„Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreis­klas­se“, Kapi­tel 8

"Sonntagsschüsse" Buchcover

„Sonn­tags­schüs­se“ Buchcover

SC Hohen­stein – TSV Wei­her­fel­den (1. Spieltag)

Ich weiß nicht mehr genau, mit wel­chen Erwar­tun­gen ich zum ersten Punkt­spiel nach Hohen­stein gefah­ren war. Noch hat­te ich kei­ne Vor­stel­lung davon gehabt, was es bedeu­te­te, in der Kreis­klas­se Nord zu spie­len. Man schien hier zwi­schen dem Flach­land und dem Gebir­ge zu dif­fe­ren­zie­ren, wobei der Unter­schied zwi­schen die­sen bei­den Volks­grup­pen an sich nur weni­ge Höhen­me­ter betrug. Mei­ne neu­en Mann­schafts­kol­le­gen hat­ten mir schon viel von den soge­nann­ten Berg­völ­kern im Nor­den erzählt. Sie bezeich­ne­ten die­se Geg­ner sar­ka­stisch als das High­light der Sai­son. Man hat­te bei den Erzäh­lun­gen bei­na­he das Gefühl, mit jedem Höhen­me­ter einen 5‑Jah­res-Zeit­sprung in die Ver­gan­gen­heit zu machen, so dass es mich nicht son­der­lich über­rascht hät­te, wenn unser Geg­ner in mit­tel­al­ter­li­chen Rit­ter­rü­stun­gen anstatt Tri­kots auf­ge­lau­fen wäre.

Somit hät­te ich bes­ser vor­be­rei­tet sein müs­sen auf das, was uns an die­sem Tage bevor­stand. Sobald wir bei einer har­ten Trai­nings­ein­heit wäh­rend der Vor­be­rei­tung jam­ mer­ten, hat­te Spiel­lei­ter Wil­li kei­ne Gele­gen­heit gescheut, uns Spie­lern ein­zu­trich­tern, dass die Berg­völ­ker im Nor­den bereits in den Jugend­mann­schaf­ten ausge­ wach­se­ne Och­sen auf dem Rücken her­um­tra­gen muss­ten, wäh­rend wir nur gewöhn­li­che Lauf­ein­hei­ten prak­ti­zier­ten. Mei­ne Mann­schafts­kol­le­gen waren fel­sen­fest davon über­ zeugt, dass man im nörd­li­chen Gebir­ge Bäu­me mit den blo­ßen Füßen fäll­te, anstatt durch den Wald zu jog­gen oder hoch­tra­ben­de Spiel­zü­ge ein­zu­stu­die­ren. Ich hat­te das alles als über­trie­be­nes Gere­de betrachtet.

Erste Zwei­fel kamen mir aber spä­te­stens bei der Ankunft am Park­platz vor dem Hohen­stei­ner Sport­heim. Wir stie­gen aus den Autos, hol­ten unse­re Sport­ta­schen aus dem Kof­fer­raum und mar­schier­ten ziel­stre­big in Rich­tung Umklei­de­ka­bi­ne, als wir an einem Kin­der­spiel­platz vor­bei lie­fen. Sobald ich erkannt hat­te, dass die Kin­der­rut­sche nicht wie auf jedem nor­ma­len Spiel­platz in einen Sand­ kasten mün­de­te, son­dern auf eine pickel­har­te Beton­plat­te, kamen mir dann doch die ersten Zwei­fel, ob es sich bei den vie­len Erzäh­lun­gen wirk­lich um über­trie­be­nes Gere­de han­del­te. Und ich soll­te mit mei­nen Zwei­feln Recht behal­ten. Oh ja!

Kaum hat­ten wir den angst­ein­flö­ßen­den Kin­der­spiel­platz hin­ter uns gebracht, warf ich mei­nen ersten Blick auf einen ver­meint­li­chen Rasen­platz in der Kreis­ klas­se Nord. Die mei­sten Ver­ei­ne ver­fü­gen über min­ destens zwei Plät­ze. Der soge­nann­te A‑Platz ist in der Regel das bes­se­re Spiel­feld. Auf den B‑Platz wird neben den Trai­nings­ein­hei­ten nur dann für Punkt­spie­le aus­ gewi­chen, wenn das Wet­ter so schlecht ist, dass der Platz­wart aus Sor­ge um eine dau­er­haf­te Beschä­di­gung des hei­li­gen Rasens den A‑Platz für gesperrt erklärt. An son­ni­gen Tagen wie beim Spiel gegen den SC Hohen­stein grif­fen fuß­bal­le­risch limi­tier­te Mann­schaf­ten gegen tech­ nisch klar über­le­ge­ne Geg­ner zuwei­len auf die List zurück, das Spiel auf den B‑Platz zu ver­le­gen, um deren Kom­bi­na­ti­ons­spiel durch den holp­ri­gen Unter­grund zu unter­bin­den. Nicht sel­ten ver­half der B‑Platz einer kampf­ star­ken Mann­schaft zu einem unver­hoff­ten Sieg.

