Exper­te der Uni­ver­si­tät Bay­reuth: „Coro­na-Maß­nah­men regio­nal dif­fe­ren­ziert lockern!“

Symbolbild Bildung

10-Punk­te-Pro­gramm vorgestellt

In der der­zei­ti­gen Debat­te über eine Locke­rung der ein­schnei­den­den Maß­nah­men zur Ein­däm­mung des Coro­na-Virus plä­diert Prof. Dr. mult. Eck­hard Nagel, Inha­ber des Lehr­stuhls für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten und Direk­tor des gleich­na­mi­gen Insti­tuts an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, mit Nach­druck für ein zeit­lich und regio­nal dif­fe­ren­zier­tes Vor­ge­hen: „Eine bun­des­ein­heit­li­che Gleich­zei­tig­keit bei der Rück­füh­rung der ergrif­fe­nen Maß­nah­men ist im höch­sten Maße unsin­nig.“ Auf der Basis von Ein­schät­zun­gen unter­schied­li­cher inter­na­tio­na­ler Exper­ten­grup­pen hat er für den wei­te­ren Umgang mit der Coro­na-Pan­de­mie ein 10-Punk­te-Pro­gramm zusam­men­ge­stellt. Hier folgt sei­ne Expertise:

Eine Stern­stun­de des Föde­ra­lis­mus – 10 Punk­te-Pro­gramm zur Locke­rung der Beschrän­kun­gen durch die Coro­na-Epi­de­mie nach dem 20. April

In den zurück­lie­gen­den Wochen ist die unter­schied­li­che Vor­ge­hens­wei­se ein­zel­ner Bun­des­län­der im Hin­blick auf Vor­schrif­ten für die Bevöl­ke­rung zum Teil scharf kri­ti­siert wor­den. Der Ruf nach zen­tra­len Kom­pe­ten­zen wur­de laut, der Föde­ra­lis­mus als schwach und gefähr­lich dargestellt.

In der aktu­el­len Debat­te um die Wie­der­auf­nah­me von Akti­vi­tä­ten nach den ein­schnei­den­den Beschrän­kun­gen zur Reduk­ti­on der Infek­ti­ons­häu­fig­keit durch die Virus­er­kran­kung wird des­halb nun ein bun­des­ein­heit­li­ches Vor­ge­hen gefor­dert. Dabei wird aber über­se­hen, dass die Ver­tei­lung und Aus­brei­tung der Erkran­kung regio­nal sehr unter­schied­lich ver­läuft. Wäh­rend in Meck­len­burg-Vor­pom­mern sich 38,4 Per­so­nen auf 100.000 Ein­woh­ner nach­weis­lich infi­ziert haben, sind es in Bay­ern 258,3 (Stand 14. April 2020). Ent­spre­chend gibt es bei der soge­nann­ten Ver­dop­pe­lungs­zeit neu­er Infek­tio­nen regio­nal deut­li­che Differenzen.

