Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 9

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Unhold

Die Frau Rath­ke hat es der Mama wei­ter gesagt. Das mit dem Unhold. Und die hat es aus irgend­ei­ner Illu­strier­ten. Den Arti­kel hat sie sich aus­ge­schnit­ten, der Mama gege­ben und spricht mit ihr dar­über . Jakob tut so, als höre er über­haupt nicht hin, blät­tert im Lese­buch. Das macht er immer, wenn die Gro­ßen sich etwas lei­ser unterhalten.

Den Aus­schnitt hat er auch gele­sen. Natür­lich heimlich.

Da stand etwas von einem grau melier­ten fünf­zig­jäh­ri­gen Unhold drin, der sich an Jun­gen her­an­macht und sie unsitt­lich berührt.

Also unten rum. Der Roland, sein älte­ster Bru­der, hat gesagt, dass man die­ser Dreck­sau auf sei­ne drecki­gen Pfo­ten hau­en soll­te und dann in sei­ne drecki­gen Eier tre­ten müsste.

Jakob fragt die Mut­ter, was meliert ist. Danach nimmt er sei­ne Faschingspat­sche aus Pap­pe. Er hat sie erst gestern auf dem Stein­ge­län­der der Moh­ren­brücke gefun­den. Die Pat­sche ist sein ein­zi­ges Faschings­zei­chen. Die ande­ren Jun­gen in der Stadt haben Papier­hü­te, Cow­boy­ho­sen, India­ner­fe­dern, Knall­plätt­chen­pi­sto­len und Toma­hawks. Mit der Stadt­ka­pel­le zie­hen die durch Moh­ren­stra­ße und Spi­tal­gas­se. Er geht mit sei­ner Pat­sche auf dem Bür­ger­steig bis zum Markt­platz mit. Hier riecht es immer gut nach Bratwurstrauch.

Die Kapel­le hat auf­ge­hört zu spie­len. Eltern war­ten, spen­die­ren Limo­na­de und Brat­wür­ste. Man­che Kin­der wer­den sogar fotografiert.

Von hin­ten fasst ihn eine Stim­me mit Na, mein Klei­ner an, fragt, ob er auch eine Brat­wurst haben möch­te. Jakob dreht sich um. Es ist der Unhold, grau meliert und mit einem vor­neh­men Anzug. Mit sei­ner Faschingspat­sche haut er ihm auf die Hand, die gera­de Mün­zen aus der Geld­bör­se her­aus sucht. Im Weg­ren­nen hört er noch, wie das Unhold­geld auf dem Pfla­ster klim­pert. Erst am Spi­tal­turm bleibt er ste­hen und keucht sich aus. Ihm fällt das mit dem Eier­tre­ten ein. Aber dafür waren doch zu vie­le Leu­te am Marktplatz.

Den Brü­dern erzählt er nichts davon. Die hät­ten ihn ausgelacht.

Weil er dem Unhold nicht in sei­ne drecki­gen Eier getre­ten hat.

Der Mut­ter erzählt er auch nichts. Die hät­te ihm Vor­wür­fe gemacht, dass er sich die frem­de Faschingspat­sche so ein­fach ange­eig­net hat.

Ein paar Tage danach ent­deckt er den Unhold wie­der, wie er in der Spi­tal­gas­se aus einem Leder­ge­schäft her­aus kommt. Bis zur Bus­hal­te­stel­le am Markt­platz kann er ihn ver­fol­gen. Der ist schlau und ver­klei­det sich. Die­ses Mal hat er sich mit einer blau­en Hand­wer­ker­jacke und der­ben hohen Schu­hen getarnt. Da kann er sich ver­klei­den, so viel er will. Die grau melier­ten Haa­re ver­ra­ten ihn am Ende doch. Ein ande­res Mal stößt er auf den Unhold, wie er gera­de in der Moh­ren­stra­ße ein Bril­len­ge­schäft ver­lässt und dabei ganz unschul­dig tut. Lei­der hat­te der, geris­sen wie er war, ein Fahr­rad dabei, bog in die Sei­ten­stra­ße ein, wo es zu der gro­ßen Schu­le geht. Aber sei­nen plum­pen Trick mit den Leder­ho­sen und dem Edel­weiß­hüt­chen hat er längst durch­schaut. Mit den grau melier­ten Haa­ren konn­te er Jakob auch die­ses Mal nichts vormachen.