Genau die­ses Vor­ha­ben war die ein­zig logi­sche Schluss­fol­ge­rung, als ich den frisch gestreu­ten und mit Eck­fah­nen bestück­ten Acker erblick­te, den der SC Hohen­stein zum Spiel­feld unse­rer Par­tie erklärt hat­te. Spiel­star­ke Mann­schaf­ten wie wir hass­ten B‑Plätze wie die Pest.

„Sol­che Schwei­ne. Wol­len sie bei dem super Wet­ter tat­säch­lich auf dem B‑Platz spie­len?“, mur­mel­te ich ver­är­gert in die Run­de und ern­te­te ver­ständ­nis­lo­se Blicke.

„B‑Platz?“, frag­te Micha­el Mei­ster ver­wun­dert. „Das ist der Hohen­stei­ner A‑Platz. Der B‑Platz ist dort, wo unse­re Autos stehen.“

„Auf der Wie­se mit der Feu­er­stel­le?“, erkun­dig­te ich mich ungläu­big. Das konn­te nun wirk­lich nicht sein Ernst sein.

„Ja, auf der Wie­se mit der Feu­er­stel­le!“, bestä­tig­te Michael.

„Will­kom­men im Gebir­ge der Kreis­klas­se Nord!“, schmun­zel­te Kapi­tän Harald Gepard und betrat die win­zi­ge Umkleidekabine.

Die erste Punkt­spiel­an­spra­che unter Andre­as Diet­ner war feu­ rig und inspirierend.

„Ihr alle wisst, dass Hohen­stein ein gefähr­li­cher Geg­ner ist. Hier oben kön­nen wir nur bestehen, wenn jeder Ein­zel­ne von euch von der ersten bis zur letz­ten Minu­te Voll­gas gibt. Wir müs­sen krat­zen und bei­ßen, kom­men und gehen, die Zwei­kämp­fe suchen und gewin­nen. Koste es, was es wol­le! Nicht über­mo­ti­viert, aber moti­viert, mit Köpf­chen und Ein­satz! Ihr müsst euch heu­te auf dem Platz für den TSV zer­rei­ßen! Dann kann uns kei­ner unse­re drei Punk­te strei­tig machen!“

Ich fühl­te mich, als stün­de ich vor dem End­spiel um die Fuß­ball­welt­mei­ster­schaft. Es ging um mehr als nur um Leben und Tod – es ging um drei wich­ti­ge Punk­te in der Kreis­klas­se Nord! In mei­nem Kopf gab es nur noch einen Gedan­ken: Wir müs­sen die­ses Spiel gewin­nen! Andre­as hat­te mit sei­nen laut­star­ken Wor­ten ein lodern­des Feu­er in mir ent­facht. Ich war bereit, alles zu geben, an mei­ne abso­lu­ten Lei­stungs­gren­zen zu gehen. Und selbst wenn unser sagen­um­wo­be­ner Geg­ner in Rit­ter­rü­stun­gen gegen uns antrat, war ich gewillt, mit aller Gewalt da­ gegen­zu­hal­ten. Koste es, was es wol­le! Es wun­der­te mich einen kur­zen Augen­blick lang, dass mei­ne Mann­ schafts­kol­le­gen neben mir im Ange­sicht die­ser be­ flü­geln­den Anspra­che nicht halb so enthu­sia­stisch wirk­ten wie ich. Doch in mei­nem bren­nen­den Eifer verschwen­ dete ich kei­nen wei­te­ren Gedan­ken dar­an. Ich soll­te die Ant­wort auf die­se Fra­ge noch früh genug erhalten.