Wenn also von einem bun­des­ein­heit­li­chen Vor­ge­hen bei der Locke­rung des Coro­na Lock-ups gespro­chen wird, dann soll­te dies die Syste­ma­tik ein­zel­ner Schrit­te betref­fen, nicht aber den zeit­li­chen Ablauf in ganz Deutsch­land. Eine bun­des­ein­heit­li­che Gleich­zei­tig­keit bei der Rück­füh­rung der ergrif­fe­nen Maß­nah­men ist im höch­sten Maße unsin­nig. In den näch­sten Wochen kann sich zei­gen, was als Argu­ment im Hin­blick auf den Kata­stro­phen­schutz in Deutsch­land über Jahr­zehn­te als sinn­voll vor­ge­tra­gen wor­den ist: Wenn Meck­len­burg-Vor­pom­mern mit deutsch­land­weit aner­kann­ten Schrit­ten wie dem Wie­der­be­ginn des Schul­un­ter­richts oder auch der Eröff­nung von Kitas beginnt, ist das nicht not­wen­di­ger­wei­se auch in jedem ande­ren Bun­des­land, zum Bei­spiel im Saar­land oder Bay­ern, zur glei­chen Zeit sinn­voll. Man darf sogar anneh­men, dass auf­grund der Ent­wick­lung der Epi­de­mie eine zeit­li­che Dif­fe­ren­zie­rung bei der Auf­he­bung von Ein­schrän­kun­gen auch inner­halb eines Bun­des­lan­des, zum Bei­spiel zwi­schen ein­zel­nen Regie­rungs­be­zir­ken sinn­voll sein kann. Dies hängt auch von der Umset­zung der Maß­nah­men ab, die für eine adäqua­te Bewäl­ti­gung der durch das Coro­na­vi­rus ver­ur­sach­ten Krank­heits­last all­ge­mein als not­wen­dig ange­se­hen wer­den. Zu die­sen Maß­nah­men zäh­len bei­spiels­wei­se die Ver­sor­gung mit Schutz­ma­te­ria­li­en oder die Struk­tur der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung generell.

Ange­sichts der mas­si­ven per­sön­li­chen Ein­schrän­kun­gen, die Bür­ge­rin­nen und Bür­gern nach­voll­zieh­bar zuge­mu­tet wur­den, ist es aller Mühen wert, das immer über­sicht­li­cher vor­lie­gen­de Daten­ma­te­ri­al zu nut­zen, um die Beschrän­kun­gen suk­zes­si­ve so schnell auf­zu­he­ben wie eben ver­ant­wort­bar. Wenn dies regio­nal zu einer Dif­fe­renz von Tagen oder Wochen führt, ist dies kein Zei­chen von Schwä­che, son­dern ein Aus­druck der Stär­ke des Föde­ra­lis­mus, der im Bereich der regio­na­len Gesund­heits­vor­sor­ge und im Kata­stro­phen­fall eine sei­ner beson­de­ren Stär­ken aufweist.

Vor­aus­set­zung für eine sol­che zeit­lich und regio­nal dif­fe­ren­zier­te Vor­ge­hens­wei­se ist aber unver­än­dert die Bereit­schaft jedes Ein­zel­nen, sich kon­form zu den jewei­li­gen Vor­schrif­ten zu ver­hal­ten. Das ist der zen­tra­le Erfolgs­fak­tor im Umgang mit einer Virus-Pan­de­mie, die über eine län­ge­re Zeit unver­än­dert eine Gefähr­dung für die Men­schen welt­weit dar­stel­len wird.

Die fol­gen­den 10 Punk­te zei­gen auf, wie unter Zuhil­fe­nah­me ver­schie­de­ner Maß­nah­men, die von unter­schied­li­chen inter­na­tio­na­len Exper­ten­grup­pen favo­ri­siert wer­den, mit der Pan­de­mie im Wei­te­ren umge­gan­gen wer­den sollte:

