Über­le­bens­wich­tig und robust: Bay­reu­ther Bio­lo­gen ergrün­den die Rol­le der größ­ten Zel­le in tie­ri­schen Gehirnen

Symbolbild Bildung

Die Gehir­ne der mei­sten Fisch- und Amphi­bi­en­ar­ten ent­hal­ten ein Paar auf­fäl­lig gro­ßer Ner­ven­zel­len. Es sind die größ­ten Zel­len, die in tie­ri­schen Gehir­nen vor­kom­men. Sie wer­den als Mauth­ner­zel­len bezeich­net und lösen blitz­schnel­le Flucht­be­we­gun­gen aus, wenn sich Fress­fein­de nähern. Bio­lo­gen der Uni­ver­si­tät Bay­reuth haben jetzt nach­ge­wie­sen, dass die­se Zel­len ein­zig­ar­ti­ge über­le­bens­wich­ti­ge Funk­tio­nen haben, deren Ver­lust nicht durch ande­re Ner­ven­zel­len aus­ge­gli­chen wer­den kann. Zudem haben sie ent­deckt, dass Mauth­ner­zel­len für län­ge­re Zeit auch ohne ihren Zell­kör­per (Soma) funk­ti­ons­tüch­tig blei­ben. In der Fach­zeit­schrift PNAS stel­len die Wis­sen­schaft­ler ihre For­schungs­er­geb­nis­se vor.

Die neu­en Erkennt­nis­se wider­spre­chen der weit­ver­brei­te­ten Ansicht, lebens­not­wen­di­ge Funk­tio­nen von Ner­ven­sy­ste­men sei­en nicht von ein­zel­nen, spe­zi­fisch dafür aus­ge­rü­ste­ten Zel­len abhän­gig. „Seit eini­gen Jah­ren neigt man in der Bio­lo­gie zu der Annah­me, es gebe in tie­ri­schen Ner­ven­sy­ste­men nur schwach aus­ge­präg­te Hier­ar­chien. Des­halb kön­ne man grund­sätz­lich davon aus­ge­hen, lebens­not­wen­di­ge Funk­tio­nen wür­den bei einem Aus­fall der pri­mär dafür zustän­di­gen Ner­ven­zel­len zumin­dest teil­wei­se von ande­ren Berei­chen des Ner­ven­sy­stems über­nom­men. Die Mauth­ner­zel­len in Fischen und Amphi­bi­en sind jedoch Bei­spie­le für eine star­ke hier­ar­chi­sche Abhän­gig­keit. In unse­ren Expe­ri­men­ten konn­ten wir zei­gen, dass eine Funk­ti­ons­un­tüch­tig­keit die­ser Zel­len zu einem lebens­lan­gen Aus­fall der von ihnen gesteu­er­ten Flucht­re­fle­xe führt“, erklärt der Bay­reu­ther Tier­phy­sio­lo­ge Prof. Dr. Ste­fan Schu­ster, der die Unter­su­chun­gen gelei­tet hat.

In der For­schung wur­de die­se zen­tra­le Funk­ti­on der Mauth­ner­zel­len lan­ge Zeit ver­kannt. Man glaub­te, eine Mauth­ner­zel­le sei ohne ihren Zell­kör­per, das Soma, zum Abster­ben ver­ur­teilt und daher funk­ti­ons­un­fä­hig. Die­se Annah­me führ­te zu feh­ler­haf­ten Inter­pre­ta­tio­nen von Expe­ri­men­ten mit Fischen, aus deren Mauth­ner­zel­len die Zell­kör­per zuvor ent­fernt wor­den waren. Die gleich­wohl noch vor­han­de­nen Flucht­re­fle­xe erklär­te man irr­tüm­li­cher­wei­se damit, dass ande­re Ner­ven­zel­len imstan­de sei­en, den ver­meint­li­chen Aus­fall der Mauth­ner­zel­len zu kom­pen­sie­ren. Doch tat­säch­lich sind die Mauth­ner­zel­len, wie die Bay­reu­ther For­scher jetzt gezeigt haben, außer­or­dent­lich robust. Die für die Erre­gungs­wei­ter­lei­tung ent­schei­den­de Struk­tur einer sol­chen Zel­le, das Axon, ist auch nach der Ent­fer­nung des Zell­kör­pers über län­ge­re Zeit imstan­de, Signa­le ins Ner­ven­sy­stem wei­ter­zu­lei­ten und Reflex­be­we­gun­gen aus­zu­lö­sen. Erst wenn auch eine wich­ti­ge Teil­struk­tur des Axons – das Axon Initi­al Seg­ment (AIS) – fehlt, kommt es tat­säch­lich zu einem kom­plet­ten Funktionsausfall.

„Die­se Beob­ach­tung ist ange­sichts der zen­tra­len Bedeu­tung der Mauth­ner­zel­len eigent­lich nicht ver­wun­der­lich. Gera­de wegen ihrer ein­zig­ar­ti­gen Funk­ti­on hat die Evo­lu­ti­on dafür gesorgt, dass sie auch nach rela­tiv schwe­ren Schä­di­gun­gen des Zell­kör­pers wich­ti­ge Auf­ga­ben erfül­len kön­nen“, sagt Alex­an­der Hecker M.Sc., der Erst­au­tor der neu­en Stu­die. Mit hoch­prä­zi­sen Ver­su­chen an Fisch­lar­ven, die deren Über­le­ben sicher­stell­ten, konn­te er die unge­wöhn­li­che Robust­heit die­ser Ner­ven­zel­len nachweisen.

„Unse­re For­schungs­er­geb­nis­se zei­gen, dass die Mauth­ner­zel­len auch in bio­me­di­zi­ni­scher Hin­sicht stär­ke­re Beach­tung ver­die­nen. Ins­be­son­de­re soll­ten die Struk­tu­ren und Mecha­nis­men, die wich­ti­ge Funk­tio­nen die­ser Ner­ven­zel­len auch nach einer gra­vie­ren­den Beschä­di­gung ihres Zell­kör­pers auf­recht­erhal­ten, mög­lichst detail­ge­nau auf­ge­klärt wer­den. Dar­aus erge­ben sich mög­li­cher­wei­se wert­vol­le Ansatz­punk­te für Unter­su­chun­gen, die sich mit dem Erhalt und der Rege­ne­ra­ti­on beschä­dig­ter Ner­ven­zel­len befas­sen“, ergänzt Schuster.

For­schungs­för­de­rung:

Die For­schungs­ar­bei­ten wur­den von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) im Rah­men eines Rein­hart Koselleck-Pro­jekts gefördert.

Ver­öf­fent­li­chung:

Alex­an­der Hecker, Wolf­ram Schul­ze, Jakob Oster, David O. Rich­ter, and Ste­fan Schu­ster: Remo­ving a sin­gle neu­ron in a ver­te­bra­te brain fore­ver abo­lishes an essen­ti­al beha­vi­or. PNAS – Pro­ce­e­dings of the Natio­nal Aca­de­my of Sci­en­ces of the United Sta­tes of Ame­ri­ca (2020). DOI: https://​doi​.org/​1​0​.​1​0​7​3​/​p​n​a​s​.​1​9​1​8​5​7​8​117