Exper­te der Uni­ver­si­tät Bay­reuth: Medi­ka­men­ten­pro­duk­ti­on in Euro­pa muss for­ciert werden

Symbolbild Bildung

Einer der renom­mier­te­sten Ärz­te und Medi­zin­ethi­ker Deutsch­lands, Prof. Dr. mult. Eck­hard Nagel, Inha­ber des Lehr­stuhls für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten und Direk­tor des gleich­na­mi­gen Insti­tuts an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, sieht in der Coro­na-Kri­se eine Chan­ce, den Zusam­men­halt in der Gesell­schaft zu stär­ken. Das Gesund­heits­sy­stem hält er für robust genug, for­dert aber, die Medi­ka­men­ten­pro­duk­ti­on wie­der in die EU zu ver­la­gern und die­sen Pro­zess poli­tisch zu forcieren.

Ist die Abhän­gig­keit von Medi­ka­men­ten­im­por­ten gefährlich?

In den letz­ten bei­den Jah­ren haben sich zuneh­mend Pro­ble­me bei der Medi­ka­men­ten­ver­sor­gung auch in Euro­pa erge­ben, die mit Beginn des Jah­res 2020 bereits zu erheb­li­chen Ver­sor­gungs­schwie­rig­kei­ten bei über 300 Pro­duk­ten geführt hat­ten. Dabei sind vie­le Berei­che der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung betrof­fen, ins­be­son­de­re bei Anti­bio­ti­ka, Anti­de­pres­si­va oder gene­rell im Bereich nicht patent­ge­schütz­ter Arz­nei­mit­tel. Noch vor der Coro­na-Kri­se gab es also eine Dis­kus­si­on über die Fra­ge, ob die Aus­la­ge­rung der Pro­duk­ti­on wich­ti­ger Grund­gü­ter nicht Gefah­ren mit sich bringt. Was Gefah­ren heißt, wird nun in die­sen Tagen sehr deut­lich. Des­halb ist es also drin­gend gebo­ten, im Hin­blick auf die Ver­sor­gung mit exi­sten­zi­el­len Grund­gü­tern wie in frü­he­ren Zei­ten zu einer umfas­sen­den Selbst­ver­sor­gung zurück­zu­kom­men, wobei ich dabei durch­aus in einem euro­päi­schen Kon­text den­ken wür­de. Es stellt sich zudem die Fra­ge, wie der Staat sicher­stel­len kann, die­se Pro­duk­te regel­mä­ßig vorzuhalten.

Was schla­gen Sie vor?

Arz­nei­mit­tel­her­stel­ler haben sich im Bereich der Arz­nei- und Grund­stoff­pro­duk­ti­on voll­stän­dig auf Zulie­fe­rer in Asi­en ver­las­sen. Das muss rück­gän­gig gemacht wer­den. Auch im Bereich der Pro­duk­ti­on von Medi­zi­ni­schen Sach­gü­tern wie z.B. Schutz­mas­ken oder ande­ren Ver­brauchs­ma­te­ria­li­en muss es in Zukunft wie­der eine Grund­ver­sor­gung im euro­päi­schen Raum geben. Dass das not­wen­dig ist, erle­ben wir gera­de in der aktu­el­len Coro­na­vi­rus Krise.

Auf­grund von Eng­päs­sen, tut sich die Fra­ge auf: Mund­schutz nur für Kli­nik­per­so­nal, Impf­stof­fe nur für bestimm­te Men­schen – was ist vertretbar?

Wenn es um die Fra­ge geht, dass Schutz­an­zü­ge und Mate­ria­li­en zum Umgang mit erkrank­ten Pati­en­ten vor­nehm­lich dort kon­zen­triert wer­den, wo sie auch gebraucht wer­den, dann geht das pri­mär nicht mit einer Benach­tei­li­gung irgend­ei­ner ande­ren gesell­schaft­li­chen Grup­pe ein­her. Son­dern es geht um den ver­nünf­ti­gen Ein­satz knap­per Res­sour­cen. Das ist auch kein Spe­zi­al­the­ma einer Kri­sen­si­tua­ti­on, son­dern das soll­te grund­sätz­lich so gesche­hen. Ein Pro­blem ergibt sich nur dort, wo Men­schen in Angst kom­men, weil eine all­ge­mei­ne Unsi­cher­heit besteht. Die­sen Äng­sten muss man mit Auf­klä­rung und Beru­hi­gung begeg­nen, nicht aber mit dem unsin­ni­gen Ver­brauch von Res­sour­cen – wie zum Bei­spiel bei Hamsterkäufen.

Und wie ist die Situa­ti­on bei Medi­ka­men­ten oder Impfstoffen?