  1. All­ge­mei­ne Kon­takt­sper­ren eta­blie­ren und so lan­ge auf­recht erhal­ten, bis eine dem jewei­li­gen medi­zi­ni­schen Ver­sor­gungs­sy­stem adäqua­te Ver­dop­pe­lungs­zeit erreicht wor­den ist.
  2. Daten­la­ge ver­bes­sern: So viel wie mög­lich testen – auch Men­schen ohne Sym­pto­me. Dabei spie­len der direk­te Virus­nach­weis und die Dia­gno­stik von Anti­kör­pern eine gleich wich­ti­ge Rolle.
  3. Die smar­te und frei­wil­li­ge Nut­zung soge­nann­ter Coro­na-Apps. Hier ist die unkom­pli­zier­te Ver­brei­tung und Eta­blie­rung einer durch das Robert-Koch Insti­tut nutz­ba­ren App ange­zeigt. (Aus­schluss kom­mer­zi­el­ler Anreize)
  4. Mit dem Coro­na­vi­rus infi­zier­te und dar­an erkrank­te Men­schen sowie deren direk­te per­sön­li­che Umge­bung kon­se­quent iso­lie­ren, bis über wie­der­hol­te PCR-Tests eine Ansteckungs­wahr­schein­lich­keit so gut wie aus­ge­schlos­sen wer­den kann.
  5. Das Tra­gen eines Mund­schut­zes soll­te im öffent­li­chen Raum, z.B. wie vor­ge­schla­gen in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln, aber auch beim Ein­kau­fen ver­pflich­tend sein. Zudem ist Men­schen aus den bekann­ten Risi­ko­grup­pen drin­gend zu emp­feh­len, mög­lichst per­ma­nent bei Kon­takt­si­tua­tio­nen einen funk­ti­ons­fä­hi­gen Mund­schutz zu tragen.
  6. Aus­rei­chend adäqua­te Schutz­be­klei­dung für alle kri­ti­schen Berei­che der Versorgung: 
    1. wenn von einer Mund­schutz­pflicht gespro­chen wird, ist die Vor­aus­set­zung natür­lich, dass ent­spre­chen­des Mate­ri­al auch zur Ver­fü­gung steht – und zwar zu seriö­sen Prei­sen. Nur so kann die Ein­hal­tung auch gene­rel­ler Hygie­ne­emp­feh­lun­gen erwar­tet werden.
    2. Adäqua­te Schutz­be­klei­dung ist die Vor­aus­set­zung für eine zwin­gend not­wen­di­ge Locke­rung bei den Besuchs­be­stim­mun­gen in Kran­ken­häu­sern, Senio­ren- und Alten­hei­men. Die in die­sen Berei­chen in den letz­ten Wochen umge­setz­ten Ein­schrän­kun­gen für Pati­en­ten und älte­re Men­schen füh­ren zu einer kon­kur­rie­ren­den Krank­heits­last, die nicht über das Ziel der Ver­hin­de­rung wei­te­rer Infek­ti­ons­fäl­le begrün­det wer­den kann (Ein­schrän­kung einer men­schen­wür­di­gen Ster­be­be­glei­tung, Ver­schär­fung von Demenz­er­kran­kun­gen, Angst­zu­stän­de und Depres­sio­nen etc.).
  7. Schrit­te zur Locke­rung im Bereich der Kran­ken­ver­sor­gung mit dem Ziel der Wie­der­her­stel­lung einer nor­ma­len Kran­ken­haus­funk­ti­on (stationär/​ambulant), zur Behand­lung von Schlag­an­fall, Herz­in­farkt, Krebs, Transplantation: 
    1. Coro­na-Pati­en­ten nicht in alle Kran­ken­häu­ser ver­tei­len, son­dern regio­nal fest­le­gen, wel­che Kran­ken­häu­ser zustän­dig sind. Wie­der­auf­nah­me des nor­ma­len Kran­ken­haus­be­triebs, auch Ambu­lan­zen in den übri­gen Einrichtungen.
    2. Ein­füh­rung von Vier-Stun­den-Schich­ten für das medi­zi­ni­sche Per­so­nal, das COVID-Pati­en­ten betreut.
    3. Wie­der­be­ginn von Reha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men, incl. Ein­füh­rung spe­zi­el­ler Reha-Maß­nah­men für Corona-Patienten.