Tra­di­tio­nell ver­sam­mel­ten sich kurz vor Spiel­be­ginn alle Spie­ler bei­der Mann­schaf­ten zum soge­nann­ten „Angst­wiss“ in der Her­ren­toi­let­te. Obgleich ver­mut­lich nie­mand der knapp fünf­zehn an den Pis­soirs anste­hen­den Spie­ler mehr als drei Trop­fen Urin in der Bla­se hat­te, ver­spür­te jeder von uns vor dem Anpfiff den ner­vö­sen Drang, die­se Tröpf­chen gewalt­sam her­aus­zu­pres­sen. Zwi­schen zwei rie­si­gen Ker­len in Hohen­stei­ner Tri­kots, die mich bei­de um Haup­tes­län­ge über­rag­ten, kam ich mir vor wie ein Zwerg. Beun­ru­hi­gen­de Bil­der von gigan­ tischen Fuß­bal­lern in Rit­ter­rü­stun­gen, die im Wald mit ihren Füßen Bäu­me fäll­ten und dabei in dia­bo­li­sches Geläch­ter aus­bra­chen, zogen vor mei­nem gei­sti­gen Auge vorüber.

Bernd Hagen nahm nach dem Eklat vom Abschluss­ trai­ning mit miss­mu­ti­gem Gesicht auf der Auswechsel­ bank Platz. Der Anpfiff ertön­te. Die Sai­son war eröffnet.

Auf dem Spiel­feld leg­ten wir trotz unse­rer kör­per­li­chen Unter­le­gen­heit los wie die Feu­er­wehr. Die ersten zwan­zig Minu­ten domi­nier­te der TSV Weiher­ fel­den mit tech­ni­scher Bril­lanz und einem an Hoch­mut gren­zen­den Spiel­witz. In Ball­be­sitz wirk­te unser Geg­ner recht unbe­hol­fen. Wir spiel­ten die Gast­ge­ber nach allen Regeln der Kunst an die Wand. Das Ein­zi­ge was uns fehl­te, war ein Tor. So stand es nach 20 Minu­ten trotz bester Tor­mög­lich­kei­ten noch immer 0–0. Dann geschah das Unfass­ba­re. Gera­de hat­te Niklas Din­ger sei­nen Gegen­spie­ler mit einem sehens­wer­ten Trick düpiert, als die­ser sei­nen gan­zen Frust in einen rüden Zwei­kampf warf und Niklas mit grenz­wer­ti­gem Kör­per­ein­satz zur Sei­te feg­te. Der Schieds­rich­ter, ein gemüt­li­cher älte­rer Herr mit run­dem Gesicht und dem Bewe­gungs­ra­di­us einer Schild­krö­te, konn­te beim besten Wil­len kein Foul­spiel erken­nen. Er ließ die Par­tie wei­ter­lau­fen. Ein lan­ger Pass in die Spit­ze, mehr aus Ver­le­gen­heit als aus genia­ler Spiel­über­sicht, und schon setz­te sich ein hünen­haf­ter Hohen­stei­ner Stür­mer gegen unse­ren Libe­ro Klaus Mei­er durch und häm­mer­te einen Gewalt­schuss am chancen­ losen Andre­as Stie­ler vor­bei ins lin­ke Toreck.

Ich bin noch heu­te fest davon über­zeugt, dass kei­ne der vie­len stumpf­sin­ni­gen Fuß­ball­weis­hei­ten die Natur des Fuß­ball­spiels so tref­fend beschreibt wie die­se: „Wer sei­ne Chan­cen nicht nutzt, wird dafür bestraft!“ Mit der 1–0 Füh­rung im Rücken agier­te der SC Hohen­stein plötz­lich wie ver­wan­delt. Sie hat­ten das kör­per­be­ton­te Spiel mit an Bru­ta­li­tät gren­zen­dem Zwei­kampf­ver­hal­ten als Zauber­ mit­tel gegen den tech­nisch ver­sier­ten TSV Wei­her­fel­den entdeckt.

Noch nie in mei­nem Leben war ich in einem ein­zi­gen Fuß­ball­spiel so häu­fig geschubst, gesto­ßen und getre­ten wor­den wie an jenem Tage, als der SC Hohen­stein sei­nem rusti­ka­len Ruf alle Ehre mach­te. Und so über­le­gen wir unse­ren Kon­tra­hen­ten tech­nisch und tak­tisch waren, wir ver­moch­ten sie nicht dar­an zu hin­dern, allen elf Weiher­ fel­de­ner Spie­lern mit ihrem durch­set­zungs­star­ken Rum­ pel­fuß­ball den Schneid abzu­kau­fen. In der letz­ten hal­ben Stun­de woll­te kei­ner von uns mehr den Ball haben. Jeder ver­such­te, sich auf dem Spiel­feld unsicht­bar zu machen, um einen wei­te­ren Ball­kon­takt, der meist mit der näch­sten schmerz­haf­ten Grät­sche bestraft wur­de, tun­lichst zu vermeiden.

