Exper­te der Uni­ver­si­tät Bay­reuth for­dert: „Öff­net die Kitas jetzt!“

Symbolbild Bildung

Exper­te der Uni­ver­si­tät Bay­reuth: „Öff­net die Kitas jetzt!“

In die­sen Tagen wird kon­tro­vers dar­über debat­tiert, wann die Kitas in Deutsch­land wie­der geöff­net wer­den soll­ten. Prof. Dr. mult. Eck­hard Nagel, Inha­ber des Lehr­stuhls für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten und Direk­tor des gleich­na­mi­gen Insti­tuts an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, kommt auf­grund aktu­el­ler Stu­di­en zu dem Ergeb­nis: „Für die Schlie­ßung von Kitas bis über die Som­mer­fe­ri­en hin­aus gibt es der­zeit kei­ne medi­zi­nisch-wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung.“ Im Kon­sens mit zahl­rei­chen ärzt­li­chen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen plä­diert er für eine mög­lichst rasche Öffnung:

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Öff­net die Kitas jetzt! 

Als Ende Febru­ar die­sen Jah­res erst­mals Coro­na­vi­rus-Erkran­kun­gen in Deutsch­land auf­tra­ten, bei denen die Infek­ti­ons­we­ge nicht mehr ein­deu­tig nach­voll­zo­gen wer­den konn­ten, war es eine der ersten sor­gen­vol­len Fra­gen, wel­cher Per­so­nen­kreis durch das neue Virus SARS-CoV‑2 beson­ders gefähr­det sei. Dabei rich­te­te sich der Blick ins­be­son­de­re auf Men­schen im hohen Lebens­al­ter sowie auf Jugend­li­che und Kin­der. Das Immun­sy­stem von Kin­dern ist noch nicht hin­rei­chend dif­fe­ren­ziert, um in jedem Fall auf ein bedroh­li­ches Virus effek­tiv reagie­ren zu kön­nen. Daher lag am Beginn der Pan­de­mie die Annah­me nahe, Kin­der sei­en beson­ders bedroh­li­chen Gesund­heits­ri­si­ken aus­ge­setzt. Sie hat in Deutsch­land wesent­lich zu der Ent­schei­dung bei­getra­gen, Schu­len und Kitas bis auf Wei­te­res zu schlie­ßen. Wis­sen­schaft­lich bestä­tigt hat sich die­se Annah­me aller­dings bis­lang nicht. Welt­weit sind der­zeit rund 2,5 Mil­lio­nen Men­schen mit einer Virus­in­fek­ti­on dia­gno­sti­ziert, aber Kin­der haben dar­an nur einen gerin­gen Anteil.

Gegen eine beson­ders hohe Gefähr­dung von Kin­dern durch SARS-CoV‑2 spre­chen beim heu­ti­gen Stand unter ande­rem fol­gen­de Erkennt­nis­se und Überlegungen:

  • Die EU-Gesund­heits­be­hör­de ECDC berich­tet, dass es sich nur bei rund einem Pro­zent der nach­ge­wie­se­nen und regi­strier­ten Infek­tio­nen um Kin­der unter zehn Jah­ren han­delt, vier Pro­zent sind zwi­schen zehn und 19 Jah­ren alt.
  • Eine neue Bevöl­ke­rungs­stu­die in den Nie­der­lan­den, die vom Natio­nal Insti­tu­te for Public Health and the Envi­ron­ment ver­öf­fent­licht wur­de, zeigt: Kin­der spie­len nur eine gerin­ge Rol­le bei der Ver­brei­tung von SARS-CoV‑2. Es konn­ten so gut wie kei­ne Kin­der unter zwölf Jah­ren iden­ti­fi­ziert wer­den, die ent­we­der auf­grund einer Infek­ti­on mit SARS-CoV‑2 erkrankt waren oder zu einer Erkran­kung in der Fami­lie bei­getra­gen haben.
  • Zu ähn­li­chen Ergeb­nis­sen kommt eine Stu­die aus Island: 13.000 Per­so­nen, zufäl­lig aus der Bevöl­ke­rung aus­ge­wählt, wur­den auf eine Infek­ti­on mit SARS-CoV‑2 hin unter­sucht. Kein ein­zi­ges Kind unter zehn Jah­ren erwies sich als infi­ziert. Die­ses Ergeb­nis lässt auf­hor­chen, weil in Island seit Mit­te März für die Bevöl­ke­rung ähn­li­che Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen wie in Deutsch­land gel­ten, die Schu­len und Kitas jedoch wei­test­ge­hend geöff­net blie­ben. Dies legt die Schluss­fol­ge­rung nahe, dass der Betrieb von Schu­len und Kitas nicht grund­le­gend zu einer zusätz­li­chen Ver­brei­tung des Virus beiträgt.
  • Bekannt­lich ist das Immun­sy­stem von Kin­dern nach einer Organ­trans­plan­ta­ti­on geschwächt. Gleich­wohl mel­den die gro­ßen inter­na­tio­na­len Regi­ster und Netz­wer­ke bis­her kei­nen Fall, in dem sich ein Kind die­ser Pati­en­ten­grup­pe mit Covid-19 infi­ziert hät­te. Auch aus dem Zen­trum Eder­hof in Tirol, das sich spe­zi­ell der Reha­bi­li­ta­ti­on von Kin­dern und Jugend­li­chen nach einer Trans­plan­ta­ti­on wid­met und dabei mit dem Insti­tut für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten (IMG) der Uni­ver­si­tät Bay­reuth zusam­men­ar­bei­tet, ist bis­her kein sol­cher Fall bekannt.
  • Welt­weit sind bis­her nur sehr weni­ge Fäl­le bekannt gewor­den, in denen Kin­der nach einer dia­gno­stisch abge­si­cher­ten Infek­ti­on an SARS-CoV‑2 ver­stor­ben sind.

