Zuver­läs­si­ge Coro­na-Ana­ly­sen durch Daten­as­si­mi­la­ti­on: Bay­reu­ther Exper­te prä­sen­tiert neu­ar­ti­ge Berechnungen

Symbolbild Bildung
Prof. Dr. Jörn Sesterhenn, Universität Bayreuth. Foto: UBT.

Prof. Dr. Jörn Sester­henn, Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Foto: UBT.

Mit Metho­den, die in der Strö­mungs­leh­re ver­wen­det wer­den, kön­nen Ver­lauf einer Pan­de­mie und Wirk­sam­keit staat­li­cher Ein­däm­mungs­maß­nah­men zeit­nah und genau beur­teilt und Pro­gno­sen abge­lei­tet wer­den. Die­sen Ansatz ver­folgt Prof. Dr Jörn Sester­henn, Inha­ber des Lehr­stuhls für Tech­ni­sche Mecha­nik und Strö­mungs­leh­re der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Sei­ne Fall­stu­di­en wen­den die Daten­as­si­mi­la­ti­on – eine unter ande­rem in der Strö­mungs­me­cha­nik und der Wet­ter­vor­her­sa­ge bewähr­te Metho­de – auf die Ent­wick­lung der Coro­na-Pan­de­mie in stark betrof­fe­nen Län­dern an.

Fall­stu­di­en zu Deutsch­land und Bay­ern zei­gen bei­spiels­wei­se deut­lich, wie sich die Aus­brei­tung des Coro­na­vi­rus infol­ge der Feri­en­ta­ge im Febru­ar beschleu­nigt und infol­ge staat­li­cher Maß­nah­men ver­lang­samt hat. Die­sen und zahl­rei­chen wei­te­ren Fall­stu­di­en, die bereits online zugäng­lich sind, liegt ein klas­si­sches Modell zur Ver­brei­tung von Epi­de­mien zugrun­de. Für die Erar­bei­tung detail­lier­te­rer Model­le hält der Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­ler eine enge Zusam­men­ar­beit mit Exper­ten aus der Epi­de­mio­lo­gie für drin­gend erforderlich.

Im Februar und März 2020 stieg die Kontaktrate in Bayern bis auf einen Wert von rund 0.37 an. Dies bedeutet, dass sich die Zahl der Infizierten im schlimmsten Fall nach 1,9 Tagen verdoppelt hat. In Deutschland betrug dieser Zeitraum minimal 2,3 Tage, was einem Wert von knapp 0.30 entspricht. Infolge der staatlichen Maßnahmen kam es jeweils zu einer deutlichen Abschwächung. Grafik: Jörn Sesterhenn.

Im Febru­ar und März 2020 stieg die Kon­takt­ra­te in Bay­ern bis auf einen Wert von rund 0.37 an. Dies bedeu­tet, dass sich die Zahl der Infi­zier­ten im schlimm­sten Fall nach 1,9 Tagen ver­dop­pelt hat. In Deutsch­land betrug die­ser Zeit­raum mini­mal 2,3 Tage, was einem Wert von knapp 0.30 ent­spricht. Infol­ge der staat­li­chen Maß­nah­men kam es jeweils zu einer deut­li­chen Abschwä­chung. Gra­fik: Jörn Sesterhenn.

Die jetzt ver­öf­fent­lich­ten Fall­stu­di­en zei­gen die Zahl der aktu­ell infi­zier­ten Per­so­nen und der wie­der gesund gewor­de­nen Per­so­nen. Die­se Grö­ßen wären andern­falls unbe­kannt. Vor allem geben die Fall­stu­di­en Auf­schluss über die Kon­takt­ra­ten, das heißt dar­über, wie­vie­le Per­so­nen ein Infi­zier­ter im Mit­tel wie­der­um ansteckt. „Die Kon­takt­ra­te ist der ein­zi­ge Para­me­ter, den die Gesund­heits­po­li­tik in der Hand hat, um die Pan­de­mie ein­zu­däm­men, solan­ge es kei­nen Impf­stoff und kein schnel­les Heil­mit­tel gibt. Die­ser Para­me­ter kann mit­hil­fe der Daten­as­si­mi­la­ti­on mit deut­lich höhe­rer Sicher­heit ange­ge­ben wer­den, als dies nor­ma­ler­wei­se der Fall wäre. Auch wird bereits weni­ge Tage nach einer erfolg­ten gesund­heits­po­li­ti­schen Maß­nah­me im Nach­hin­ein sicht­bar, wie sich die Kon­takt­ra­te in die­ser kur­zen Zeit­span­ne ent­wickelt hat. An den Fall­zah­len selbst lässt sich die­se Ent­wick­lung nach so kur­zer Zeit noch nicht sehr deut­lich able­sen,“ erläu­tert Sesterhenn.

