„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 9

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonntagsschüsse“ Buchcover

TSV Weiherfelden – FC Blau-Weiß Forchheim (Pokalspiel)

Missmutig schleppte ich mich am Montag nach der blamablen Niederlage zur Arbeit. Ich hatte schlecht ge­schlafen, war immer wieder die entscheidenden Spiel­szenen durchgegangen. Hätte ich beim 0-2 mit einem beherzteren Eingreifen den Gegentreffer verhindern können? Oder war dem 0-3 ein Stellungsfehler von meiner Seite vorangegangen? Vielleicht wäre es ja möglich gewesen, die Situation bereits im Mittelfeld im Keim zu ersticken… Und warum habe ich die Mannschaft nicht wachgerüttelt, als wir uns nach diesem aus dem Nichts gekommenem Gegentor zum 0-1 völlig aufgegeben hatten und von einer zweitklassigen Kreis­klassenmannschaft regelrecht abgeschlachtet wurden? Das Grübeln konnte das desaströse Ergebnis auch nicht mehr verändern. Es machte mich weder klüger, noch verbesserte es meine miese Laune. So war das Leben eines Amateurfußballers. In unseren Spielen ging es weder um Millionen noch um wichtige Titel. Trotzdem packte uns das Fußballfieber an jedem verdammten Sonntag von Neuem und ließ uns nach einem intensiven Spiel selbst nachts im Bett in unseren Träumen nicht los.

Mein Patient Alfred Graubel war der Einzige, der mich ein wenig aufheitern konnte. Als ich den alten Mann in dem klapprigen Seat Marbella zur Krankengymnastik kutschierte, hatte Alfred erneut den einen oder anderen lockeren Spruch auf Lager.

„Du siehst aber schon wieder schlecht aus. Müssen wir nochmal ein Konterbier trinken gehen?“

„Nein, ich war gestern nicht trinken. Aber vielleicht haben wir in den Vorwochen zu viel gefeiert. Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass wir so hoch verloren haben.“

„Und du meinst, das liegt am vielen Feiern?“, fragte Alfred skeptisch.

„Gut für unsere Fitness ist der viele Alkohol bestimmt nicht.“

„Alles Schöne im Leben hat einen Haken: Es ist unmoralisch, illegal oder macht dick.“

Manchmal konnte ich über seine weisen Ansichten einfach nur schmunzeln. „Aber es muss doch auch schöne Dinge geben, die keine Nachteile haben.“

„Würde ich welche kennen, dann müsstest du mich jetzt ned im Rollstuhl durch die Gegend schieben!“

Ich bewunderte, wie sich der körperlich gebrechliche aber geistig noch sehr wache alte Mann seinen Humor bewahrt hatte. Was war schon ein verlorenes Fußballspiel! Und dennoch hörte ich nicht auf, mich über die unnötige Niederlage zu ärgern.

Auch Trainer Andreas Dietner ging es offenbar nicht anders. „Eigentlich gehört euch ein Straftraining aufgebrummt, das sich gewaschen hat! Nach diesem Angsthasenfußball hätte ich nicht übel Lust, euch die nächsten 2 Stunden mit Medizinbällen über den Platz zu scheuchen! Aber wir haben am Donnerstag ein Pokalspiel gegen Blau-Weiß Forchheim. Da werdet ihr alle Kräfte brauchen, sonst gehen wir ja zweistellig unter! So sehr es mir auch missfällt – wir werden es heute im Training Piano angehen lassen müssen.“

Nach einer lockeren Trainingseinheit versuchten meine Mannschaftskollegen, ihr durch die vernichtende Niederlage angekratztes männliches Ego wieder aufzubauen. Spontan rief Niklas Dinger in der Dusche einen Wettbewerb aus. „Jetzt schauen wir mal, wer von euch Schlappschwänzen am höchsten pinkeln kann!“

Ich hielt nichts von der ganzen Sache, hätte mich lieber normal eingeseift, geduscht und umgezogen, aber so war Mannschaftssport nun mal – mit gehangen, mit gefangen.

