Aus der Gaustadter Leserpost: „Bitte kein pauschales Radfahrerbashing“

leserbrief-symbolbild

Bamberg-Gaustadt, 9. Oktober 2020

Sehr geehrte Frau Füllgraf!

Die ersten Sätze Ihres Leserbriefs im Fränkischen Tag könnten durchaus meine Zustimmung finden: „Der Straßenverkehr hat sich zu einer Art Selbsterfüllungsspielplatz entwickelt. … Versehen mit vermeintlicher Stärke durch Motorisierung fühlen wir uns hier gerne frei“, wobei – mit Verlaub – ich mich nicht in der mit „wir“ bezeichneten Menge sehe.

Dann aber schwenken Sie über zu Ihrem eigentlichen Anliegen, dem Radfahrerbashing. Weitgehend undifferenziert unterstellen Sie den Radlern pauschal regelwidriges und gefährdendes Verhalten und loben die ach so umsichtigen Autofahrer, die – dank der durch Sie und Ihre Kollegen erfahrenen Führerscheinausbildung – viele von Radfahrern provozierte Unfallrisiken entschärfen.

Nun bin ich der letzte, der – ebenso pauschal – jegliches Fehlverhalten auf Seiten der Radfahrer leugnete. Jede Verkehrsart kennt ihre Vollpfosten. Daß Regelverstöße „leider besonders auffallend durch Fahrradfahrer“ begangen werden, hat indes einen ganz einfachen Grund. Über sie regt sich jeder – unabhängig vom Grad der Gefährdung – auf, während die der anderen Verkehrsteilnehmer selbst bei hohem Unfallrisiko längst zur Normalität geworden sind:

  • Vor der Fahrbahnquerung und an Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs warten Fußgänger resp. Fahrgäste grundsätzlich auf dem Radweg, nicht nur bei beengten Verhältnissen, die einen benutzungspflichtigen Radweg von Rechts wegen gar nicht zuließen (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung VwV-StVO).

  • Rücksichtsloses Halten und Parken auf Gehsteigen und Radverkehrsanlagen halten viele Kraftfahrer für völlig selbstverständlich. Die meisten reagieren, werden sie darauf angesprochen, aggressiv. Großzügige Duldung seitens der Ordnungsbehörden sowie ohne Beachtung der rechtlichen Voraussetzungen angeordnetes Gehwegparken auf hierzu zu schmalen Gehsteigen tragen dazu bei, daß sich keinerlei Unrechtsbewußtsein einstellt.

  • Angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeiten empfinden die meisten Kraftfahrer als unverbindliche Empfehlungen. Der Situation angepaßte Geschwindigkeiten, wie von der Straßenverkehrs-Ordnung gefordert, scheinen ihnen völlig unbekannt zu sein.

  • Ausreichende Seitenabstände zu Fußgängern und Radfahrern werden nur in Ausnahmefällen eingehalten. Nahezu kein Kraftfahrer läßt sich davon abhalten, mit unverminderter Geschwindigkeit hauteng zu passieren. Markierte Fahrstreifen (Extrembeispiel: Bahnunterführung Memmelsdorfer Straße) und bauliche Radwege (Bahnunterführung Zollnerstraße, Pfisterbrücke) ohne seitliche Sicherheitsräume laden hierzu trotz faktischen Verbots förmlich ein (www.cycleride.de/aktuelles/news/104-von-der-unkenntnis-deutscher-berufskraftfahrer-und-juristen.html ).

  • Radfahrern, die auf eigenem Fahrstreifen oder Radweg auf ihre Vorfahrt vertrauen, wird diese regelmäßig genommen. Insbesondere aus diesem Grund war die Benutzungspflicht als generelle Vorschrift im Jahre 1997 aus der StVO gestrichen worden, durfte seitdem nur im rechtfertigungsbedürftigen Einzelfall angeordnet werden. Für bauliche Radwege innerorts gilt diese rechtliche Vorgabe noch immer. Ihre Rücknahme für Radfahrstreifen und Außerortsradwege war eine rein politische Entscheidung. Der Verordnungsgeber konnte sie sachlich nicht begründen (www.cycleride.de/component/joomgallery/pannenflicken-2017/1714-bundesrepublik-deutschland.html ).