Beson­ders wird – nicht zuletzt durch die o.g. Stu­die aus den Nie­der­lan­den – eine wei­te­re Annah­me infra­ge gestellt, die an der Ent­schei­dung zur Schlie­ßung der Kitas wesent­lich betei­ligt war: näm­lich die Ver­mu­tung, Kin­der spiel­ten eine gro­ße Rol­le bei der Ver­brei­tung des Virus. Bis­lang gibt es kei­ne vali­de Unter­su­chung, die bestä­tigt, dass infi­zier­te Kin­der das Virus auf Erwach­se­ne über­tra­gen hät­ten. Nur für den umge­kehr­ten Infek­ti­ons­weg gibt es zahl­rei­che Indi­zi­en aus Euro­pa sowie aus den USA und Asi­en: So leb­te die Mehr­heit der Kin­der, bei denen das Virus SARS-CoV‑2 dia­gno­sti­ziert wur­de, mit einer erwach­se­nen Per­son zusam­men, die bereits zuvor Sym­pto­me gezeigt hatte.

Die seit Beginn der Pan­de­mie gewon­ne­nen Erkennt­nis­se machen es not­wen­dig, die Schlie­ßung von Kitas zu über­den­ken und sie schritt­wei­se, unter Beach­tung aller nöti­gen Hygie­ne­re­geln, auf­zu­he­ben. Die Deut­sche Gesell­schaft für Kin­der- und Jugend­me­di­zin weist dar­auf hin, dass sich die Lebens­be­din­gun­gen von Kin­dern und Jugend­li­chen in der Pan­de­mie mit dem neu­en Coro­na-Virus deut­lich ver­schlech­tert haben. Vor die­sem Hin­ter­grund soll­te jetzt, wo immer es mög­lich ist, mit einer Öff­nung der Kitas begon­nen wer­den. Für die in eini­gen Bun­des­län­dern ange­kün­dig­te Schlie­ßung von Kitas bis über die Som­mer­fe­ri­en hin­aus gibt es der­zeit kei­ne medi­zi­nisch-wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung. Dabei bleibt selbst­ver­ständ­lich fest­zu­hal­ten, dass Maß­nah­men wie die Öff­nung der Kitas mit struk­tu­rier­ten wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen beglei­tet wer­den müssen.

Wie die Bun­des­re­gie­rung betont, geht es in allen die­sen Fra­gen stets um die Abwä­gung zwi­schen Ermög­li­chung und Schutz: Schutz für Men­schen mit einem hohen Gesund­heits­ri­si­ko und Ermög­li­chung der För­de­rung der Betrof­fe­nen, hier der Kin­der. Mit Recht weist die Bun­des­fa­mi­li­en­mi­ni­ste­rin dar­auf hin, wel­che zen­tra­le Bedeu­tung Kitas für die früh­kind­li­che Ent­wick­lung, für die Vor­be­rei­tung auf die Grund­schu­le, für das gemein­sa­me Ler­nen und das Leben in einer Gemein­schaft haben – und wel­che wich­ti­gen Zukunfts­per­spek­ti­ven sich dar­aus ableiten.

Ein um zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se und Refle­xio­nen erwei­ter­tes, gemein­sam mit Prof. Dr. med. Ange­li­ka Eggert (Ber­lin) ver­fass­tes Plä­doy­er für eine bal­di­ge Öff­nung der Kitas erschien am 22. April 2020 in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung. Der Text steht auf der Web­site des Insti­tuts für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten (IMG) der Uni­ver­si­tät Bay­reuth zum Down­load zur Ver­fü­gung: www​.img​.uni​-bay​reuth​.de/​d​e​/​p​r​e​s​s​e​/​2​0​2​0​/​F​A​Z​-​A​r​t​i​k​e​l​-​2​2​_​04/

Bay­reuth, 27. April 2020

Prof. Dr. Dr. med. habil. Dr. phil. Dr. theol. h. c. Eck­hard Nagel