Die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung mit lebens­wich­ti­gen Medi­ka­men­ten oder Impf­stof­fen ist ein ande­res The­ma. Hier gel­ten die all­ge­mei­nen Grund­sät­ze der Men­schen­rech­te, die ein gene­rel­les Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot beinhal­ten. Auch die Grund­la­gen des ärzt­li­chen Behand­lungs­auf­tra­ges rich­ten sich danach und inso­fern ist es das Ziel, alle bedürf­ti­gen Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten auch adäquat zu ver­sor­gen. Kommt es zu einer Situa­ti­on, in der aber die Mit­tel zur Behand­lung nur für eine bestimm­te Grup­pe zur Ver­fü­gung ste­hen, dann braucht es soge­nann­te Prio­ri­sie­rungs­kri­te­ri­en, die fest­le­gen, wel­che Per­so­nen z.B. von einer Imp­fung am mei­sten pro­fi­tie­ren (z.B. älte­re Pati­en­ten oder sol­che, die bei einer Erkran­kung mit Kom­pli­ka­tio­nen zu rech­nen haben). Inso­fern wäre es bei einem Impf­stoff denk­bar, dass zunächst nur sol­che Men­schen geimpft wer­den, die ein beson­de­res Risi­ko haben zu erkran­ken oder gar even­tu­ell zu ver­ster­ben. Das über­ge­ord­ne­te Ziel bleibt den­noch, dass mög­lichst alle in der Bevöl­ke­rung geimpft wer­den, um am Ende eine Immu­ni­tät für die Gesamt­grup­pe zu errei­chen und damit eine wei­te­re Krank­heits­aus­brei­tung lang­fri­stig zu verhindern.

Aus­gangs­sper­ren zur Ein­däm­mung der Infek­tio­nen – Ist unse­re Kran­ken­haus­in­fra­struk­tur schon an ihre Gren­zen gelangt?

Die Kran­ken­haus­in­fra­struk­tur in Deutsch­land ist robust und aktu­ell nicht über­for­dert. Aller­dings gehört es zu den Eigen­ar­ten einer Epi­de­mie, dass mit einem Mal eine gro­ße Anzahl an Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten erkrankt und akut ver­sorgt wer­den muss. Wenn wir von zehn­tau­sen­den von Pati­en­ten spre­chen, die sta­tio­när ver­sorgt wer­den müss­ten, dann kann das natür­lich nicht alles zu einer Zeit gesche­hen. Inso­fern ist der Auf­ruf zur sozia­len Distanz ein höchst wich­ti­ger, ja ein zen­tra­ler, um die Zahl der zur glei­chen Zeit Infi­zier­ten so gering wie mög­lich zu halten.

Han­delt die Poli­tik rich­tig oder hät­te sie schnel­ler und strik­ter reagie­ren müssen?

Selbst bin ich seit dem 27. Dezem­ber mit Fra­gen rund um das neue Coro­na-Virus beschäf­tigt. Vie­le der Annah­men, die ich im Janu­ar oder Febru­ar die­ses Jah­res, immer auf­grund der neu­sten Erkennt­nis­si­tua­ti­on, hat­te, haben sich als trü­ge­risch erwie­sen. Es zeigt sich, dass die Ent­wick­lun­gen und Gesetz­mä­ßig­kei­ten die­ser Infek­ti­on nur Stück für Stück erlernt wer­den kön­nen und dem­entspre­chend Ent­schei­dun­gen immer wie­der neu adju­stiert wer­den müs­sen. Für die Bun­des­re­gie­rung heißt das, so viel Ein­schrän­kung wie nötig, aber eben auch so viel Frei­heit wie mög­lich. Bis auf die mei­nes Erach­tens insuf­fi­zi­en­ten Grenz­kon­trol­len in Deutsch­land und im EU-Raum seit Mit­te Janu­ar bis zum Anfang der ver­gan­ge­nen Woche gibt es kei­ne auf­fäl­li­gen Versäumnisse.

Haben Sie Sor­gen um den Zusam­men­halt in unse­rer Gesellschaft?

Prin­zi­pi­ell nein: Ich glau­be sogar, dass die­se Situa­ti­on der Sor­ge vor dem Coro­na-Virus den Zusam­men­halt inner­halb unse­rer Gesell­schaft auf den ver­schie­den­sten Ebe­nen eher stär­ken wird. Wich­tig ist dabei, dass die Ver­brei­tung der Soli­da­ri­tät unter den Men­schen schnel­ler sein muss, als die Ver­brei­tung des Virus. Das erle­be ich an vie­len Stel­len und weiß doch, dass eini­ge unse­riö­se Per­sön­lich­kei­ten ver­su­chen, die­se pro­ble­ma­ti­sche Situa­ti­on für unlau­te­re Zie­le zu miss­brau­chen. Als ein Bei­spiel will ich nur den auf­kom­men­den Natio­na­lis­mus nen­nen. Es wäre tra­gisch, wenn die­je­ni­gen, die Men­schen, Staa­ten und Kon­ti­nen­te aus­ein­an­der­brin­gen wol­len, die­je­ni­gen über­flü­geln, die zurecht die Erkennt­nis pfle­gen, dass eine sol­che Kri­se nur durch ein star­kes gesell­schaft­li­ches Mit­ein­an­der über­wun­den wer­den kann. Das ist eine Sor­ge. Aber ich bin davon über­zeugt, dass das Gute, dass die Soli­da­ri­tät obsiegt.