Es liegt mir fern, Fahrlehrern grundsätzlich die Kompetenz abzusprechen. Schwarze Schafe aber gibt es auch unter ihnen:

  • So belehrte ein Fahrlehrer seine Schüler regelmäßig dahingehend, er bringe ihnen Regelkenntnis und -beachtung bei, damit sie die Prüfung erfolgreich absolvieren können. Wie sie anschließend führen, wäre eine andere Sache.

  • Eine andere Fahrschule warb über die gesamte Schaufensterfläche mit der Frage: „Wollen Sie wirklich weiter Fahrrad fahren?“

  • Auf der Hallstadter Straße überholte mich ein Fahrschulwagen auf Tuchfühlung und touchierte beim Wiedereinscheren beinahe mein Vorderrad. An der nächsten roten Ampel – so viel zur Sinnhaftigkeit des Überholmanövers – fragte ich durch das geöffnete Fenster in zwar erbostem Tonfall, aber ohne beleidigenden Text, ob die beiden Insassen schon einmal etwas von Seitenabstand gehört hätten. Reaktion: Der sich auf dem Beifahrersitz befindende Fahrlehrer schloß wortlos das Fenster.

  • Noch bis in die jüngste Zeit bin ich wiederholt mit Autofahrern in Streit geraten, die, obwohl sie dem Alter nach erst nach 1997 den Führerschein gemacht haben konnten, der Ansicht waren, Radwege wären grundsätzlich benutzungspflichtig. Einige drohten sogar, handgreiflich zu werden. Daß die sogenannten „Schutzstreifen“ (www.fahrradzukunft.de/27/schutzstreifen-klagebefugnis/) und die Seitenstreifen (VwV-StVO) keinerlei Benutzungspflicht unterliegen, weiß und akzeptiert ebenfalls kaum ein Kraftfahrer. Offensichtlich gibt es die eine oder andere sicherheitsrelevante Lücke in der Fahrausbildung, wie sich auch an anderen Beispielen (Verhalten an Bahnübergängen u. a.) zeigt.

Die Ihrerseits erwähnten Regelverstöße „der Radfahrer“ verdienen gleichfalls eine Kommentierung:

  • Radfahren auf Fußwegen ist zugegebenermaßen eine um sich greifende Unsitte. Doch die wenigsten Radler fahren dort bewußt rücksichtslos. Vielmehr weichen sie dem als gefährlich empfundenen Autoverkehr aus. Die Polizei ist offenkundig nicht willens und / oder in der Lage, vorbeugend und ahndend riskantes und aggressives Fahrverhalten der Kraftfahrer zu unterbinden. Die Staatsanwaltschaft erkennt selbst bei unbestrittenem Tatvorwurf in vorsätzlichem Abdrängen und Ausbremsen keine Verkehrsgefährdung. Durch Anordnung gemeinsamer oder unmittelbar nebeneinander liegender getrennter Fuß- und Radwege auf zu schmal bemessenen Flächen (Beispiele: Regensburger Ring, Magazinstraße, Memmelsdorfer Straße) sowie Freigabe hierzu ungeeigneter Gehwege für Radverkehr (Kärntenstraße) suggerieren die Verkehrsbehörden überdies, die beiden Verkehrsarten wären im Alltag miteinander verträglich. Diese willkürliche Praxis trägt wenig zur Einsicht in den Sinn bestehender Anordnungen bei.

  • In den einschlägigen Regelwerken sind Bemaßungen für Verkehrswege vorgegeben. Obgleich schon die Sollmaße für Radverkehrsanlagen keinen seitlichen Sicherheitsabstand bei gegenseitigem Überholen vorsehen, sind in Bamberg vielfach sogar die nur für unvermeidbare, kurze Engstellen vorgesehenen Mindestquerschnitte unterschritten. Radverkehr aber zeichnet sich durch stark unterschiedliche Geschwindigkeiten aus, macht häufiges Überholen erforderlich. Dies durch unzulängliche Gestaltung der Wege und Fahrspuren zu unterbinden, widerspricht sämtlichen Lippenbekenntnissen zur Fahrradförderung, zur Verkehrswende.