*

Das Kin­der­fest. Die sind wie­der durch die Stadt gezo­gen. Einen son­der­ba­ren Spruch von einem Kat­zen­kopf haben sie im Chor geru­fen. Wie­der ist der Markt­platz voll. Aber die­ses Mal ist es Som­mer. Den Unhold haben sie immer noch nicht gefasst. Die Erwach­se­nen spre­chen schon gar nicht mehr über ihn. Bestimmt hat der damals den Arti­kel in der Illu­strier­ten auch gelesen.

Dann wird er Angst gekriegt haben.

Vier­zig Pfen­ni­ge hat die Mut­ter ihm mit­ge­ge­ben. Das reicht für eine Brat­wurst. Vor­her macht er noch eine Run­de um den Markt­platz. Viel­leicht trifft er den Sobie­gal­la aus der Kreuzwehrstraße.

Am Ein­gang zum Rat­haus hört er auf zu atmen. Er kann nicht mehr wei­ter­ge­hen. Der Unhold kommt da heraus.

Gott sei Dank, dass der ihn nicht gese­hen hat. Ein schwar­zer Mer­ce­des hält. Der Unhold steigt hin­ten ein und gibt dem Fah­rer ein Zei­chen, dass er los­fah­ren kann.

*

Ein statt­li­cher Mann sei er. Einer, der etwas dar­stellt, sagt die Mama laut her­aus, als sie mit Jakob an den Schau­kä­sten steht, in denen täg­lich eine neue Zei­tung hängt. Sie kann sich von dem Bild gar nicht tren­nen. Sie winkt Jakob her­an. Es ist der Unhold.

Genau der, dem er mit der Faschingspat­sche sein Geld aus der Hand geschla­gen hat­te. Nur hat er hier auf dem Zei­tungs­fo­to eine dicke Ket­te um den Hals. Und, sagt die Mama, nur ihm, dem Herrn Ober­bür­ger­mei­ster, hät­ten sie es zu ver­dan­ken, dass sie so schnell die zwei Zim­mer in der Rast­stra­ße bekom­men haben.

Ohne ihn müss­ten sie wahr­schein­lich heu­te noch im Flücht­lings­la­ger hausen.

Das Stra­ßen­pfla­ster scheint sich unter den Füßen zu bie­gen. Immer noch blickt sei­ne Mut­ter mit ver­klär­tem Blick in den Schaukasten.

Er tippt ihr auf die Schul­ter, sagt ihr ins Ohr, dass er drin­gend muss. Die Mut­ter war­tet an der Itz­brücke. Er steigt die Ufer­bö­schung hin­ab. Es kommt nur ein kur­zer, gif­ti­ger Strahl.

Er pisst sich ans Bein.

*

Das Fräu­lein Rath­ke ist ja so was von erleich­tert, sagt sie und reicht Jakobs Mut­ter wie­der mal einen Aus­schnitt von irgend­ei­ner Illu­strier­ten durch den Tür­spalt. In unbe­ob­ach­te­ter Minu­te muss auch er wis­sen, was dem Fräu­lein Rath­ke sol­che Erleich­te­rung ver­schafft hat. Unhold gefasst. In Ham­burg. Ein Her­um­trei­ber, Säu­fer und Dieb sei der außer­dem. Von meh­re­ren Jun­gen, die er belä­stigt hat­te, auf Anhieb iden­ti­fi­ziert. Mama, was heißt Anhieb?

Er schließt sich mit sei­nem Gebet­buch im Gemein­schafts­klo ein. Der Beicht­spie­gel mit den Fra­gen zur Gewissenserforschung.

Aber von der Sün­de, dass man sei­nen eige­nen Ober­bür­ger­mei­ster für einen Unhold hält, steht lei­der nichts drin. Auch nicht davon, dass man einem, der dir eine Brat­wurst schen­ken will, das Geld aus der Hand schlägt. Dass es die erste schwe­re Sün­de sei­nes Lebens war, kei­ner könn­te ihm das ausreden.

Nicht ein­mal der Pfar­rer Holz­mann von Sankt Augu­stin. Dafür quält ihn die Scham zu sehr. Selbst die Mut­ter sagt, dass er in letz­ter Zeit etwas mickert, Spat­zen­por­tio­nen isst und ziem­lich blass um die Nase aussieht.

Am Abend­brot­tisch merkt er, dass der Haar­kranz vom Papa auch grau meliert ist. Er fängt an, wie­der rich­tig zu essen.

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Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839