Fort­set­zungs­ro­man: “Rast­stra­ße” von Joa­chim Kort­ner, Teil 8

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Roma­n­epi­so­den von Joa­chim Kortner

Männ­la

Er will sei­nen Vater von der Arbeit in der Spar­kas­se abholen.

Bei der Mama hat er sich so ganz bei­läu­fig erkun­digt, wann Dienst­schluss ist. Und jetzt sitzt er auf dem Sockel der Prinz Albert Sta­tue, visiert die enge Rosen­gas­se an. Da muss der Vater her­aus­kom­men. Vor einer Vier­tel­stun­de erst ist Jakob zum ersten Mal in die Schal­ter­hal­le der Kas­se gegan­gen, hat ihn hin­ter meh­re­ren Glas­kä­sten erspäht. Der sitzt noch, schich­tet Akten­bün­del auf­ein­an­der. Blickt ernst. Jakob ist froh, dass der ihn noch nicht ent­deckt hat. Er tritt den Rück­zug an. Viel­leicht wird der Vater sich vor dem Direk­tor schä­men, wenn der mich bar­fuß in der Spar­kas­se sieht.

Vier Jah­re hat er ohne die­sen Vater in der Rus­sen­zo­ne gelebt. In die­ser Zeit ist ihm der Mann fremd gewor­den. Der pen­delt nur zwi­schen der Spar­kas­se und der Rast­stra­ße, sitzt mit dem Hein­richs­blatt oder der Stadt Got­tes auf der Bett­couch, ord­net sei­ne Brief­mar­ken mit reli­giö­sen Moti­ven pein­lichst genau in sein Album, kauft nach Dienst­schluss bei Kaiser’s Kaf­fee­ge­schäft Schnitt­boh­nen in der Dose, schreibt übers Wochen­en­de in sei­ner gesto­che­nen Schnör­kel­schrift das Pro­to­koll für den katho­li­schen Män­ner­ver­ein Constantia.

Jakob sieht ande­re Väter, die mit ihren Kin­dern zum Dra­chen­stei­gen gehen. Die sich von ihnen im Schwimm­bad vom Becken­rand schub­sen las­sen, auf der Lie­ge­wie­se im Frei­bad halb tot gekit­zelt werden.

Vom Brüt­ting der Vater, der hat rechts kei­nen Unter­schen­kel mehr. Und trotz­dem ist der erst gestern mit dem Brüt­ting auf das Drei­er gestie­gen und hat einen Köp­fer gemacht. Der Brüt­ting hat ihm dann die rosa Pro­the­se an den Becken­rand geholt. So einen Vater wür­de er ger­ne haben. Und wenn der bloß noch ein Bein hät­te, ihm wür­de es nichts ausmachen.

Viel­leicht wür­de sein Vater mit ihm auch ein­mal etwas ganz Ver­rück­tes machen, wenn er ihn ein­fach so von der Arbeit abholt.

Etwas, wo sie sich bei ihrem Ehren­wort schwö­ren müss­ten, der Mut­ter nichts zu sagen. Ein rich­ti­ges Geheim­nis sozusagen.

So eins, bei dem sich der Vater mit sei­nem Taschen­mes­ser auch in den Hand­bal­len schnei­den müss­te. Und ihr Blut, das wür­de sich ver­mi­schen und die vier Jah­re Tren­nung wären dann ein­fach weggewischt.

*

Der Vater trägt die lap­pi­ge Akten­ta­sche. Er bleibt ste­hen, klemmt sie sich unter den Arm, setzt am Schuh­ge­schäft einen Fuß auf den nied­ri­gen Sims der Haus­wand und schnürt sich eine auf­ge­gan­ge­ne Schlei­fe. Jakob ver­schwin­det hin­ter dem Denkmal.

Auf ein­mal weiß er es. Das ist nicht der Vater, der sich zusam­men mit ihm den Hand­bal­len blu­tig schnei­den wird. Er löst sich aus der Deckung des Denk­mal­sockels. Der Vater ver­schwin­det in Kaiser‚s Kaffeegeschäft.

Wie­der setzt er sich auf die Stu­fen der Prinz Albert Statue.

Lehnt sich an die nächst höhe­re Sockel­stu­fe und lässt die stei­ner­ne Wär­me über Soh­len, Hin­tern und Rücken in sich hin­ein fließen.

In die­sem Moment geht er ganz in die­ser neu­en Stadt auf, sitzt wie eine Kat­ze in woh­li­ger Gebor­gen­heit, hat weder Ver­gan­gen­heit noch Zukunft. Er sieht auch nicht den rot­ge­sich­ti­gen Mann, der sich neben ihm nie­der­lässt. Der grinst, wackelt stän­dig mit dem Kopf, blickt ihn immer wie­der von der Sei­te her an, sab­belt unver­ständ­li­ches Zeug und stößt ihm schließ­lich den Ellen­bo­gen in die Sei­te. Eine flaue, hefi­ge Bier­fah­ne schwebt nach einem gedehn­ten Rülp­ser zu Jakob hin­über. Gleich­zei­tig umspannt der sein dür­res Jun­gen­hand­ge­lenk. Der aus­ge­streck­te Zei­ge­fin­ger fuch­telt hoch in Rich­tung der Rat­haus­uhr. Jakob sol­le sich „des Männ­le“ anschau­en. Die­se klei­ne, dunk­le Figur da oben hält einen Stab in der Hand. Ein Ami, so lallt das rote Gesicht, habe drei Mal hin­auf geschos­sen und die Figur nicht getrof­fen. Alle sei­en sie Fla­schen, die Amis. Alles die letz­ten Fla­schen. Durch die Bank. Einer wie der andere.

Er sackt auf die Stu­fen zurück und zieht auch Jakob zu sich herab.

Scharf­schüt­ze sei er im Krieg gewe­sen. Min­de­stens vier­zehn Rus­sen Kopf­schuss. Er bohrt sich den Zei­ge­fin­ger zwi­schen die Augen­brau­en. Vier­zehn – zeigt ihm die aus­ge­streck­ten zehn Fin­ger, schiebt eine Hand mit ein­ge­zo­ge­nem Dau­men nach.

Der Schraub­stock um sein Hand­ge­lenk lockert sich und lässt ihn ganz frei.

Ein trü­ber Strahl von Erbro­che­nem quillt aus dem Mund, rinnt über die Stu­fen des Stand­bilds und sucht sich zwi­schen dem Markt­pfla­ster nach Wegen. Kei­ne Kar­tof­fel­stück­chen oder Wurst­re­ste, auch nicht Nudeln oder Brot­brei. Nur so eine bie­ri­ge, scharf magen­saf­ti­ge Brü­he ist das, die ihren ver­go­re­nen Gestank her­über weht. Der Scharf­schüt­ze stöhnt im Sit­zen sei­ner zwei­ten Kotz­wel­le entgegen.

Jakob rennt.


Raststraße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße: Roman in Episoden

Rast­stra­ße

Roman in Epi­so­den Joa­chim Kortner

  • Paper­back
  • 244 Sei­ten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Ver­lag: Books on Demand
  • Erschei­nungs­da­tum: 28.04.2008
  • Spra­che: Deutsch
  • Far­be: Nein

Bestel­lung (Paper­back & E‑Book): https://​www​.bod​.de/​b​u​c​h​s​h​o​p​/​r​a​s​t​s​t​r​a​s​s​e​-​j​o​a​c​h​i​m​-​k​o​r​t​n​e​r​-​9​7​8​3​8​3​3​4​8​9​839