Hätte in jenem Augenblick jemand eine Führung durch das Weiherfeldener Sportheim bekommen, er wäre bei dem eigenartigen Anblick aus allen Wolken gefallen. 17 nackte Fußballspieler reckten mit angestrengten Gesichtern ihr bestes Stück in die Höhe und pressten einen gelben Strahl in Richtung Decke. Für mich war es eine willkommene Erleichterung. Ich hatte bereits in den letzten 30 Minuten der Trainingseinheit einen leichten Druck auf meiner Blase verspürt und wollte nach dem Duschen ohnehin direkt zur Toilette gehen.

„Meine Güte, der Marco hat ja verborgene Talente!“

Überrascht begann ich zu begreifen, dass es mein Urinstrahl als einziger bis zur Decke der Dusche geschafft hatte. Als ein Talent würde ich diese Gabe zwar nicht bezeichnen. Aber das Weltbild von außergewöhnlichen sportlichen Höchstleistungen sah in Weiherfelden eben anders aus als in Hamburg.

Niklas stellte sich grinsend neben mich und riss meinen Arm in die Höhe wie nach einem siegreichen Boxkampf. „Und der Meister der pinkelnden Weiherfeldener Prachtburschen ist: Marco Tanner!“

So absurd das Ganze auch gewesen war, es hatte doch die niedergeschlagene Stimmung unserer ambitionierten Mannschaft wieder aufgeheitert. Wir alle waren nach der guten und erfolgreichen Vorbereitung mit großen Erwartungen in die neue Saison gestartet. Das Spiel beim SC Hohenstein hatte uns unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Vor dem Heimspiel gegen den FC Blau-Weiß Forchheim hatte unser Trainer die richtigen Worte parat: „Jungs, heute könnt ihr die Blamage von Hohenstein reinwaschen! Wir haben nichts zu verlieren. Ich habe vor dem Sportheim die Spieler der Blau-Weißen gesehen. Sie nehmen uns nach dem Sieg gegen Leimbach Ernst und treten mit ihrer kompletten Landesligamannschaft an. Die vier Klassen Unterschied können wir nur mit Kampf und Einsatz wettmachen. Wenn wir heute verlieren, wird uns niemand einen Vorwurf machen, aber wenn wir den haushohen Favoriten ärgern, könnt ihr euch im Sportheim ein unsterbliches Denkmal setzen!“

Blau-Weiß Forchheim spielte seit Jahren stabil in der Landesliga und hatte einige Halbprofis in ihren Reihen. Das war noch einmal ein anderes Kaliber als der gefürchtete 1. FC Leimbach.

Andreas Dietner hatte sich viele Gedanken gemacht, wie man diesem fußballerisch weit überlegenen Gegner den Zahn ziehen konnte: „Wir werden heute sehr defensiv spielen. Bernd, du nimmst noch einmal auf der Bank Platz. Laufstärke und Kampfkraft werden heute entscheiden. Michi bildet unsere einzige Spitze. Aber bei gegnerischem Ballbesitz ziehst du dich bis zur Mittellinie zurück. Wir müssen die Räume eng machen. Nur so können wir verhindern, dass die Forchheimer zu ihrem Spiel finden. Harald und Marco spielen im Mittelfeld auf der Doppelsechs. Marco, du wirfst bitte ein besonderes Auge auf die Nummer 7. Der Roland Kimmelmann ist ein exzellenter Dribbler und aus dem Mittelfeld heraus sehr torgefährlich. Greif ihn nicht zu schnell an, wenn er den Ball am Fuß hat!