    4. Gleich­zei­tig wei­te­res Auf­rü­sten weni­ger zusätz­li­cher COVID- Beatmungsplätze.
    5. Locke­rung von Besuchs­ver­bo­ten (ab 20.4.) sie­he oben.
    6. Hoch­fah­ren der COVID-Dia­gno­stik für Per­so­nal und Pati­en­ten sowohl bei der Ein­wei­sung wie bei der Entlassung.
  8. Schrit­te zur Locke­rung im Bereich der Alten und Pfle­ge­hei­me mit dem Ziel der maxi­ma­len Protektion. 
    1. Aus­rei­chen­de Ver­sor­gung mit Schutz­ma­te­ri­al für das gesam­te Personal.
    2. Aus­rei­chen­de Ver­sor­gung mit Schutz­ma­te­ri­al, u.a. mit Mund-Nasen­schutz. Es soll­te zur glei­chen Zeit immer nur eine Per­son als Besu­cher zuge­las­sen werden.
    3. Räum­li­che Iso­lier­mög­lich­keit, spe­zi­ell in Situa­tio­nen des Ster­bens. Hier braucht es aus­rei­chend per­so­nel­le Res­sour­cen, die even­tu­ell auch von den Kir­chen mit gestellt wer­den könnten.
    4. Hoch­fah­ren der COVID-Dia­gno­stik für Per­so­nal und Bewohner.
    5. Spe­zi­el­le Ablauf­re­geln für die Ein­wei­sung und Rück­über­nah­me aus dem Krankenhaus.
  9. Schrit­te zur Locke­rung im Bereich der Kitas und Schu­len, die mit als erstes wie­der geöff­net wer­den können. 
    1. Kitas: Diagnostik/​Mundschutz bei Erzie­he­rin­nen und Erzie­hern, Dia­gno­stik bei Kin­dern, wenn auf­grund von Sym­pto­men ein Infek­ti­ons­ver­dacht besteht.
    2. Grund­schu­le: Dia­gno­stik /​Mundschutz bei Leh­re­rin­nen und Leh­rern, Dia­gno­stik bei Kin­dern, wenn Ana­mne­se auf­fäl­lig. Je nach Grö­ße der Schu­le ist an einen 3‑Schicht-Betrieb (früh, Mit­tag, Nach­mit­tag) zu den­ken, um die Men­ge der jeweils anwe­sen­den Kin­der zu regulieren.
    3. Wei­ter­füh­ren­de Schu­len: in die­sem Bereich sind die zeit­li­chen Anpas­sun­gen am fle­xi­bel­sten, und es soll­ten alle sinn­vol­len Mög­lich­kei­ten des Unter­richts ohne Anwe­sen­heit ange­mes­sen geprüft wer­den. Hier gilt: Je gerin­ger die Kon­takt­häu­fig­keit, desto bes­ser. Auch in die­sen Schu­len gilt: Dia­gno­stik /​Mundschutz bei Leh­re­rin­nen und Leh­rern, Dia­gno­stik bei Kin­dern, wenn Ana­mne­se auf­fäl­lig. Je nach Grö­ße der Schu­le ist an einen 3‑Schicht-Betrieb (früh, Mit­tag, Nach­mit­tag) zu den­ken, um die Men­ge der jeweils anwe­sen­den Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu regulieren.
  10. Schrit­te zur Locke­rung im Bereich von Gewer­be und Indu­strie (zeit­gleich mit Kitas und Schu­len). Hier steht das Ein­hal­ten der Abstands­re­ge­lung, der Hygie­ne­re­geln und das Tra­gen eines Mund­schut­zes im Mit­tel­punkt. Dem­entspre­chend ist auf die Grö­ße der wie­der­zu­er­öff­nen­den Ein­rich­tun­gen zu ach­ten, an die adäqua­te Per­so­nal­be­set­zung und an die anzu­pas­sen­den Arbeits­zei­ten beim Umgang mit einem hohen Publi­kums­ver­kehr. In der Indu­strie ist auf die ent­spre­chen­de Aus­rich­tung der Arbeits­plät­ze zu achten.

Ein beson­de­res Augen­merk bei all die­sen Maß­nah­men gilt der indi­vi­du­el­len Mobi­li­tät. Sie soll­te unver­än­dert auf die not­wen­di­gen Wege beschränkt blei­ben. Hier kommt wie­der der Ver­ant­wor­tung des Ein­zel­nen eine zen­tra­le Bedeu­tung zu!

Prof. Dr. Dr. med. habil. Dr. phil. Dr. theol. h. c. Eck­hard Nagel