  • Wie bereits erwähnt, ist das Unfallrisiko für Radfahrer auf baulichen Radwegen – selbst bei idealer Ausführung – deutlich höher als auf der Fahrbahn. Benutzungspflicht darf innerorts nur erwogen werden, wenn sie eine durch die Örtlichkeit bedingte, das normale Maß erheblich übersteigende, nach sorgfältiger Einzelfallprüfung nachgewiesene Gefahrenlage auf der Fahrbahn entschärft und mildere Mittel als das Fahrbahnverbot nicht zur Verfügung stehen. Die Anordnung darf erst erfolgen, wenn der Radweg definierte qualitative Vorgaben erfüllt und ausreichend Platz für den ungehinderten Begegnungsverkehr von Fußgängern, Rollstuhlfahrern und Kinderwagen auf dem (verbleibenden) Gehweg vorhanden ist. Mir ist in Bamberg nicht ein baulicher Radweg bekannt, der den rechtlichen (und fachlichen) Voraussetzungen für die Anordnung der Benutzungspflicht gerecht wird.

  • Radfahrstreifen (benutzungspflichtige, von der Fahrbahn abmarkierte Fahrspuren) und sogenannte „Schutzstreifen“ (auf der Fahrbahn markierte Fahrspuren ohne Benutzungspflicht) haben die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Das Unfallrisiko an Knotenpunkten (Kreuzungen, Einmündungen, Zufahrten) ist zwar geringer als bei baulichen Radwegen, jedoch noch immer höher als bei unmarkierter Fahrbahn. Fehlende bzw. unzureichende seitliche Sicherheitsräume provozieren wie bei baulichen Radwegen Unfälle durch zu eng überholende Kraftfahrer und unachtsam geöffnete Autotüren.

  • Zu erwähnen ist des weiteren, daß nicht oder nur unter hohem Risiko benutzbare Radwege trotz angeordneter Pflicht nicht benutzt werden müssen. Falschparker, sonstige Hindernisse wie Müll- und Wertstofftonnen, Wegeschäden, gefährdende Verschmutzung, fehlender Winterdienst, nicht überfahrbare Bordsteine und vieles andere mehr gehören zum alltäglichen Erfahrungsschatz fast aller Radler.

  • Viele Radwege sind für Lastenräder, Anhängergespanne und andere Sonderkonstruktionen nicht sicher befahrbar, da sie eine zu geringe Breite und / oder zu enge Kurvenradien aufweisen. In diesen Fällen soll ausdrücklich auf die Durchsetzung der Benutzungspflicht verzichtet werden (VwV-StVO).

  • Wer sich zum Linksabbiegen auf der Fahrbahn einordnen will, darf einen benutzungspflichtigen Radweg so frühzeitig verlassen, daß dies sicher möglich ist. Eine Pflicht zum indirekten Linksabbiegen gibt es nicht.

Abschließend seien mir noch drei Ereignisschilderungen gestattet, welche das „rücksichtsvolle“ Verhalten der Kraftfahrer illustrieren:

  • Die Fahrzeugampel zeigt längst rot, das Signal des querenden Fußverkehrs springt um auf Grün. Ein Kind, offensichtlich im Grundschulalter, will losgehen, die Mutter bekommt es soeben noch zu fassen. Denn ungeachtet des Rotlichts fährt ein Kraftfahrer mit unverminderter Geschwindigkeit weiter – er hätte das Mädchen voll erfaßt. Sichthindernisse gab es keine.

  • An einer Bettelampel (Fußgängergrün nur auf Anforderung) beobachte ich regelmäßig, daß (bis zu drei) Kraftfahrer noch durchfahren, wenn ihr Signal bereits auf Rot gewechselt hat (hinzu kommen die Gelblichtfahrer). Nicht selten handelt es sich um Linienbus- und Taxilenker.

  • Kürzlich fuhr ich als Beifahrer auf dem Berliner Ring mit. Während wir bei rotem Lichtsignal ausrollten, passierten zwei uns überholende Kraftfahrer die Kreuzung. Unser Wagen stand schon an der Haltelinie, als ein dritter ungebremst durchpreschte.

Zur Einordnung: Im Normalfall bin ich, abhängig von Wegelänge und -zweck, Witterung und eigenem Befinden, zu Fuß sowie mit Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln, auch in Kombination, unterwegs. Im seltenen Bedarfsfall nutze ich den Pkw. Fahrerfahrung habe ich zudem mit Kleinbus und Lkw (unter 7,5 t) sowie Motorrad. Das Verkehrsgeschehen kenne ich also aus beinahe allen Blickwinkeln. Verschuldet habe ich bislang keinen Verkehrsunfall, als Kfz-Lenker war ich an keinem beteiligt.


Wolfgang Bönig / Gaustadt