„Die­ser Ansatz ist aus mei­ner Sicht sehr inter­es­sant. Je genaue­re Pro­gno­sen wir zur Ent­wick­lung der Coro­na-Pan­de­mie haben, um so ziel­ge­rich­te­ter kön­nen wir Maß­nah­men ergrei­fen. Ober­ste Prio­ri­tät hat die Gesund­heit. Doch bei jeder Ent­schei­dung müs­sen wir selbst­ver­ständ­lich auch immer die Aus­wir­kun­gen auf unse­ren All­tag mit­den­ken. Die­ses Modell könn­te hier wei­te­re Ori­en­tie­rung bie­ten“, sag­te Wis­sen­schafts­mi­ni­ster Bernd Sibler. Er ergänz­te: „Die Uni­ver­si­tät Bay­reuth zeigt damit ein­mal mehr, wie bedeu­tend es in der Wis­sen­schaft ist, über Fächer­gren­zen hin­weg zu forschen.“

Daten­as­si­mi­la­ti­on, ange­wen­det auf die Corona-Epidemie

Jede Aus­wer­tung kom­ple­xer, empi­risch gesi­cher­ter Daten beruht auf einem Modell. Die Daten­as­si­mi­la­ti­on ist eine in den Natur‑, Inge­nieur- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten eta­blier­te Metho­de, die dar­auf abzielt, das jewei­li­ge Modell opti­mal an die Mess­da­ten anzu­pas­sen. Dadurch wird es mög­lich, über die gege­be­nen Daten hin­aus wei­te­re ver­läss­li­che Daten in Bezug auf Gegen­wart und Zukunft aus dem Modell zu gewin­nen. Prof. Dr. Jörn Sester­henn hat an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth einen Lehr­stuhl für Tech­ni­sche Mecha­nik und Strö­mungs­me­cha­nik inne. Ange­sichts der besorg­nis­er­re­gen­den Aus­brei­tung der Coro­na-Pan­de­mie und des stei­gen­den Bedarfs an vali­den Pro­gno­sen hat­te er die Idee, die­se bewähr­te For­schungs­me­tho­de auf Coro­na zu über­tra­gen. Er stützt sei­ne Berech­nun­gen auf zwei Quel­len: die empi­ri­schen Daten, die von der Johns Hop­kins Uni­ver­si­ty und vom Robert Koch-Insti­tut ver­öf­fent­licht wer­den, und ein Modell, das einem in der Epi­de­mio­lo­gie ent­wickel­ten klas­si­schen Ansatz folgt. Es han­delt sich um ein soge­nann­tes SIR-Modell (Sus­cep­ti­ble-Infec­ted-Remo­ved-Model).

Die Sta­ti­sti­ken der Johns Hop­kins Uni­ver­si­ty und des Robert Koch-Insti­tuts ent­hal­ten die ver­öf­fent­lich­ten Infor­ma­tio­nen über die Zahl der posi­tiv auf Coro­na gete­ste­ten Per­so­nen und dar­über, wie­vie­le die­ser Per­so­nen mitt­ler­wei­le ver­stor­ben sind. „Das Ver­fah­ren der Daten­as­si­mi­la­ti­on bie­tet uns nun die Mög­lich­keit, aus die­sen empi­ri­schen Daten­sät­zen wei­te­re wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen zu gewin­nen – zum Bei­spiel dar­über, wie­vie­le Per­so­nen in den jewei­li­gen Län­dern der­zeit mit dem Virus infi­ziert sind und wie­vie­le Per­so­nen sich künf­tig infi­zie­ren wer­den, falls bestimm­te sozia­le oder gesund­heits­po­li­ti­sche Rah­men­be­din­gun­gen gleich blei­ben oder sich ändern. Die Wir­kung bestimm­ter gesund­heits­po­li­ti­scher Maß­nah­men lässt sich dann im Nach­hin­ein rela­tiv genau abschät­zen. Auch hin­sicht­lich der Fra­ge, wie hoch der Anteil der Per­so­nen ist, die eine nach­ge­wie­se­ne Infek­ti­on über­le­ben, sind vali­de Pro­gno­sen mög­lich. Dar­aus las­sen sich wie­der­um Hand­lungs­emp­feh­lun­gen an die staat­li­che Gesund­heits­po­li­tik, aber auch an Ein­zel­per­so­nen ablei­ten“, erklärt Sester­henn. Zugleich betont der Bay­reu­ther Wis­sen­schaft­ler, dass die so gewon­ne­nen Daten umso zuver­läs­si­ger sind, je genau­er das zugrun­de­lie­gen­de Modell ist.

Drin­gend erfor­der­lich: inter­dis­zi­pli­nä­re Zusammenarbeit

„In der Strö­mungs­me­cha­nik kann man heu­te mit der Daten­as­si­mi­lie­rung und wirk­lich­keits­ge­treu­en Model­len zuver­läs­si­ge Vor­her­sa­gen tref­fen. So lässt sich auf­grund einer detail­lier­ten Rekon­struk­ti­on der Ölpest, die sich 2010 im Golf von Mexi­ko ereig­net hat, der Ver­lauf einer Ölpest im Meer mit hoher Genau­ig­keit pro­gno­sti­zie­ren. In Bezug auf Ana­ly­sen und Pro­gno­sen der Coro­na-Epi­de­mie sind jetzt inter­dis­zi­pli­nä­re Koope­ra­tio­nen von Fach­leu­ten drin­gend gebo­ten. Dazu hat jetzt die Roy­al Socie­ty in Groß­bri­tan­ni­en auf­ge­ru­fen, und ich betei­li­ge mich ger­ne dar­an. Auch in Bay­ern wür­de ich mir ein hoch­ka­rä­tig besetz­tes Kom­pe­tenz­team wün­schen. Umso frü­her kön­nen wir best­mög­lich begrün­de­te Ana­ly­sen erar­bei­ten und dar­auf basie­ren­de Emp­feh­lun­gen für den Umgang mit Coro­na aus­spre­chen“, betont Sesterhenn.

Link zu den bereits online ver­öf­fent­lich­ten Fall­stu­di­en (Pre­print):

https://​www​.zen​o​do​.org/​r​e​c​o​r​d​/​3​7​3​3​244