hatte. Der Vater wird ihm eine knallen, wenn er erfährt, dass sein jüngster Sohn ihn zum Bankdirektor gemacht hat. Die Mama würde weinen.

Wegen der Blamage. Wie sie jetzt vor den Coburgern da stünde.

Und wenn der Oberstudiendirektor das erfahren sollte? Weiter will er gar nicht mehr denken.

Oben im vierten Stock erzählt er seiner Mutter von Kuchen, Schlagsahne, Kakao mit Himbeergeschmack und den Bienenvölkern, schweigt von Hansis Vater. Auch das freiwillig übernommene Abspülen samt Abtrocknen bringt ihm keine Erlösung.

*

Er steht im Traum vor einem Gericht. Durch das Imkernetz des Richters dröhnt die stumme Stimme seines Schulleiters. Der reißt ihm seine blaue Schülermütze vom Kopf und verurteilt ihn.

Er muss wieder zurück auf dieses Dorf in der Russenzone. Die Eltern und die drei Brüder dürfen in Coburg bleiben. Auf Jakobs Handrücken hat sich eine Biene gesetzt, krümmt sich, setzt den Stachel an. Ein lang gezogenes A quält sich aus dem Mund.

Andi hat das Licht angeknipst, blickt den Bruder verständnislos an. Hinter dem Vorhang ist die Tante Helene hervor gekommen.

Der Opa sitzt aufrecht im Bett. Eine Biene habe ihn in die Hand gestochen, lallt Jakob schlaftrunken. Die Tante sagt etwas von Zwiebelumschlag, untersucht seine Hand, kann nichts finden. Er schläft schon wieder. Andi macht das Licht aus.


Raststraße: Roman in Episoden

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Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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