Macht­los muss­te Trai­ner Andre­as Diet­ner von außen zuse­hen, wie die glei­che Mann­schaft, die gegen den 1. FC Leim­bach noch vor Selbst­be­wusst­sein und Ehr­geiz gestrotzt hat­te, an ihrem grob­schläch­ti­gen Geg­ner zer­brach. Spiel­lei­ter Wil­li mach­te sei­nem Ärger Luft, indem er den paus­bäcki­gen Schieds­rich­ter als „einen hin­ter­fot­zi­gen Pfei­fen­kopf mit dem Ver­stand eines Esels“ titu­lier­te und einen per­sön­li­chen Klein­krieg mit den zah­len­mä­ßig weit über­le­ge­nen Hohen­stei­ner Anhän­gern vom Zaun brach. Ein­mal in Wal­lung gera­ten, hat­te Wil­li das zwei­fel­haf­te Talent, mit sei­nen unab­läs­si­gen der­ben Kom­men­ta­ren bei den geg­ne­ri­schen Zu­ schau­ern eine Woge unver­hoh­le­ner Gegen­lie­be zu ent­fa­chen. Das zu Spiel­be­ginn so fried­fer­ti­ge Hohen­stei­ner Publi­kum ent­ wickel­te sich rasch zu einem Mob, der sich auf­führ­te wie eine kriegs­be­rei­te Hor­de blut­rün­sti­ger Kelten.

Am Ende notier­te der Schieds­rich­ter einen 4–1 Sieg für den SC Hohen­stein in sei­nem Spiel­be­richts­bo­gen und ver­ließ flan­kiert von zwei Hohen­stei­ner Platz­ord­nern den Platz, die den armen alten Mann vor dem wie ein ver­rückt gewor­de­ner Kobold auf und ab sprin­gen­den Wil­li ab­ schirm­ten. Wäh­rend unse­re Ersatz­spie­ler behut­sam ver­ such­ten, den völ­lig außer sich gera­te­nen Spiel­lei­ter wie­der zu beru­hi­gen, trat Trai­ner Andre­as Diet­ner mit Grabes­ mie­ne in die Kabi­ne, wür­dig­te uns Spie­ler kei­nes Blickes, nahm sei­ne Trai­nings­jacke vom Haken und ver­ließ ohne jedes wei­te­re Wort den Raum. Nie­mand konn­te es ihm ver­übeln. Es war eine grot­ten­schlech­te Lei­stung gewe­sen. Wir zwan­gen uns trotz­dem, noch geschlos­sen ein Bier im Sport­heim des SC Hohen­stein zu trin­ken. Es gehör­te ganz ein­fach zum guten Ton des Ama­teur­fuß­balls. Und wir woll­ten schließ­lich nicht auf eine Stu­fe mit den arro­gan­ten Schnö­seln des 1. FC Leim­bach gestellt werden.

So trau­rig und ver­nich­tend das Resul­tat auch war, so hat­te ich den­noch drei wich­ti­ge Din­ge aus dem ersten Punkt­spiel in Hohen­stein gelernt.

Erstens war ich mir vor dem Spiel nicht in die­sem Aus­maß bewusst gewe­sen, dass eine fuß­bal­le­risch deut­ lich über­le­ge­ne Mann­schaft so klar gegen einen phy­sisch stär­ke­ren, robu­ste­ren und kom­pro­miss­lo­se­ren Geg­ner ver­ lie­ren konnte.

Zwei­tens hat­te ich gelernt, mit der Vor­stel­lung zu leben, dass Fuß­ball­mann­schaf­ten Trai­nings­ein­hei­ten durch­führ­ten, wäh­rend aus­ge­wach­se­ne Och­sen hucke­pack auf ihren Rücken fest­ge­bun­den waren.

Und drit­tens hat­te ich, wenn­gleich noch nicht son­der­lich ver­siert in den Nuan­cen der frän­ki­schen Mund­art, am eige­nen Leib gespürt, was das Wort „Berch­gnordzn“ wirk­lich bedeutet.

Titel: Sonn­tags­schüs­se – Fuß­ball­fie­ber in der Kreisklasse

Ama­teur-Fuß­bal­ler Mar­co Tan­ner muss sich als “Zuge­rei­ster“ in die def­ti­ge frän­ki­sche Lebens­wei­se ein­fin­den, um bei sei­nem skur­ri­len neu­en Fuß­ball­ver­ein Fuß zu fassen.

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