Und ach ja: Der Willi hat zuletzt ein Spiel der Blau-Weißen gesehen. Sie spielen Freistöße aus dem Halbfeld sehr gefährlich steil in die Spitze. Die Stürmer agieren geschickt am Rande des Abseits. Diese scharfen, hohen Bälle sind unheimlich schwer zu verteidigen, und die Forchheimer haben zwei erstklassige Kopfballspieler im Angriff. Passt mir also bitte alle auf, wenn der Franz kommt!“

Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Franz war, aber meine Mannschaftskollegen nickten wissend. Offensichtlich war er in der Region ein bekannter Spieler. Aber um diesen Franz mussten sich andere kümmern. Meine Aufgabe war der Dribbelkünstler Roland Kimmelmann.

Es waren 25 Minuten gespielt. Wir stemmten uns mit aller Kraft gegen die drohende Niederlage. Im Spiel nach vorne brachten wir wenig zustande. Trotzdem feuerten die Zuschauer unser Team eifrig an und belohnten die kampfstarke Vorstellung bei jedem gewonnenen Zweikampf mit spontanem Applaus. Selbst die Ahnungslosesten unter ihnen hatten kurz nach dem Anpfiff erkannt, dass es gegen diesen bärenstarken Gegner nichts zu holen gab. Nichtsdestotrotz rannten wir uns förmlich die Seele aus dem Leib. Ich hatte einen verdammt schweren Stand und versuchte verzweifelt, den unglaublich beweglichen Kimmelmann zu stoppen. Während ich zumindest das eine oder andere Mal ein kleines Erfolgserlebnis verbuchen konnte, wusste sich unser junger Verteidiger Martin Kruse ein ums andere Mal nur durch ein Foulspiel zu helfen.

Wir machten uns bereit für einen Freistoß aus halbrechter Position. Mein Gegenspieler Kimmelmann schnappte sich den Ball. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Dribbler, sondern war auch derjenige, der die gefürchteten scharfen Flanken der Blau-Weißen in den Strafraum schlug. Kimmelmann nahm Anlauf. Ich hatte ein schlechtes Gefühl!

„Franz, pass auf deinen Mann auf!“, brüllte unser erfahrener Libero Klaus Meier mit lauter Stimme.

Franz? Wir haben doch gar keinen Franz in unserer Mannschaft!

Doch ich hatte mich nicht verhört. Klaus wiederholte seinen lautstark mahnenden Hinweis: „Franz, deck jetzt endlich deinen Mann!“

Klaus Meier war der Älteste in unseren Reihen. Ich fragte mich ernsthaft, ob es sich um erste Anzeichen von Alzheimer handelte. Aber mit 34? Versunken in meine verwirrenden Überlegungen bemerkte ich zu spät, dass alle Mannschaftskollegen blitzartig wie auf ein stummes Kommando vorrückten. Verdutzt blickte ich mich um. Habe ich etwas verpasst? Es handelte sich um den offensichtlichen Versuch, die gegnerischen Angreifer ins Abseits zu stellen. Warum zum Teufel hat niemand eine Anweisung gegeben? Hilflos musste ich mit ansehen, wie Kimmelmanns scharfe Flanke steil in unseren Strafraum segelte und ein völlig freistehender Stürmer per Kopfball zur Forchheimer Führung einnetzte.

Es war meine Schuld. Ich hatte die Abseitsposition von drei freistehenden Forchheimer Spielern aufgehoben. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.

„Marco, was war denn los?“

„Keine Ahnung“, stammelte ich unter den vorwurfsvollen Blicken meiner Mitspieler, die sich 25 Minuten lang auf dem Platz zerrissen hatten, um das 0-0 zu halten. „Woher hätte ich denn wissen sollen, dass wir auf Abseits spielen?“

„Siehst du in unserer Aufstellung einen Franz?“

„Der Franz“, murmelte ich nachdenklich. Ich hätte es wissen müssen. „Nein, natürlich. Kein Franz!“ Endlich dämmerte es mir. „Franz, pass auf deinen Mann auf!“ war das Weiherfeldener Codewort für den Versuch einer Abseitsfalle. Toll. Das hätte mir ja mal jemand sagen können.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Es war ein typisches Pokalspiel, in dem der Underdog durch großen Kampf erstaunlich lange das 0-0 gehalten hatte, dann aber nach dem ersten Gegentor den Faden verlor. Als Forchheim kurz vor der Halbzeitpause noch das 2-0 erzielte, war der Käse gegessen. Wir gingen mit dem niederschmetternden Wissen in die Kabine, eine hervorragende Leistung gezeigt zu haben, aber trotzdem in den nächsten 45 Minuten ausschließlich zu dem Zweck auf dem Rasen zu stehen, die bereits besiegelte Niederlage so niedrig wie möglich zu halten.

Auch Andreas Dietner war nicht entgangen, dass unser Auftritt um Klassen couragierter gewesen war als noch am vergangenen Sonntag beim SC Hohenstein. „Ihr haltet euch gut, Jungs. Es ist ein starker Gegner, und jeder weiß das. Aber ihr macht ihnen das Leben nicht leicht. Das erste Gegentor ist dumm gelaufen. Marco, hat dir niemand vom Franz erzählt?“

„Nein“, antwortete ich mit tierisch schlechtem Gewissen.

„Gut, das können wir jetzt leider nicht mehr ändern. Frag nächstes Mal einfach nach, wenn du eine taktische Anweisung nicht verstehst.“

„Aber woher soll ich denn wissen, dass der Franz eine taktische Anweisung ist? Ich dachte, das ist ein kopfballstarker Spieler, auf den wir bei Flanken aufpassen sollen.“

„Ja, da hast du Recht“, räumte Andreas Dietner ein. „Mein Fehler! Dazu ist eine Vorbereitung da. Aber ich denke ihr habt gemerkt, wie ihr mit diesem Kampfgeist das Publikum auf eure Seite gezogen habt. Macht weiter so! Das Ergebnis ist in einem solchen Spiel zweitrangig. Mit einer beherzten Leistung könnt ihr die Zuschauer trotz einer Niederlage begeistern!“

Der unbändige Wille unserer Mannschaft war trotz allem nicht genug an diesem Tag. Wir verloren gegen den FC Blau-Weiß Forchheim mit 0-4, hatten uns aber dennoch bravourös aus der Affäre gezogen.

Völlig erschöpft ließen wir uns nach dem Spiel auf der Treppe nieder, die zum Kabinengang hinab führte. Die trotz der Niederlage beeindruckten Zuschauer klopften uns müden Kriegern im Vorbeigehen auf die Schulter und murmelten uns aufmunternde Worte zu.

„Hat jemand eine Zigarette für mich?“, erkundigte sich Martin Kruse, den die Lehrstunde seines agilen Gegenspielers sichtlich mitgenommen hatte.

Ich wunderte mich etwas über die Frage. Martin war 19 Jahre alt, angehender Student und hatte sicher nicht so viel Geld, dass er eine Strafe riskieren konnte. „Steht das nicht auf dem Strafenkatalog?“

„Rauchen im Trikot, ja. Aber ich rauche ja nicht im Trikot.“ Dankbar nahm Martin die von einem Zuschauer angebotene Zigarette an und streifte sich sein Weiherfeldener Dress vom Oberkörper.

Als wir uns mit letzten Kräften in die Kabine schleppten, wartete der Trainer bereits auf uns.

„Gutes Spiel, Jungs! Das hat wirklich Spaß gemacht euch zuzuschauen. Wenn ihr am Sonntag gegen Kirchthein so spielt, werdet ihr definitiv als Sieger vom Platz gehen. Und nicht vergessen: morgen Abend ab 17 Uhr Arbeitsdienst am Sportplatz. Ich erwarte mindestens zehn Mann!“

Titel: Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse

Amateur-Fußballer Marco Tanner muss sich als “Zugereister“ in die deftige fränkische Lebensweise einfinden, um bei seinem skurrilen neuen Fußballverein Fuß zu fassen.

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